21.04.2025
Wie der Koalitionsvertrag gelesen werden sollte
Kontinuität der Problemverschiebung, jedoch nicht ohne Hoffnung
Dr. Robert Paquet
Die Probleme der Gesundheits- und Pflegepolitik haben in der Bevölkerung zwar einen hohen Stellenwert, spielten im Wahlkampf aber keine prominente Rolle. Auch in den Wahlprogrammen ging es bei der Sozialpolitik vor allem um das Bürgergeld und die Rente. Insoweit kann nicht verwundern, dass der Entwurf des Koalitionsvertrages bei der Gesundheitspolitik keine Überraschungen bietet.
Er ist kein großer Wurf; der einzige strukturpolitisch neue Ansatzpunkt ist die Ankündigung eines Primärversorgungssystems im ambulanten Bereich. Dass die Reform der Notfallversorgung und des Rettungsdienstes angekündigt werden – das hatten wir schon. Aber das Kernproblem der Finanzierung wird in eine Kommission (GKV) bzw. in eine Bund-Länder-AG (Pflege) verschoben[1], und auch die weiteren Versprechungen sind vage. Das muss jedoch nicht nur schlecht sein.
Warum stand die Gesundheits- und Pflegepolitik bei dieser Wahl nicht im Vordergrund? Die Antwort ist einfach: Weil sie komplex und kompliziert ist. Schon die Ampel-Regierung hatte keine realistischen Lösungen im Angebot. Das Wunschpaket der SPD bzw. ihres amtierenden Gesundheitsministers wurde dann noch einmal im Papier der Arbeitsgruppe zum Koalitionsvertrag niedergeschrieben. Auch mit der Wiederholung der Versprechungen aus dem K-Vertrag der Ampel. Die Unionsparteien hatten dazu keine profilierten Positionen, und wegen des verfrühten Wahlkampfs fehlte ihnen eine solide Vorbereitung. Die übergreifende Verhandlungsrunde hat das Papier dann aber gerupft und eingedampft. Angesichts der Haushaltsprobleme (und trotz der Lockerung der Schuldenbremse) konnte man keine einfachen Botschaften verkünden.
Nach den vorab gesetzten Prioritäten „Verteidigung und Investitionen“ blieb als Potenzial im Bereich der Sozialpolitik nur die Befriedigung der konkreten Wahlversprechen: Rentenniveau und Mütterrente. In der Gesundheits- und Pflegepolitik gibt es keine – vergleichbar – einfachen Antworten. Jeder realistische Vorschlag zur Gesundheitspolitik hätte – wie es schon in den Wahlprogrammen vermieden wurde – auch Zumutungen an die Wähler bzw. die Versicherten und Patienten impliziert. Das will man nun auch im Koalitionsvertrag vermeiden. Noch ist die neue Regierung nicht im Amt; noch steht das Mitgliedervotum der SPD aus. Die Phase, bis die neue Regierung wirklich regierungsfähig ist, wird – trotz aller vollmundigen Ankündigungen des designierten Kanzlers – bis zum Sommeranfang dauern. Insoweit ist erklärbar (und nicht unklug), dass das Gesundheitskapitel des Vertragsentwurfs so aussieht, wie es jetzt vorliegt.
Koalitionsverträge sollten daher nicht überschätzt werden. Wie auch der Vertrag der Ampelkoalition vom November 2021 lehrt, der schon nach einem Vierteljahr durch die Ereignisse der Weltgeschichte überholt wurde. Insoweit ist es besser, keine Versprechungen zu machen als solche, die man nicht erfüllen kann.
Nicht auf staatliche Hilfen warten
Vielleicht löst dieser Vertrag sogar ein Trump’sches Momentum aus. Nicht auf staatliche Hilfen warten als Voraussetzung für das eigene Handeln (der Selbstverwaltung). Sondern er könnte die Einsicht fördern, dass die GKV, die Ärzte und die Krankenhäuser etc. als erstes selbst in der Verpflichtung stehen, Leistungen und Ausgaben in der Balance zu halten. Die Regierung könnte das mit sanftem Druck befördern (z.B. durch die Wiederbelebung des Paragraphen 71 SGB V zur Beitragssatzstabilität und die Erweiterung der wettbewerblichen Vertragsspielräume der Kassen und ihrer Vertragspartner).
Dass die sozialpolitischen Kapitel so sozialdemokratisch geprägt sind, darf nicht verwundern. Wenn zwei bzw. drei (weitgehend) sozialdemokratische Parteien einen K-Vertrag zusammenstellen, ist nicht erstaunlich, dass dabei ein sozialdemokratisches Arbeitsprogramm herauskommt. Das meint auch Boris Velter, Chefideologe und Leiter des BMG-Leitungsstabes (im Nebenberuf Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokrat*innen im Gesundheitswesen – ASG). Er resümiert in seinem Brief an die ASG-Mitglieder: „Aus gesundheits- und pflegepolitischer Sicht kann der Koalitionsvertag meines Erachtens gut mitgetragen werden.“ Die SPD-Mitglieder sollten guten Gewissens zustimmen können. Sozialdemokratischere Inhalte sind auf absehbare Sicht (und im Hinblick auf potentielle politische Bündnispartner) nicht zu bekommen.
Dass so vieles offenbleibt, sollte auch als Chance wahrgenommen werden (zumal für den künftigen Minister). Das zeigen (für den umgekehrten Fall) die Regelungen zur ambulanten Versorgung. Das dort (leider) relativ detailliert beschriebene Primärarztsystem läuft fast auf die Quadratur des Kreises hinaus; es soll gleichzeitig irgendwie verbindlich und freiwillig sein. Denn angstvoll wird der „Elefant im Raum“ umschlichen: Es wird vermieden auszusprechen, dass ein Primärarztsystem ohne eine Verpflichtung der Versicherten (Wahltarif mit finanziellen Konsequenzen?) nicht funktionieren kann. Im Übrigen gibt es aber durchaus bemerkenswerte Denkanstöße: So ist z.B. die Verpflichtung der Krankenkassen, „vollständig gemeinsame Vertrags- und Verwaltungsprozesse zu entwickeln“ (Zeile 3510), ein erster Schritt zur Abschaffung der Kassenarten. Positiv ist auch die Ankündigung eines Registergesetzes und der Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie.
Ende der Ära Lauterbach eröffnet Chancen
Mit am erfreulichsten ist die Information, die nicht im Gesundheitskapitel steht, sondern in der Ämterverteilung ganz zum Schluss: Das Gesundheitsministerium fällt an die CDU. Unabhängig von den in der Partei (und in den Medien) gehandelten Kandidaten ist damit eines klar: Die Ära Lauterbach ist zu Ende. Und damit eine Periode, die durch Dialogverweigerung, Selbstgefälligkeit und Realitätsflucht gekennzeichnet war. Der personelle Neuanfang im Ministerium bietet die Chance, dass die Selbstverwaltung wieder gehört und ernst genommen wird (statt sie pauschal als üble Lobbyisten abzutun). Die Chance, realistische Planungen vorzunehmen, statt terminlichen Fata Morganen nachzujagen. Die Chance, Kooperation zu stiften (statt zu glauben, man habe gerade dann recht, wenn man alle vor den Kopf gestoßen hat).
Karl Lauterbach wird man jedoch nicht wirklich los. Es ist schwer vorstellbar, dass er sich mit Kommentaren vom Spielfeldrand zurückhält und der jahrzehntelangen Tradition folgt, dass sich die gewesenen Minister zu ihrem früheren Fachgebiet nicht äußern.
Eine echte Hürde für den neuen Minister könnten die Einspruchsrechte des Finanzministers und der generelle Finanzierungsvorbehalt werden (bezogen auf den Bundeshaushalt) (Zeile 1627). Das betrifft auch zwei konkrete Entlastungen der GKV, die im Vertrag versprochen werden: „Die Lücke bei den Sofort-Transformationskosten aus den Jahren 2022 und 2023 sowie den bisher für die GKV vorgesehenen Anteil für den Transformationsfonds für Krankenhäuser finanzieren wir aus dem Sondervermögen Infrastruktur.“ (Zeile 3445f.) Erstens sind die (verschwurbelt so genannten) „Transformationskosten“ ja Betriebskosten der Vergangenheit. Ob man die aus einem Investitionsfonds für die Zukunft finanzieren darf, ist ziemlich offen. Zweitens liegt die Prioritätenliste für die Investitionen aus dem Sondervermögen noch nicht fest. Im Zweifel hat der Finanzminister hier das Sagen. Da dieses Ressort der SPD zufällt, könnte ein Konfliktfall programmiert sein: Ein mutmaßlicher Finanzminister Klingbeil dürfte immer Mittel und Wege finden, die SPD-Vorhaben finanzierbar zu machen und gegen seine Unions-Kollegen und ihre Projekte seinen Vorbehalt auszuspielen.
Krise hat Zukunft
Zu guter Letzt: In unruhigen Zeiten wirkt das Gesundheitskapitel im K-Vertrag doch irgendwie beruhigend. Das sollten die verschiedenen Stakeholder positiv vermerken. Auch die Bevölkerung erwartet überwiegend, dass die gleiche Politik fortgesetzt wird.[2] Es gibt keine echten Überraschungen, bestenfalls graduelle Verschiebungen. Die Probleme bleiben (fast alle) ungelöst. Man kann also weitermachen wie bisher. Die Textbausteine und das Spruchgut der Ampelzeit (und auch der vorausgegangene Merkel-Koalitionen) können weitestgehend recycelt werden. Das gilt für die Problembeschreibungen, die Forderungen und die Kritik am politischen Betrieb.
Insoweit gilt: Krise hat Zukunft! (Wulf-Dietrich Leber, ehemaliger Abteilungsleiter Krankenhäuser, GKV-SV). Wann wäre das in der Gesundheitspolitik je anders gewesen?
[1] Offen ist dabei, ob sich die im Kapitel „Arbeit und Soziales“ (Zeile 453) geplante Kommission zur „Sozialstaatsreform“ auch mit den Sozialversicherungssystemen der GKV und SPV beschäftigen soll.
[2] Thomas Petersen (Institut für Demoskopie Allensbach): „Schwarz-roter Tiefstart“, in FAZ vom 19. April 2025, Seite 8
Lesen Sie vom Autor im Observer Gesundheit auch:
„Gesundheits- und Pflegepolitik in den Wahlprogrammen“, Observer Gesundheit, 11. Februar 2025,
„Populäre Vorschläge – Hypothek künftiger Gesundheitspolitik?“, Observer Gesundheit, 7. Februar 2025,
„Überlegungen zu den Wahlprogrammen 2025“, Observer Gesundheit, 14. Januar 2025.
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