06.10.2020
Wann wirken finanzielle Anreize bei Ärzten?
Kanada-Studie: Steuerung der Zahlungen können fachgebietsübergreifenden Wettbewerb ankurbeln
Ärzte haben einen besonderen Stellenwert im Gesundheitssystem. Durch eine langjährige Ausbildung haben sie sich ein komplexes Spektrum an Wissen und Kompetenzen angeeignet, was ihnen ein hohes Maß an Selbständigkeit und Unabhängigkeit in der medizinischen Behandlung von Patienten gewährt. Der Arzt in seiner Rolle als Fachkraft stellt Arbeitgeber vor große Herausforderungen. Die ärztliche Leistungserbringung ist für den Unternehmenserhalt entscheidend. Gleichzeitig haben Arbeitgeber bzw. übergeordnete Institutionen nur eingeschränkt die Möglichkeit, einen Einfluss auf ärztliche Tätigkeiten zu nehmen. Finanzielle Anreize durch z.B. Sonderzahlungen sind ein altbewährtes Kontrollinstrument, um Handlungen von Personen bis zu einem gewissen Maß zu steuern. Eine kanadische Studie [1] untersucht erstmalig, inwieweit finanzielle Anreize eine Verhaltensänderung bei Fachärzten hervorrufen, indem auf die fachgebietsspezifischen und fachgebietsübergreifenden Charakteristika von ärztlichen Leistungsbereichen eingegangen wird.
In der gegenwärtigen Literatur werden zahlreiche Gründe angeführt, warum finanzielle Anreize bei Fachkräften, wie z.B. Ärzten, weniger effektiv sind. Demnach haben ethische Wertvorstellungen und Normen laut den Studienergebnissen einen bedeutenderen Einfluss auf das Verhalten von Fachkräften (z.B. [2]). Es gibt jedoch auch Situationen, in denen Ärzte auf finanzielle Anreize reagieren und damit in ihrem eigenen Interesse handeln, um ihren persönlichen Nutzen zu stärken, ohne dabei den Patienten zu schaden und ohne ihre Wertevorstellung zu verletzen. Beispielsweise, wenn der Staat möchte, dass Ärzte vermehrt Beratungsangebote anbieten. Diese Leistungserbringung wird dann mit einer erhöhten Vergütung honoriert. In solchen Situationen haben Ärzte auf freiwilliger Basis die Möglichkeit, ihren eigenen Nutzen durch finanzielle Anreize zu steigern und können dabei gleichzeitig den Zielen des Gesundheitssystems nachkommen, indem sie die Leistungserbringung in ihrem Bereich steigern.
Eine langjährig angelegte Studie (2005-2010) aus der kanadischen Provinz Ontario von Chown [1] untersucht, inwieweit Fachärzte auf solche finanziellen Anreize reagieren und berücksichtigt erstmalig, welche Bedeutung die betroffenen ärztlichen Tätigkeiten dabei einnehmen.
Das kanadische Gesundheitssystem in Ontario
In Ontario wird die ärztliche Leistungserbringung vom Staat getragen, sodass Patienten sich ausschließlich über Steuerzahlungen an der Finanzierung beteiligen müssen. Für jede erbrachte Leistung erhält ein Arzt einen vorgegebenen Vergütungsbetrag vom Gesundheitsministerium („Ministry of Health and Long-Term Care“). Ärzte in Ontario sind nicht über Gesundheitsinstitutionen angestellt. Das bedeutet, dass die ärztliche Leistungserbringung direkt über das Gesundheitsministerium bezahlt wird. Die Vergütungshöhe variiert in Abhängigkeit zu der Art der erbrachten Leistung. So erhält ein Arzt beispielweise $51,40 (~ 33,22€) für ein Beratungsgespräch. Die Vergütung der Leistungen ist unabhängig davon, wo die ärztliche Leistung durchgeführt wird. Ein Arzt, der ein Beratungsgespräch im Krankenhaus vornimmt, bekommt den gleichen Betrag für diese Leistung wie ein Arzt im ambulanten Sektor. Durch diese Struktur des Gesundheitssystems hat das Gesundheitsministerium die Möglichkeit, finanzielle Anreize in die ärztliche Leistungserbringung einfließen zu lassen, um so übergeordnete Gesundheitsziele zu fördern. Änderungen in der Vergütung von ärztlichen Leistungen erfolgen in der Regel alle vier Jahre, indem das Gesundheitsministerium mit einem Verband der ärztlichen Interessenvertretung leistungsspezifische Beträge vereinbart.
Studiendesign
Um Informationen zu den erbrachten ärztlichen Leistungen von 2005 bis 2010 in Ontario zu erhalten, wurden im Rahmen der Studie anonymisierte Daten des kanadischen Instituts für Gesundheitsinformationen („Canadian Institute of Health Information“) herangezogen. Das Institut für Gesundheitsinformationen verwaltet alle Daten zur ärztlichen Leistungserbringung in einer zentralen Datenbank, wo alle Leistungen erfasst sind, die Ärzte an das Gesundheitsministerium zu Vergütungszwecken übermitteln. Der Datensatz gibt eine Auskunft über die Art (z.B. Venenpunktion) und Anzahl der erbrachten Leistungen pro Quartal differenziert nach 17 medizinischen Fachgebieten. Insgesamt wurden 4.333 Leistungsarten erfasst. Viele Leistungsarten (z.B. Venenpunktion) können von Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen durchgeführt werden (z.B. Gynäkologie, Urologie, etc.). Dadurch haben sich 21.989 mögliche Kombinationen ergeben, wenn man die Leistungsarten den möglichen medizinischen Fachgebieten zuteilt.
Das Gesundheitsministerium von Ontario stellte für die Studie ebenfalls einen Datensatz bereit, der es ermöglicht nachzuvollziehen, in welcher Höhe die ärztlichen Leistungsarten vergütet werden und zu welchem Zeitpunkt eine Veränderung in der Vergütung der Leistungsarten stattgefunden hat. Diese Erkenntnisse sind entscheidend, um beurteilen zu können, ob sich mit einer Veränderung in der Vergütungshöhe als finanzieller Anreiz auch die Anzahl an erbrachten Leistungsarten durch die Fachärzte verändert. Die durchschnittliche Vergütung pro Leistungsart betrug $193 (~ 124,74€). Bei 1.936 Leistungsarten konnte eine Vergütungserhöhung festgestellt werden, die im Durchschnitt bei $28 (~ 18,10€) lag. Nur bei 14 Leistungsarten war eine Reduzierung in der Vergütung zu beobachten.
Die Daten des Gesundheitsministeriums und des Instituts für Gesundinformationen wurden für die Studie unter Berücksichtigung weiterer Faktoren (z.B. Bevölkerungsentwicklung, Anzahl der praktizierenden Ärzte) zusammengeführt, um eine Aussage darüber treffen zu können, inwieweit finanzielle Anreize die ärztliche Leistungserbringung beeinflussen.
Fokus und Dominanz der Zuständigkeit in den ärztlichen Leistungsbereichen
Um die Leistungsarten in Verbindung mit den medizinischen Fachgebieten zu charakterisieren, entwickelt Chow [1] zwei Kennzahlen zu den Leistungsarten und untersucht diese anschließend im Zusammenhang mit den finanziellen Anreizwirkungen.
Der fachgebietsspezifische Fokus ermöglicht eine Aussage darüber, wie stark die Fokussierung eines Fachgebietes (z.B. Pädiatrie) auf einer Leistungsart ist. Die Kennzahl bezieht sich somit auf die prozentuale Häufigkeit einer erbrachten Leistungsart (z.B. Venenpunktion) gemessen an dem Gesamtvolumen von allen erbrachten Leistungen in einem medizinischen Fachgebiet pro Quartal (siehe Formel).
Im Durchschnitt lag der fachgebietsspezifische Fokus einer Leistungsart in einem medizinischen Fachgebiet bei einem prozentualen Anteil von 0,08 %. Das bedeutet, dass eine Leistungsart durchschnittlich einen geringen Anteil an der gesamten Leistungserbringung eines Facharztes einnimmt. Im Durchschnitt führt ein Facharzt also viele unterschiedliche Leistungsarten durch, sodass nicht immer eine eindeutige Schwerpunktsetzung in der Leistungserbringung auszumachen ist. Der maximale Wert für den fachgebietsspezifischen Fokus einer Leistungsart lag bei 43 %.
Die fachgebietsübergreifende Dominanz ist eine Kennzahl, die alle medizinischen Fachgebiete umfasst. Sie basiert auf der Erkenntnis, dass viele Leistungsarten (z.B. Venenpunktion) von Ärzten unterschiedlicher medizinischer Fachrichtungen übernommen werden können (z.B. Gynäkologie, Urologie, etc.). Wenn Fachärzte eine Leistungsart im Verhältnis zu Ärzten anderer Fachrichtungen besonders häufig durchführen, spricht man von einer hohen fachgebietsübergreifenden Dominanz innerhalb einer Leistungsart. Die fachgebietsübergreifende Dominanz gibt somit Auskunft darüber, wie sich die Anzahl an erbrachten Leistungen einer Leistungsart (z.B. Venenpunktion) auf die medizinischen Fachgebiete pro Quartal prozentual verteilt (siehe Formel).
Es konnte festgestellt werden, dass ein Großteil der Leistungsarten einen geringen fachgebietsspezifischen Fokus in den Fachrichtungen aufweisen und somit nur einen geringen Anteil an der fachärztlichen Leistungserbringung ausmachen. Außerdem werden Leistungsarten, die häufig von Ärzten eines Fachgebietes durchgeführt werden (d.h. hoher fachgebietsspezifischer Fokus), auch vorrangig von den selben Ärzten innerhalb des medizinischen Fachgebietes praktiziert (d.h. hohe fachgebietsübergreifende Dominanz). Auffällig ist, dass vereinzelte Leistungsarten eine hohe fachgebietsübergreifende Dominanz und gleichzeitig einen niedrigen fachgebietsspezifischen Fokus in dem Fachgebiet aufweisen. Ein Beispiel hierfür ist die Leistungsart „Vasektomie“. 75 % der Vasektomien werden von Fachärzten der Allgemein- bzw. Familienmedizin durchgeführt (d.h. hohe fachgebietsübergreifende Dominanz). Diese Leistungsart weist jedoch mit einem prozentualen Anteil von 0,01 % einen sehr geringen fachgebietsspezifischen Fokus in der Fachrichtung „Familienmedizin“ auf.
Chown [1] geht davon aus, dass der fachgebietsspezifische Fokus und die fachgebietsübergreifende Dominanz der Leistungsarten einen Einfluss auf die finanziellen Anreizwirkungen von Fachärzten haben.
Ergebnis 1: Fachärzte reagieren stärker auf finanzielle Anreize, wenn die Leistungen oft im Praxisalltag durchgeführt werden.
Die Studie zeigt, dass Fachärzte verstärkt auf finanzielle Anreize innerhalb einer Leistungsart reagieren, wenn die Leistungsart besonders häufig im medizinischen Fachgebiet durchgeführt wird (d.h. hoher fachgebietsspezifischer Fokus). In diesem Fall ist eine zunehmende Leistungserbringung in dem Bereich zu beobachten, nachdem eine erhöhte Vergütung als finanzieller Anreiz eingeführt wurde. Insgesamt ergab sich eine durchschnittliche Steigerung in der ärztlichen Leistungserbringung von 6,3 % bei solchen Leistungsarten, die mit einem finanziellen Anreiz und einem hohen fachgebietsspezifischen Fokus von mindestens 5 % zusammenhängen.
Begründen lässt sich das Ergebnis damit, dass Fachärzte finanzielle Anreize von Leistungsarten, die sie häufig erbringen, aufmerksamer wahrnehmen als von Leistungsarten, die einen nur sehr geringen Anteil in ihrem Arbeitsalltag einnehmen. Dadurch, dass eine häufig und regulär praktizierte Leistungsart einen höheren Stellenwert einnimmt, sind Ärzte eher bereit, ihr Verhalten durch finanzielle Anreize zu verändern, indem sie die Leistungserbringung innerhalb einer Leistungsart steigern.
Ergebnis 2: Fachärzte reagieren stärker auf finanzielle Anreize, wenn die eigene fachgebietsübergreifende Dominanz innerhalb einer Leistungsart gering ist.
Wenn Ärzte eines medizinischen Fachgebietes eine Leistungsart im Verhältnis zu anderen Fachärzten besonders häufig durchführen, liegt eine hohe fachgebietsübergreifende Dominanz innerhalb einer Leistungsart vor. Chown [1] nimmt an, dass vor allem Fachärzte mit einer hohen fachgebietsübergreifenden Dominanz die Leistungserbringung einer Leistungsart steigern werden, wenn diese mit finanziellen Anreizen versehen wird. Mit dieser Reaktion wollen die dominierenden Fachärzte verhindern, dass ihre führende Rolle bei der Praktizierung der Leistungsart durch Ärzte aus anderen Fachgebieten streitig gemacht wird.
Diese Annahme konnte im Rahmen der Studie jedoch nicht bestätigt werden. Fachärzte mit einer hohen fachgebietsübergreifenden Dominanz innerhalb einer Leistungsart haben in einem sehr geringen Ausmaß auf finanzielle Anreize reagiert. Viel mehr zeigte sich, dass Fachärzte mit einer niedrigen fachgebietsübergreifenden Dominanz verstärkt auf finanzielle Anreize innerhalb einer Leistungsart reagieren, indem sie die Anzahl an erbrachten Leistungsarten steigerten.
Eine mögliche Interpretation zu diesem Ergebnis ist, dass es stabile Zuständigkeitsabgrenzungen unter Ärzten mit unterschiedlichen Fachrichtungen gibt. Somit fühlen sich Fachärzte mit einer hohen fachgebietsübergreifenden Dominanz innerhalb einer Leistungsart nicht durch eine zunehmende Leistungserbringung von Ärzten anderer Fachgebiete angegriffen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Ärzte vielmehr daran interessiert sind, ihre fachgebietsübergreifende Dominanz bei den Leistungsarten auszubauen, wo eine niedrige fachgebietsübergreifende Dominanz vorliegt, anstatt Leistungsarten mit einer bestehenden hohen fachgebietsübergreifenden Dominanz zu erhalten.
Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis?
Die Studie von Chown [1] zeigt, dass Fachärzte auf finanzielle Anreize reagieren und somit, dass das eigene Interesse ein entscheidender Motivator in der ärztlichen Leistungserbringung ist. Damit finanzielle Anreize die gewünschte Wirkung erzielen, ist es von Bedeutung, die Charakteristika der fachärztlichen Leistungsbereiche zu verstehen. Wenn Gesundheitsorganisationen finanzielle Anreize als Steuerungsinstrument nutzen wollen, sollten sie sich darüber im Klaren sein, dass vor allem Leistungsarten, die häufig und regulär in der fachärztlichen Praxis angewendet werden, ein zielführender Anhaltspunkt sind. Bei der Anwendung von finanziellen Anreizsystemen ist jedoch langfristig darauf zu achten, dass keine Benachteiligung für einzelne Patientengruppen entsteht (z.B. Patienten mit seltenen und komplexen Erkrankungen). Aus diesem Grund sollte die Wirkung von finanziellen Anreizen auf das Gesundheitssystem regelmäßig und umfassend geprüft werden.
Neben einer Erhöhung der Leistungsvergütung gibt es in einigen Gesundheitssystemen (z.B. Italien) auch andere finanzielle Anreizoptionen zur Steuerung der ärztlichen Leistungserbringung, die ebenfalls einen positiven Effekt erzielen können ([3] – Link: Observerwissenschaftsbeitrag) und daher von Gesundheitsorganisationen ebenfalls als mögliches Steuerungsinstrument in Betracht gezogen werden sollten.
Die Studienergebnisse von Chown [1] lassen sich ebenfalls auf andere Industriezweige übertragen, wo Arbeitgeber (z.B. Anwaltskanzleien) das Verhalten von angestellten Fachkräften (z.B. Rechtanwälte) durch finanzielle Anreize bis zu einem gewissen Maß beeinflussen möchten, um die Unternehmensziele zu erreichen (z.B. Bonuszahlungen für die Aufnahme von mehr Immigrationsfällen).
Finanzielle Anreize können die ärztliche Leistungserbringung beeinflussen. Um jedoch die gewünschte Wirkung zu erzielen, ist es entscheidend, die fachgebietsspezifische und fachgebietsübergreifende Bedeutung der ärztlichen Leistungsbereiche zu verstehen. Finanzielle Anreize haben eine zielführende Wirkung, wenn Ärzte die betroffenen Leistungsarten häufig im Praxisalltag durchführen. Wenn Gesundheitsorganisationen finanzielle Anreize als Steuerungsinstrument verwenden, sollten die langfristigen Effekte regelmäßig überprüft werden, um keine Benachteiligung in der Patientenversorgung hervorzurufen.
Redaktion / Ines Niehaus
1. Chown, J., Financial Incentives and Professionals‘ Work Tasks: The Moderating Effects of Jurisdictional Dominance and Prominence. Organization Science, 2020. 31(4): p. 887-908.
2. Freidson, E., Professionalism: The Third Logic. 2001, Cambridge, UK: Polity Press.
3. Cifalino, A., Mascia, D., and Vendramini, E.A., Goal importance, use of performance measures, and knowledge exchange: An empirical study on general practitioners‘ performance. Health Care Management Review, 2020. 45(2): p. 117-129.
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