Warum ein harter Lockdown nicht immer der richtige Weg ist

Studienergebnisse: Mit Teil-Lockdowns können vergleichbare Ergebnisse erzielt werden wie mit kompletten Schließungen



„Es hat Fehler gegeben“, so berichtete es Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach beispielsweise im ZDF heute journal, als er eine Bilanz nach drei Jahren Corona-Pandemie zog [1]. Er räumte ein, dass es falsche Schwerpunkte bei der Kontaktreduzierung gegeben hätte. Schulen und Kindertagesstätten hätten z.B. mit einem entsprechenden Testkonzept früher eröffnet werden können [1]. Doch was ist rückblickend eigentlich die beste Lockdown-Strategie, um Infektionen und Todesfälle zu vermeiden? Eine Antwort auf diese Frage gibt eine Studie von Bonardi et al. [2], die basierend auf Daten von 178 Ländern Handlungsempfehlungen für eine optimale Lockdown-Strategie ableitet.

Während der Corona-Pandemie wurden in diversen Ländern Lockdown-Maßnahmen ergriffen, um die Mobilität und die Kontakte zwischen den Menschen zu reduzieren. Lockdown-Maßnahmen lassen sich in die internen und externen Maßnahmen unterteilen. Bei internen Maßnahmen handelt es sich um Quarantäne-Maßnahmen, bei denen die Bewegung und die Beziehungen von Menschen innerhalb einer geografischen Zone eingeschränkt werden (z.B. Ausgangssperre). Externe Maßnahmen dienen dazu, eine geografische Zone nach außen abzugrenzen, um den Menschen innerhalb der Zone ein uneingeschränktes Leben zu ermöglichen (z.B. Grenzschließungen).

In der Studie von Bonardi et al. [2] werden Erklärungsansätze aufgedeckt, weshalb einige Lockdown-Maßnahmen besser funktioniert haben (d.h. weniger Todesfälle und Infektionen) als andere.

 

Studiendesign

Der Datensatz umfasst den Zeitraum von Januar bis November 2020. Dadurch konnten die Lockdown-Strategien aus der ersten Corona-Welle von 178 Ländern (d.h. Industrie- und Entwicklungsländern) betrachtet werden. Der Erfolg von Lockdown-Maßnahmen wurde anhand von COVID-19-Infektionszahlen und Todesfällen gemessen. Außerdem wurde anhand der Infektions- und Todeszahlen untersucht, welche Auswirkungen die Lockerung von Lockdown-Maßnahmen hatten.

Die Lockdown-Maßnahmen wurden nach internen und externen Maßnahmen kategorisiert. Ferner wurde jede Maßnahme einem Schweregrad zugeordnet (weiß = leicht; grau = mittelschwer; schwarz = hart). So war es möglich, die Effekte von „harten“ und „leichten“ Lockdowns differenziert zu analysieren. Eine Übersicht über die Maßnahmenklassifikationen befindet sich in der Tabelle 1.

Um die Studienergebnisse nicht zu verzerren, wurden in der statistischen Analyse unterschiedliche Aspekte mitberücksichtigt (z.B. länderspezifische Unterschiede oder Testrate).

 

Tabelle 1: Überblick über 7 Klassifikationen von Lockdown-Maßnahmen differenziert nach internen und externen Maßnahmen

Studienergebnisse Lockdown

Quelle: Tabellenausschnitt aus Bonardi et al. 2023 S. 5 (Deutsche Übersetzung – Wortlaut adaptiert) [2].

 

Ergebnis 1: Leichte Maßnahmen genauso wirksam wie harte Maßnahmen

Insgesamt konnte festgestellt werden, dass Lockdowns grundsätzlich eine effektive Maßnahme sind, um die Pandemieausweitung zu verhindern. Nach den Berechnungen von Bonardi et al. [2] konnten 100 Tage nach der Implementierung von Lockdown-Maßnahmen in den Industrieländern ca. 3,6 Millionen Menschenleben gerettet werden. Schaut man sich die Studienergebnisse etwas differenzierter an, so wird jedoch deutlich, dass „leichte“ Maßnahmen („Teil-Lockdowns“ und regionale Lockdowns innerhalb eines Landes) genauso wirksam waren wie „harte“ Maßnahmen. Bonardi et al. [2] begründen die Ergebnisse damit, dass Teil-Lockdowns die Menschen stärker darauf sensibilisieren, ihr Bewegungsverhalten zu reduzieren als komplette Lockdowns. Damit seien komplette Lockdowns überflüssig, zumal diese die Wirtschaft mehr schädigen würden als Teil-Lockdowns.

Die Studienergebnisse zeigen ebenfalls, dass interne Maßnahmen (z.B. Schulschließungen) einen höheren Einfluss auf die Bewältigung der Pandemie hatten als externe Maßnahmen (z.B. Grenzschließungen). Als einen Grund für dieses Ergebnis nennen Bonardi et al. [2] die Schwierigkeit bei externen Maßnahmen, den richtigen Zeitpunkt für die Implementierung bzw. Lockerung zu finden. Interne Maßnahmen ließen sich zeitnah einführen und würden ihren Effekt schneller zeigen.

Im Rahmen der Studie wurden in einer Nebenanalyse Industrieländer und Entwicklungsländer separat analysiert. Interne Maßnahmen hatten für Industrieländer einen positiven Effekt auf die Bewältigung der COVID-19-Pandemie. Für Entwicklungsländer konnte dies nicht bestätigt werden. Bonardi et al. [2] betonen jedoch, dass dies nicht bedeutet, das Lockdown-Maßnahmen in Entwicklungsländern nicht effektiv waren. Um hierzu eine gesicherte Aussage treffen zu können, müsste der Datensatz erweitert werden.

 

Ergebnis 2: Vor Maßnahmen-Implementierung mehr Todesfälle und Infektionen

Bonardi et al. [2] konnten bei der Datenanalyse einen Antizipationseffekt feststellen. Bei einem Antizipationseffekt erwarten die Menschen zeitnah die Implementierung einer Lockdown-Maßnahme und erhöhen daher ihr Bewegungsverhalten kurz vor der Maßnahmeneinführung. So unternehmen Personen beispielsweise noch schnell einen Kurztrip ins Ausland, bevor die Grenzen geschlossen werden oder machen noch schnell eine Shoppingtour, bevor die Geschäfte geschlossen werden. Bonardi et al. [2] verwenden den Erklärungsansatz dafür, um zu begründen, weshalb die Infektionszahlen um 5% bis 6% in der Woche vor einer Lockdown-Maßnahmen-Einführung angestiegen sind.

 

Ergebnis 3: Lockerung von internen Maßnahmen nicht schädlich

Ferner konnten Bonardi et al. [2] feststellen, dass Lockerungen von internen Maßnahmen nicht zu einer erhöhten Verbreitung des Virus im Anschluss führten. Ein gegensätzliches Bild zeigte sich allerdings bei der Freigabe von Grenzschließungen (d.h. externe Maßnahme), durch die sich die Infektionszahlen nachweisbar erhöhten. An dem Ergebnis wird erneut deutlich, dass es bei externen Maßnahmen schwieriger ist, den richtigen Zeitpunkt für die Implementierung oder Lockerung zu wählen, um die gewünschten Effekte zu erzielen.

 

Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis?

Die Autoren betonen, dass die Erkenntnisse aus der Studie relevant bleiben, sofern Impfungen verfügbar sind. Im Falle von der Corona-Pandemie war dies Ende 2020. Herdenimmunität durch Impfungen zu erreichen, hätte sich in der Vergangenheit als schwieriger herausgestellt als gedacht. Außerdem könnten Impfungen für neu aufkommende Virus-Varianten nicht wirksam sein.

Was sollte  für eine mögliche nächste Pandemie mitgenommen werden?

Interne Maßnahmen sind wirksamer als externe Maßnahmen. Interne Maßnahmen lassen sich zeitnah einführen und entfalten schnell ihre Wirkung. Allerdings kann die Effektivität abgeschwächt werden, z.B. durch hohe Antizipationseffekte. Bei externen Maßnahmen ist es zusätzlich schwierig, den richtigen Zeitpunkt für die Implementierung und Beendigung zu bestimmen. Werden externe Maßnahmen zu spät eingeführt, sind sie nicht effektiv.

Leichte Maßnahmen sind genauso wirksam wie harte Maßnahmen. Bonardi et al. [2] stellen somit klar heraus, dass komplette Lockdowns überflüssig sind. Anhand des erstellten Portfolios an Maßnahmenklassifikationen (siehe Tabelle 1) sollte daher genau überlegt werden, ob nicht auch ein Teil-Lockdown zur Pandemiebekämpfung angemessen ist.

Welche Rückschlüsse lassen sich aus der Pandemiebekämpfung in Deutschland ableiten?

Um es mit den Worten von Prof. Dr. Lauterbach zu sagen: „Es hat Fehler gegeben.“ [1]. Basierend auf den Studienergebnissen von Bonardi et al. [2] wird die Schwierigkeit deutlich, den richtigen Zeitpunkt für die Implementierung oder Beendigung einer Lockdown-Maßnahme zu bestimmen, um die gewünschten Effekte zu erzielen. Werden Maßnahmen zu spät eingeleitet oder zu früh gelockert, können sich die Infektionszahlen erhöhen. Diese Problemstellung sollte man sich vor Augen halten, wenn man die Pandemiebekämpfung in Deutschland rückblickend betrachtet. Ferner waren die Maßnahmen zur Einschränkung des Bewegungsverhaltens (d.h. Lockdown-Maßnahmen) nicht die einzigen, die den Pandemieverlauf einschlägig beeinflusst haben (z.B. Teststrategie und Maskenpflicht). Diese Aspekte sollte man im Blick haben, bevor man die Aktivitäten der Bundesregierung mit den Studienergebnissen [2] bewertet.

Komplette Lockdowns sind zur Pandemiebekämpfung überflüssig. Zu dieser Erkenntnis kommt die Studie von Bonardi et al. [2]. Mit Teil-Lockdowns hätten vergleichbare Ergebnisse erzielt werden können. Zudem sind interne Maßnahmen (z.B. regionale Lockdowns innerhalb eines Landes) wirksamer als externe Maßnahmen (d.h. Grenzschließungen). Entscheidungsträger sollten daher überlegen, bei zukünftigen vergleichbaren Situationen „leichte“ interne Maßnahmen gegenüber „harten“ externen Maßnahmen vorzuziehen.

 

[1] ZDF heute Journal: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lauterbach-corona-massnahmen-maskenpflicht-ende-102.html [Abgerufen am 06.03.2023]

[2] Jean-Philippe Bonardi, Quentin Gallea, Dimitrija Kalanoski, Rafael Lalive (2023) Managing Pandemics: How to Contain COVID-19 Through Internal and External Lockdowns and Their Release. Management Science.

 

 

Redaktion/ Dr. Ines Niehaus


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