Was bringt der EHDS?

Unter anderem Tempo in die deutsche Digitalisierung

Pia Maier, Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes Internetmedizin

Nach gut zwei Jahren intensiver Diskussion wurde Ende April die geeinigte Fassung des European Health Data Space (EHDS) vom EU-Parlament beschlossen und danach vom Rat bestätigt.[1] Die Veröffentlichung im Amtsblatt der EU wird für Herbst/Winter erwartet, da der Text noch durch eine juristische Glättung muss. Im Trilog-Prozess wurden die Fassungen von Kommission und Parlament angenähert – herausgekommen ist ein EHDS, der etwas mehr Patientenrechte und etwas weniger Forschungsmöglichkeiten beinhaltet, vor allem aber durch die Diskussionen klarer und verständlicher geworden ist.

Schon während dieser Zeit hat sich die deutsche Gesetzgebung auf die neue europäische Regulation eingestellt und Weichen gestellt, die uns „EHDS-ready“ machen. Denn die traurige Wahrheit ist: Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern stellen die im EHDS gestellten Anforderungen eine Herausforderung für die deutsche Gesetzgebung dar. Hier soll es darum gehen, was sich durch den EHDS nun konkret verändern kann und was das bringt.

 

Was bringt der EHDS in der Versorgung?

Einer der beiden zentralen Bereiche des EHDS ist die primäre Datennutzung – also der Zugang und die Nutzung von elektronisch gespeicherten Daten durch die Patient:innen selbst und im Behandlungsverlauf durch Gesundheitsfachberufe. Der EHDS schafft einen Rechtsanspruch für alle Patient:innen, Zugang zu den elektronisch gespeicherten Daten aus Behandlungen zu bekommen – in einem geeigneten Format, ohne Zusatzkosten. Damit sind die Zeiten der Bezahlung von Kopien für einen Ausdruck der Patientenakte endgültig vorbei. Das Bundesjustizministerium hat gerade einen Gesetzentwurf[2] vorgelegt, der genau das regeln soll: Gesundheitseinrichtungen müssen künftig die erste Abschrift der bei ihnen in der Patientenakte gespeicherten Daten kostenfrei, elektronisch und weiterverarbeitbar zur Verfügung stellen. Es geht dabei nicht nur um die Daten, die in der elektronischen Patientenakte liegen, die von den Krankenkassen angeboten wird, sondern um die Daten, die in den elektronischen Systemen von Arztpraxen, Krankenhäusern etc. gespeichert sind.

Der EHDS gibt den Patient:innen das ausdrückliche Recht, von ihren Behandelnden zu verlangen, dass diese auf vorhandene Daten in den Akten zurückgreifen – und das europaweit. Im Blick hat die EU damit vor allem die grenzüberschreitenden Behandlungen, die ohne Informationsverlust möglich werden und natürlich auch inländische, wo das noch nicht möglich ist. Der EHDS gibt den Patient:innen mehr Rechte, als in Deutschland bisher Usus: Wenn der Arzt/die Ärztin nicht auf die elektronische Patientenakte zugreifen möchte, müssen wir das bisher akzeptieren, der EHDS schafft hier ein klares Patientenrecht: Behandelnde müssen diese Daten nutzen. Zugegeben, ein schwer durchzusetzendes Recht.

Beim Vergleich der europäischen und der deutschen Regeln zeigen sich verschiedene Haltungen: Europa setzt auf informierte Patient:innen mit Rechten gegenüber den Behandelnden. Das deutsche Recht regelt Pflichten zur Befüllung der Akte gegen angemessene Vergütung, weil das die einzige Chance ist, das Recht der Patient:innen hierzulande durchzusetzen.

Die europäische Regulierung definiert einige prioritäre Datenkategorien, für die diese Zugänge auf jeden Fall funktionieren müssen:

  • Patientenkurzakten
  • Elektronische Verschreibungen
  • Elektronische Abgabeinformationen (Dispensierung)
  • Medizinische Bilder und Bildbefunde
  • Medizinische Testergebnisse wie Laborergebnisse, andere diagnostische Ergebnisse und damit verbundene Berichte
  • Entlassberichte.

 

Hier liegt der Grund, warum die Prioritäten bei der deutsche ePA mit dem Digital-Gesetz (DigiG)[3] verändert wurden: Sie musste um den Bereich der Laborergebnisse erweitert werden, die bisher nicht vorgesehen waren. Auch die Erweiterung der Arzneimitteldaten war erforderlich. Vorher war nur der elektronische Medikationsplan Teil der ePA, jetzt werden priorisiert die verfügbaren eRezept-Daten umgesetzt – inklusive der Information zur Dispensierung.

Diese Rechte werden europaweit gedacht, daher müssen die Systeme, die Patientendaten verwalten (Electronic-Health-Record-Systems, EHR-Systeme), besser kompatibel werden, denn die Daten sollen ja bei den jeweils Mitbehandelnden verständlich ankommen. Dafür werden Verwaltungssysteme für Patientendaten künftig ihre Kompatibilität nachweisen müssen. Die Grundlage dafür hat das DigiG geschaffen, die Neufassung der Gesundheits-IT-Interoperabilitäts-Governance-Verordnung (GIGV) [4] präzisiert gerade den Prozess. Denn die Daten müssen die Systeme der Behandler in einem verständlichen Format verlassen, damit der europaweite unmittelbare Zugriff, verständlich in der Landessprache, umgesetzt werden kann. Es werden noch europaweite Absprachen zu den Datenformaten zu treffen sein. Diese Vereinheitlichung hilft auch bei der sekundären Datennutzung und der Vereinheitlichung von Standards.

Qualität und Zugänglichkeit der in Deutschland aus dem Gesundheitswesen verfügbaren Daten sind nicht vorbildhaft – viele andere Länder sind da wesentlich weiter. Unsere Datenpools bestehen vor allem aus Abrechnungsdaten, die ihrer eigenen Logik folgen. Eine systematische Erfassung des Gesundheitsstatus mit grundlegenden Informationen wie Allergien und Familienanamnese ist bisher hier nicht flächendeckend verfügbar. Dafür musste eine ePA aktiv von Versicherten angelegt werden, eine Praxis bereit sein, die sogenannte Erstbefüllung zu übernehmen – der Prozentsatz der so angelegten Informationen ist verschwindend gering. Auch Labordaten und viele weitere Daten, die den Gesundheitszustand besser beschreiben als abrechnungsrelevante Behandlungsfälle, sind bisher verstreut, unzugänglich, nicht auswertbar. Erst die neue „ePA für alle“ wird das etwas verbessern.

In der deutschen Gesetzgebung schwingt aber auch immer ein bisschen Protektionismus mit – rechtzeitig noch eigene Regeln schaffen, bevor weitergehende europäische Regeln kommen.  Gerade bei den Datenstandards legt die deutsche Gesetzgebung gern nationale Standards über die international anerkannten. Heraus kommt dann am Ende ein System, das für das Datum selbst eine international gängige Kodierung verwendet (Stichworte FHIR, LOINC, SNOMED etc.), von den Systemen aber zusätzlich noch Interoperabilität mit deutschen Besonderheiten wie den MIOs verlangt. Diese Medizinischen Informationsobjekte (MIO) sind zugeschnitten auf die Kodier- und Erfassungspraxis der deutschen historisch gewachsenen Einzelpraxis und regeln daher mehr, als für einen strukturierten Datenaustausch erforderlich wäre. Hier zeichnen sich ähnliche Entwicklungen ab, wie bei der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO): Wir verkomplizieren europäisches Recht, statt es einfach nur anzuwenden.

Der EHDS hat geholfen, eine bessere Patientenakte und eine bessere Organisation von Interoperabilität in Deutschland zu organisieren. Die weiteren europaweiten Festlegungen helfen hoffentlich dabei, die deutschen Sonderlocken wieder abzuschneiden.

Perspektivisch ermöglicht der EHDS zum Beispiel auch grenzüberschreitende Telemedizin, bei der auf die Daten aus der Vorgeschichte der Patient:innen zurückgegriffen wird. So könnte ein Anbieter aus Spanien auf meine Behandlungsdaten zugreifen, Rezepte ausstellen und Krankschreibungen erledigen, an den Datenflüssen scheitern solche Modelle künftig jedenfalls nicht mehr.

 

Was bringt der EHDS für Forschung und Entwicklung?

Der zweite Regelkreis des EHDS ist die sekundäre Datennutzung, also die Nutzung der Daten aus den elektronischen Patientenakten für Forschung und Entwicklung auf der Basis der europäischen Regeln für Datennutzung, vor allem der DSGVO. Der EHDS schafft keinen existenten Datenraum, in dem alle Daten aus den Patientenakten automatisch doppelt gespeichert werden, er schafft auch keinen unmittelbaren Zugang von Forschenden zu Daten. Der EHDS schafft die Grundlage, auf der Daten für Forschung beantragt und zur Verfügung gestellt werden können. Dafür müssen Anträge gestellt und für die Datennutzung Vorschriften eingehalten werden. Die Forschung findet dann in einem virtuellen Datenraum statt, in dem die Daten bearbeitet werden und Analysen gemacht werden können. Unabhängig von den Originaldaten und ohne diese Daten aus dem Datenraum herausnehmen zu können. Dafür sorgt spezielle Technik, die diese virtuellen Datenräume schafft, den Zugang kontrolliert und protokolliert, damit die Daten nur für die beantragten Zwecke genutzt werden.

Die Konstruktion des EHDS hat auch das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG)[5] wesentlich beeinflusst. Der bessere Zugang zu Daten aus der Gesundheitsversorgung wird durch eine zentrale Zugangsstelle für Anträge auf Datennutzung erreicht. Ist der Antrag erfolgreich bestätigt, werden die Daten in einer sicheren Verarbeitungsumgebung vom Forschungsdatenzentrum zur Verfügung gestellt. Dieses wird im Rahmen des EHDS auch die europaweiten Anfragen nach deutschen Daten bearbeiten. Der EHDS schafft damit europaweite Datenpools, deren Daten verständlich und interoperabel sein werden, die längere Zeiträume umfassen (longitudinale Daten) und dabei DSGVO-konform sind.

Die Datennutzung wird an den Zweck der Forschung gebunden, auch diese Idee hat das GDNG übernommen. Hier steht der öffentliche Nutzen von Daten voran – öffentliche Institutionen bekommen die Möglichkeit, die Daten im Interesse der öffentlichen Gesundheit zu nutzen und bessere Informationen für die Planung von Gesundheitsleistungen zu bekommen.

Forschung mit Daten des EHDS darf zu folgenden Zwecken erfolgen (eigene Übersetzung, § 34 EHDS, final compromise[6]):

  • Im Interesse der öffentlichen Gesundheit.
  • Für Bewertungen von Gesundheitstechnologien.
  • Zur Sicherstellung hoher Qualitäts- und Sicherheitslevel der Gesundheitsversorgung, von medizinischen Produkten oder Geräten mit dem Ziel Patient:innen, Gesundheitsfachberufen oder der Gesundheitsverwaltung zu nutzen, dies gilt auch für Forschung und Entwicklung an neuen Produkten und Services, Training, Test und Validierung von Algorithmen für medizinische Geräte und Diagnostik.
  • Zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung, inklusive Optimierung der Behandlung.

 

Dass das GDNG den § 303e SGB V so formuliert hat, wie er nun Gesetz geworden ist, ist eben auch der europäischen Vorlage zu verdanken: Ohne diesen Druck wäre ein Forschungszweck zur „Entwicklung, Weiterentwicklung und Überwachung von Arzneimitteln, Medizinprodukten, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, Hilfs- und Heilmitteln, digitalen Gesundheits- und Pflegeanwendungen…“[7] kaum in ein deutsches Gesetz gekommen. Auch die Nutzung von Daten für Entwicklung, Training, Validierung und Testen von Künstlicher Intelligenz ist im Kontext von EHDS und AI Act[8] zu sehen. Da mit dem AI Act auch regelhaft Daten für die KI-Entwicklung genutzt werden können, die auf einer rechtmäßigen Grundlage entstanden sind, werden die Bedingungen für die Entwicklung von KI-gestützten Medizinprodukten auch deutlich besser.[9]

Wie die Nutzungszwecke für Forschungsvorhaben oder KI-Entwicklung in den Anträgen am Ende genau bewertet und umgesetzt werden, ist noch nicht absehbar, aber die Verordnung möchte hier ausdrücklich auch die Weiterentwicklung von Produkten und Dienstleistungen im Sinne der Gesundheitsversorgung mit Daten unterstützen, auch im Hinblick auf Künstliche Intelligenz, die in diesen Produkten stecken kann. Dabei gilt, wie wir das ja kennen: Die Daten werden so anonym wie möglich, so pseudonym wie nötig zur Verfügung gestellt, auf Antrag, mit entsprechender Kontrolle. Wie schnell die Daten dann verfügbar werden, ist derzeit ebenfalls nicht absehbar. Das Forschungsdatenzentrum wird auch für internationale Anfragen die Anträge prüfen, deutsche Daten organisieren, zur Verfügung stellen und überwachen.

 

Welche neuen Modelle der Datennutzung sind vorstellbar?

Der EHDS kann die Geschäftsmodelle der Datendienstleister auf ein neues Niveau heben. So wie heute schon Informationsbroker Daten beschaffen und so aufbereiten, dass sie für Dritte nutzbar sind, kann das auch mit Datenräumen umgesetzt werden. Der Dienstleister beantragt und schafft (wenn genehmigt) einen regelmäßigen Datenfluss auf der Grundlage des EHDS, den er selbst für aussagekräftige Datenanalysen, auch in Kombination mit weiteren Daten, nutzen kann. So sind die Datendienstleister nicht mehr auf bestimmte Kooperationen angewiesen, die meist nur einen Teil der Daten abbilden, sondern sie können auf den Gesamtdaten arbeiten – wenn die Forschungsfrage es eben zulässt und die Daten ausreichend pseudonymisiert sind.

So können auch Datenräume für die Nutzung durch Dritte entstehen: Dienstleister organisieren einen Datenraum, in dem bestimmte Fragen dann schnell von Dritten bearbeitet werden können, mit entsprechender Überwachung und Protokollierung. Auf diesem Weg können Daten auch von kleineren Unternehmen und Start-ups genutzt werden, sie müssen dann nicht selbst den Antrag stellen, sondern können auf den Vorarbeiten anderer forschen.

Datenräume können auch für einzelne Forschungsfragen angelegt werden, die neue Dimension macht hier vor allem europaweite Vergleiche wesentlich einfacher, wenn die Daten strukturiert zur Verfügung stehen. Auch die Arbeit an seltenen Erkrankungen wird spürbar erleichtert sein, wenn die Grundgesamtheit der Daten größer ist – wo mehr Fälle sind, sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben leichter einzuhalten. Und es können gerade bei seltenen Erkrankungen verschiedene Behandlungsmöglichkeiten besser verglichen werden.

Der EHDS schafft die rechtlichen Grundlagen, um mit den Datenräumen auch Versorgungsmonitoring betreiben zu können, sofern die entsprechenden Daten zeitnah zur Verfügung stehen. Öffentliche Institutionen können perspektivisch z.B. die Intensivbettenbelegung oder die Verbreitung ansteckender Krankheiten zeitnah monitoren, wenn ein entsprechender Datenraum existiert und ständig mit frischen Daten befüllt wird. Dann müssten nicht mehr einzelne gesetzliche Grundlagen geschaffen werden, sondern es könnte ein Set an notwendigen Daten definiert und verfügbar gemacht werden.

 

Fazit

Die auslaufende Legislaturperiode der EU war mit Blick auf das Gesundheitswesen die Zeit einer starken EU, mit zahlreichen umfassenden Ansätzen, die einer Strategie folgten: gesundheitliche Versorgung angleichen, europäische Werte stärken und Europa zukunftsfähig machen. Im Bereich der Digitalisierung hat die EU Deutschland damit vorangetrieben, weiter als die deutsche Gesundheitspolitik das von allein geschafft hätte. Wir werden künftig alle einen besseren Zugang zu unseren Gesundheitsdaten haben, und es werden mehr Daten für eine bessere Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen.

Solange die EU dabei ihre Werte, Ziele und Grundsätze behält – Menschenwürde, Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit zur Förderung von sozialer Gerechtigkeit –, schaffen diese Daten eine bessere gesundheitliche Versorgung auf der Grundlage europäischer Werte zum Wohlergehen aller in der EU. Die Europawahl ist eine Gelegenheit, diese Grundlage zu erhalten.

 

[1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CONSIL:ST_7567_2024_INIT&qid=1716790091471

[2] https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/2024_Einsichtnahme_Patientenakte.html?nn=110490

[3] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/digital-gesetz.html

[4] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/gesundheits-it-interoperabilitaets-governance-verordnung-iop-governance-verordnung-gigv.html

[5] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/detail/gesundheitsdatennutzungsgesetz.html

[6] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CONSIL:ST_7567_2024_INIT&qid=1716790091471

[7] https://www.buzer.de/303e_SGB_V.htm

[8] https://artificialintelligenceact.eu/the-act/

[9] Ebenda, § 58, beschränkt auf die Entwicklung von AI in sogenannten AI-Sandboxes

 

 

Lesen Sie auch diese Beiträge der Autorin:

„Digital-Gesetze: Reicht dies zur digitalen Transformation?“, Observer Gesundheit, 23. November 2023,

„Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz – sinnvolle Analysen oder willkürliche Datennutzung“, Observer Gesundheit, 7. August 2023,

„Datenflüsse durch Europa – Chance oder Risiko?“, Observer Gesundheit, 15. März 2023.


Observer Gesundheit Copyright
Alle politischen Analysen ansehen