Was tun mit der gesetzgeberischen Resterampe?

Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a.D.

Rund 20 gesundheits- und pflegepolitische Vorhaben sind in dieser Legislaturperiode nicht zum Abschluss gebracht worden. Alle Bemühungen, nach dem Scheitern der Koalition das eine oder andere vermeintlich geeignete Gesetzesvorhaben noch über die parlamentarischen Hürden zu bekommen, werden mit jedem Tag aussichtsloser.

Zwar hofft der Bundesminister im Einzelfall noch auf Einsicht der Opposition (z. B. bei der Suizidprävention) oder versucht, das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit im Verordnungswege durchzusetzen – ob ihm dies aber gelingt, ist mehr als zweifelhaft. Es ist von daher interessanter, den Blick nach vorn in die kommende Legislaturperiode zu richten. Werden die Vorarbeiten der vergangenen drei Jahre genutzt, können vorliegende Entwürfe umgesetzt werden? Was kann man gesundheitspolitisch erwarten?

Eine Wiederauflage der bisherigen Koalition oder eine rot-grüne Mehrheit erscheinen zum heutigen Zeitpunkt ausgeschlossen. Realistisch denkbar ist entweder eine schwarz-rote oder eine schwarz-grüne Koalition. Ob und wie sich weltanschauliche und politische Unterschiede zwischen CDU/CSU einerseits und der SPD oder den Grünen andererseits auf die Gesetzgebungsvorhaben auswirken, ist aus den Wahlprogrammen nur bedingt zu ersehen. Sie wirken in den Kapiteln für Gesundheit und Pflege wie recycelt oder mit der heißen Nadel gestrickt. Weitsichtige oder programmatisch neue Vorstellungen sind nicht zu finden: SPD und Grüne setzen auf ihre bisherigen Themen, die Union hält sich weitgehend bedeckt und bleibt sehr im Allgemeinen.

 

Externe Faktoren beeinflussen maßgeblich Gesundheitspolitik

Unabhängig von den parteibezogenen Vorstellungen über die künftige Gesundheits- und Pflegepolitik werden andere Faktoren in der nächsten Legislaturperiode die gesundheitspolitische Gesetzgebung beeinflussen:

 

1. Verschärfte Bedingungen für gestrandete Gesetzesvorhaben

Limitierend für jegliche Reformvorstellungen sind die sich rapide verschlechternden finanziellen Rahmenbedingungen, einhergehend mit einem engen Bundeshaushalt. Die Schlagzeile, dass die TK ihren Zusatzbeitrag mehr als verdoppeln musste und andere Krankenkassen nachziehen, lenkt den gesamt-ökonomischen Blick auf die desolate Finanzlage der Krankenkassen, die sich durch die lahmende Konjunktur noch verschärfen wird. Ähnlich dramatisch entwickelt sich die Finanzsituation in der sozialen Pflegeversicherung, die aufgrund der weiter steigenden Zahl von Pflegebedürftigen „vor einem Kollaps stehen“ könnte – so kürzlich die Chefin des DRK, Gerda Hasselfeldt.

Diese alles überschattende Rahmenbedingung bildet sich in den Wahlprogrammen nur rudimentär ab. Stattdessen werden unverdrossen neue Zusatzleistungen für die Kassen angekündigt, die weitere milliardenschwere Belastungen bedingen würden, ohne auch nur eine realistische Chance für eine Gegenfinanzierung aufzuzeigen. Diesbezüglich werden nur nicht durchsetzbare, alte Ideen aufgewärmt: Weder die Bürgerversicherung (Grüne und SPD) noch ein Ausgleich für versicherungsfremde Leistungen aus dem Bundeshaushalt (Grüne und SPD) sind realistisch. Noch ideenloser äußern sich CDU/CSU: Diese Parteien wollen die „Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung zukunftsfest aufstellen“, „streben … mehr Effizienz beim Einsatz von Beitragsgeldern an und stärken den Wettbewerb der Krankenkassen“. Aha!

Auch der hilflose Versuch des bisherigen Gesundheitsministers, die finanziellen Belastungen von Versicherten und Wirtschaft mit Fehlern in der weit zurückliegenden Vergangenheit zu begründen, ist angesichts der wirtschaftlichen Lage nicht (mehr) zu vermitteln. Für die in der auslaufenden Legislaturperiode gestrandeten Gesetzesvorhaben werden also verschärfte Bedingungen gelten: Tragen sie zur Konsolidierung der Finanzen bei oder kommen sie zumindest ohne Mehrkosten aus? Also ein Ende der Wohltaten? Eine solche conditio sine qua non wird allerdings viel Unwillen bei allen Lobbygruppen im Gesundheit- und Pflegewesen produzieren.

 

2. Regierungsarbeit nach außen konfliktfrei gestalten

Nach den Jahren des Streits in der Ampel werden die Koalitionspartner Wert darauflegen, die Regierungsarbeit konfliktfrei nach außen zu gestalten. Nach den wenig erfreulichen Erfahrungen mit der Krankenhausreform wird das öffentlich wahrnehmbare Widerstandspotenzial ein Kriterium für neu anzugehende Vorhaben sein. Themen, die nur kontrovers und mit schriller politischer Begleitmusik durchgepeitscht werden können, wie das Cannabis-Thema, werden gesamtpolitisch wenig erwünscht sein.

 

3. Grundstrukturen nicht weiter erodieren lassen

Deutschland ächzt zunehmend unter einer sich verschlechternden Infrastruktrur. Dies betrifft nicht nur die Deutsche Bahn oder Autobahn-Brücken, sondern auch die medizinische/pflegerische Grundversorgung. Wer immer mehr Beiträge für gesetzliche Krankenversicherung und soziale Pflegeversicherung (GKV und SPV) bezahlen muss, aber keine HausärztIn findet, monatelang auf einen Facharzttermin wartet oder pflegerisch schlecht versorgt wird, wird dies auch bei Wahlen zum Ausdruck bringen. Von daher kann und wird es ein Gebot der politischen Vernunft sein, dieser politisch gefährlichen Stimmung etwas entgegenzustellen und Grundstrukturen zumindest nicht weiter erodieren zu lassen.

 

Realisierungschancen einzelner Gesetzgebungsvorhaben

Welche der unvollendeten Gesetzgebungsvorhaben bieten sich unter Beachtung dieser Rahmenbedingungen für eine zügige Umsetzung an? Inhaltlich besteht weitgehender Konsens für eine Reform der Notfallversorgung, wobei sicherlich die Anforderungen an die Kassenärztliche Vereinigungen noch reduziert werden. Schwieriger ist die Lage bei der Reform des Rettungsdienstes. Zweifelsohne ist dieses Fachgebiet integraler Bestandteil der Notfallversorgung. Die Vermeidung von unnötigen Fehlallokationen und damit Fehlkosten ist nur im Verbund von Notfallgesetzgebung und Rettungsdienstreform durchsetzbar. Ob sich der künftige Minister/die künftige Ministerin aber den Tort antun wird, sich mit den für das Rettungswesen zuständigen Innenministerien der Länder anzulegen, ist unsicher.

Schnell einigen wird man sich sicher beim Bürokratieentlastungsgesetz, obwohl bis heute noch öffentlich unbekannt ist, was es umfassen soll. Aber es gibt Vorschläge, könnte Kosten sparen und liegt im Sympathietrend. Allerdings steckt der Teufel im Detail, da trickreiche Lobbygruppen unter dem Deckmantel des Regulierungsabbaus darauf abzielen, unkontrolliert und leichter mehr Geld zu verdienen. Man denke an Paxlovid, was als Mittel gegen einen schweren Corona-Verlauf von der Bundesregierung sehr unbürokratisch Apotheken und Krankenhaus zur Verfügung gestellt wurde und vielfach anschließend falsch abgerechnet wurde.

Ein weiteres, relativ unkompliziertes Gesetzesvorhaben dürfte das Pflegeassistenzgesetz sein, da hier die Zustimmung aller Länder gegeben ist und eine relevante Kostensteigerung nicht zu erwarten sind. Es hat zusätzlich das Potenzial, die Fachkraftlücke zu mildern.

Unstreitig dürfte auch das Gesundheits-Digitalagentur-Gesetz (GDAG) sein, wenn nicht irgendeine Lobbygruppe der CDU reinredet, dass hier zu viel Staat und zu wenig Selbstverwaltung zum Tragen kommt. Das Gesundheitsversorgungstärkungsgesetz (GVSG) mutierte bekanntlich zu einem „Mehr-Geld-für Hausärzte-Gesetz“, von dem die Kassen (wohl nicht ganz zu Unrecht) behaupten, dass mehr Geld für die hausärztliche Versorgung nicht unbedingt eine bessere Versorgung bedingen muss. Vielleicht haben die Koalitionäre den Mut, gleichzeitig ein Primärarztsystem einzuführen und so kompensatorisch für die entstehenden Mehrkosten der hausärztlichen Entbudgetierung die Doppelkonsultationen einzudämmen. Ein Halbsatz im Wahlprogramm der Union lässt diese Option denkbar erscheinen.

Andere Ideen, wie die im SPD-Wahlprogramm erneut geforderten Gesundheitskioske oder die ehemals im GVSG von den Grünen eingebrachten Gesundheitsregionen, werden es mit der Union noch schwerer haben. Schade eigentlich. Diese neuen Strukturen hätten das Gesundheitswesen ebenso verändern können wie die MVZ das Einzelpraxensystem.

Nur sehr problematisch wird die von Lauterbach nicht vorgelegte, aber immer wieder angekündigte Pflegereform zu realisieren sein. Einerseits ist sie „alternativlos“, anderseits sind die zwangsläufig damit verbundenen Mehrkosten nicht zu schultern. Die Forderungen des SPD-Wahlprogrammes nach einer großzügigen Deckelung der Eigenanteile sind in diesem Zusammenhang illusorisch. Einzige Chance ist eine Verabredung im Koalitionsvertrag, die Pflegekosten als letzte Sünde ganz am Anfang der Legislaturperiode noch einmal kräftig zu erhöhen, um das unangenehme Thema für den Rest der Regierungszeit nicht wieder auf die Agenda zu sehen. Es besteht aber ein hohes Risiko, dass diese Rechnung nicht aufgeht.

Für eine rasche Wiederauflage bzw. Weiterentwicklung von Berufsgesetzen, wie das Physiotherapeuten-, Logopäden oder Ergotherapeuten-Gesetz, das Pflegekompetenzgesetz und/oder eine Akademisierung der Notfallsanitäter, sprechen der Bedarf für ein erweitertes Versorgungsangebot durch besser befähigte Gesundheitsfachberufe. Aber all diese Gesetze müssen die Hürde der Mehrkosten für die zusätzliche (akademisierte) Ausbildung überwinden. Wie schon bei der ärztlichen Approbationsordnung werden die Wissenschaftsressorts der Länder ihr Plazet von einem Bundeszuschuss abhängig machen, der auch in den nächsten Jahren nicht zu erwarten sein wird.

Weitere gesetzgeberische Restanten, wie eine Novelle des Apothekengesetzes, das BIÖG-Gesetz, das Gesundes-Herz-Gesetz, das Gesundheitssicherstellungs-Gesetz, das Registergesetz oder Vorhaben rund um die Organspende werden für die neuen Koalitionäre keine Priorität haben.

 

Nur marginale Korrekturen bestehender Strukturen möglich?

Es ist allerdings offensichtlich, dass fast alle diese Gesetzesvorhaben nur marginale Korrekturen der bestehenden Strukturen ermöglichen, also keinen großen Wurf darstellen würden. Ob die Koalition zusätzlich den Mut hat, wesentliche Sollbruchstellen des Gesundheits- und Pflegewesens wie die sektorisierte Planung zu überwinden, ein Primärarztsystem zu etablieren, eine Möglichkeit zur verzahnten Versorgung von medizinischen, pflegerischen und sozialen Bedürfnissen zu eröffnen, die Bedeutung der Kommunen in der Pflege zu stärken oder gar eine regionalisierte Budgetierung einzuführen, ist bisher nicht sichtbar.

Man sollte zwar nicht wünschen, dass der finanzielle Druck auf die Versorgung zu hoch wird, aber wahrscheinlich wäre das die einzige Chance, grundlegende Reformen anzugehen und durchzusetzen.

 

 

Lesen Sie vom Autor weitere Beiträge:

„Ein Zielbild für neue kommunale Versorgungsstrukturen“, Observer Gesundheit, 9. November 2023,

„Von der Idee ins Gesetz“, Observer Gesundheit, 15. Mai 2023,

„Ambulant/stationäre Intermediär-Versorgung – eine Einordnung“, Observer Gesundheit, 27. Januar 2023,

„Sektorenübergreifende Versorgung – eine Einordnung“, 19. Juli 2021.

 


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