Warum wir ein Patientenrechtegesetz 2.0 brauchen

Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes

Das 2013 verabschiedete Patientenrechtegesetz hat für Patienten, Ärzte und Therapeuten Transparenz über ihre bestehenden Rechte und Pflichten geschaffen. Es war ein erster wichtiger Schritt. In den vergangenen Jahren haben sich aber in der täglichen Praxis nicht nur Defizite bei der Durchsetzung der Patientenrechte gezeigt. Es hat sich auch herausgestellt, dass die gesetzlichen Regelungen gravierende Lücken aufweisen. Daher ist es an der Zeit, die Regelungen des Patientenrechtgesetzes weiterzuentwickeln. Zu den Themen, die aktuell nicht ausreichend oder zum Nachteil der Patienten geregelt sind, gehören die Beweislast, die Information über Behandlungsfehler, die Einsichtnahme in die Patientenakte und die Haftpflicht-Regelungen.

Mit dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben, die Patientenrechte zu stärken, haben die Regierungsparteien bereits Nachbesserungsbedarf erkennen lassen. Die AOK-Gemeinschaft möchte ihre Expertise in die notwendige Überarbeitung des Patientenrechtegesetzes einbringen. Sie will damit einen Gesetzgebungsprozess anstoßen und aufzeigen, wo dringender Handlungsbedarf besteht. Wir freuen uns, dass wir dafür Unterstützung bei Sabine Dittmar, der gesundheitspolitischen Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, gefunden haben. Sie hat zugesagt, das Thema auf die Agenda der Großen Koalition zu setzen.

 

16.000 Versicherte wenden sich jährlich an die AOK

Unsere Vorschläge basieren auf den praktischen Erfahrungen in der täglichen Beratung und Unterstützung unserer Versicherten bei Behandlungs- und Pflegefehlern. Jedes Jahr wenden sich etwa 16.000 Versicherte an die AOK, weil sie einen solchen Fehler vermuten. Etwa in einem Viertel dieser Fälle bestätigt sich der Verdacht. Aber bevor es dazu kommt, gibt es immer noch viel zu hohe Hürden: Schon die Herausgabe von Unterlagen gestaltet sich für die Patienten oft schwierig. Die Beweislast hinsichtlich der Kausalität zwischen Fehler und eingetretenem Schaden, lange Verfahrensdauern und hohe Kosten halten viele Patienten davon ab, ihre Rechte wahrzunehmen.

Eine zentrale Forderung der AOK-Gemeinschaft ist die Absenkung des Beweismaßes zugunsten der betroffenen Patienten. Bisher müssen Patienten eine „weit überwiegende Wahrscheinlichkeit“ für den Zusammenhang von Behandlungsfehler und einem dadurch verursachten Schaden belegen. Wir fordern, dass künftig eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ von mehr als 50 Prozent ausreichen sollte. Eine solche Änderung kann die Chancen der Patienten auf Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen verbessern.

Außerdem müssen die Verfahrensdauern verkürzt werden. Um jahrelange Auseinandersetzungen zu vermeiden oder zumindest zu verkürzen, sollten Gutachten, die bereits vor einem Rechtsstreit erstellt wurden, stärker berücksichtigt werden – ebenso wie die Sachverständigen, die diese Gutachten verfasst haben. Auch eine verpflichtende Mediation könnte Rechtsstreite früher beenden.

 

Verpflichtende Haftpflicht für Ärzte und Medizinprodukte-Hersteller

Eine weitere wichtige Forderung aus unserem Papier: Ärzte und Hersteller von Medizinprodukten müssen verpflichtet werden, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen, damit Patienten im Falle des Falles angemessen entschädigt werden können. In einer bevölkerungsrepräsentativen YouGov-Umfrage im Auftrag des AOK-Bundesverbandes stimmen 87 Prozent der Befragten einer gesetzlichen Verpflichtung der Ärzte zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung zu, die im Fall von Behandlungsfehlern einspringt. Die Einführung einer Pflichtversicherung für Behandler ist eine der Kernforderungen im Positionspapier des AOK-Bundesverbandes. Es kann nicht sein, dass jeder Autofahrer in Deutschland im Falle eines Unfalls selbstverständlich über die Haftpflicht abgesichert ist, während es für Ärzte keine verpflichtende Absicherung gibt.

Spätestens seit dem Skandal um die PIP-Brustimplantate ist zudem klar, dass auch die Hersteller von Medizinprodukten zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung für ihre Produkte verpflichtet werden sollten. Das verringert die Gefahr von Insolvenzen infolge fehlerhafter Produkte und erhöht die Chancen der betroffenen Patienten, eine Entschädigung zu erhalten.

Auch die Haftungsregelungen bei Arzneimittelschäden gehören auf den Prüfstand. Zwar hat der Gesetzgeber 2002 das Arzneimittelgesetz novelliert und die Haftung neu geregelt, um Patienten bei gesundheitlichen Schäden durch Medikamente den Kausalitätsnachweis zu erleichtern. Seit 2002 ist aber kein einziger Hersteller in Deutschland zu Schadenersatzleistungen verurteilt worden. Denn die Hersteller können die Ansprüche der Patienten abwehren, indem sie auf eine andere mögliche Ursache wie das fortgeschrittene Alter des Patienten verweisen. Auch hier gibt es also dringenden Nachbesserungsbedarf.

 

Forderung nach besserer Information der Patienten

Nicht zuletzt geht es uns um eine bessere Information der Patienten. Das betrifft zum Beispiel das Einsichtsrecht der Patienten in ihre Behandlungsunterlagen oder die Information des Patienten über vermutete Behandlungsfehler, die aus unserer Sicht auch ohne aktive Nachfrage des Patienten erfolgen sollte. Zudem fordern wir, dass Ärztinnen und Ärzte gesetzlich dazu verpflichtet werden, ihre Patienten über den Nutzen und möglichen Schaden von IGeL-Leistungen aufzuklären.

Die Bundesregierung hat bereits eine ganze Reihe von Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht – aber keines, bei dem die Rechte er Patienten im Mittelpunkt stehen. Stattdessen sind zum Beispiel im Digitale-Versorgung-Gesetz Regelungen zu digitalen Gesundheits-Anwendungen geplant, die mit Sicht auf die Patientensicherheit eher fragwürdig sind. Das zeigt, dass es auch im Hinblick auf die neuen digitalen Entwicklungen wichtig ist, Patientenrechte und Patientensicherheit im Visier zu behalten.


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