Vor-Ort-Apotheken & Arzneimittelinnovationen

Betriebswirtschaftliche Aspekte zur Apothekenvergütung

Dr. Frank Diener, Generalbevollmächtigter der Treuhand Hannover Steuerberatung und Wirtschaftsberatung für Heilberufe GmbH

Neue Arzneimittel verändern die Strukturen im verschreibungspflichtigen Teil der Arzneimittelversorgung, dem sog. RX-Markt. Dies geschieht nicht erst seit kurzem, sondern schon seit Jahrzehnten, aber mittlerweile mit wachsendem Tempo. Die betriebswirtschaftliche Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass im RX-Apothekenportfolio die Umsätze, Mengen und Preise im „Alt“-Arzneimittelsegment und im dazu komplementären Innovationssegment auseinanderdriften. Was bedeutet das für den Apothekenbetrieb? Welche betriebswirtschaftlichen Aspekte sollten beachtet werden? Wie ist es um das Niveau und die Balance von Erlösen, Kosten und Deckungsbeiträgen im RX-Markt bestellt?

 

Zerlegung des RX-Apothekenportfolios in „Alt-Arzneimittel“ und „Arzneimittelinnovationen“

Für die weitere Betrachtung bietet es sich an, das RX-Portfolio der Apotheken in zwei Segmente zu zerlegen:

  • Arzneimittelinnovationen sind neue Wirkstoffe, stets rezeptpflichtig, fast immer patentgeschützt und zum Teil sogar pharmazeutische Solitäre, zu denen es keine relevanten therapeutischen Alternativen gibt. Sie durchlaufen im Rahmen des AMNOG-Prozesses ein aufwändiges Verfahren der Nutzenbewertung und werden, je nach Ausmaß des dabei festgestellten Zusatznutzens, den sie gegenüber bisherigen Therapien haben, durchaus auch zu gesellschaftlichen „must haves“. Das quälende, weltweit als unerträglich empfundene Warten weiter Bevölkerungsteile auf die Covid-Impfstoffe hat das sehr verdeutlicht. Die „Innos“, wie sie im pharmapolitischen Jargon genannt werden, sind meist sog. „Hochpreiser“. Dabei handelt sich häufig um Arzneimittel, bei denen im Milliardenbereich liegende Forschungs- und Entwicklungskosten aufgrund enger Indikationsstellungen oft nur geringen Patientenzahlen gegenüberstehen und zudem die effektive Patentschutzzeit (also die Zeit zwischen Vermarktungserlaubnis und Schutzfristende) durch zeitintensive Zulassungsverfahren knapp bemessen ist. Im Effekt werden dann die F&E-Kosten auf geringe Packungsmengen umgelegt, so dass Innos vergleichsweise teuer sind. Das Wettrennen der verschiedenen Hersteller um die Covidimpfstoffe hat einer breiten Öffentlichkeit zudem verdeutlicht, wie riskant Investitionen in Pharmaforschung sind – manche sind trotz hoher Investments vor der Zulassung gescheitert oder kamen so spät auf den Markt, dass dieser bereits „verteilt“ war. Der mediale Fokus auf die Innos ist zwiespältig: Einerseits werden sie (siehe Covid) sehnsüchtig erwartet, aber wenn sie dann endlich vorhanden sind, werden der Patentschutz und die damit verbundene Gewinnmöglichkeit der Hersteller als sozial unanständig angesehen – die mediale Formel lautet dann „gutes Arzneimittel, aber böser Hersteller“. Manche Innovationen erhöhen sogar in den Qualitätsredaktionen unserer Medien den Blutdruck – man erinnere sich nur an die reißerischen Headlines zu Viagra („life style drug“), Sovaldi („teurer als Gold“) oder die süffisante Nennung der Adresse von Biontec („An der Goldgrube, Mainz“). 
  • Alt-Arzneimittel sind im RX-Portfolio der Apotheken das Gegenstück zu den Innos: Hier handelt es sich um alte, über viele Jahre bewährte und gut bekannte Arzneimittel, die zwar immer noch rezeptpflichtig sind, bei denen aber der Patentschutz abgelaufen ist. Oft gibt es zu ihnen im Markt verfügbare preisgünstige Generika oder Importarzneimittel. Hier sind die einmaligen F&E-Kosten des Patentanmelders, wie die Volkswirte sagen, „sunk cost“ – nach Patentablauf erlaubt es der Wettbewerb nicht mehr, diese auf die Packungen umzulegen. Nicht nur deshalb sind die deutschen Alt-Arzneimittel tendenziell „Niedrigpreiser“. In diesem Segment haben der Generikawettbewerb sowie die darauf aufsetzenden Systeme der Arzneimittelfestbeträge und Rabattvertragsarzneimittelausschreibungen – zusätzlich flankiert durch staatliche Herstellerpreisstopps – die Preise in den europäischen Keller reguliert. Wenn andere Länder mehr als Deutschland zahlen, vagabundieren die Arzneimittel nach der Zahlungsbereitschaft – die freie, EU-weite Güterarbitrage bei RX-Arzneimitteln ist ein fundamentaler Bestandteil der EU-Pharmagesetzgebung. Die deutsche Pharmapolitik ist seit den 80er Jahren aktiv darauf ausgerichtet, im Alt-Arzneimittelbereich Lieferengpässe in anderen, meist südeuropäischen Ländern zu verursachen – wir haben sogar bereits in den 90er Jahren gesetzliche verankerte Importarzneimittelquoten erfunden und als pharmapolitischen Geniestreich bejubelt. Seit ein paar Jahren kaufen jedoch die europäischen Freunde uns diese bewährten alten Arzneimittel immer häufiger weg. Das wird als unfreundlicher Akt empfunden. Sogar in den pharmakritischen Kreisen wird mittlerweile räsoniert, ob wir in Deutschland nicht doch etwas über das Ziel hinausgeschossen haben. Der Gesetzentwurf in Sachen Lieferengpassvermeidung versucht deshalb „ein klein wenig“ gegenzusteuern – und wird nach überwiegender Einschätzung bestenfalls auch nur „ein klein wenig“ Wirkung haben.

 

Datenbasis und Methodik

Zur Analyse der Entwicklungen benutzen wir eine eigens vom DAPI e.V. erstellte sog. Taxstudie zu den RX-Fertigarzneimittelabgaben der öffentlichen Apotheken an GKV-Versicherte in den Jahren 2011 bis 2022. Darin werden die sich gemäß AMPreisV ergebenden Apothekeneinkaufs- und Apothekenverkaufspreise sowie daraus resultierenden Handelsmargen in der GKV-Versorgung nach Preisklassen differenziert dargestellt. Damit werden zwar die Privat-RX-Verordnungen ausgeblendet, die Entwicklungstendenzen dürften aber mutatis mutandis zwischen GKV- und PKV-Rezepten vergleichbar sein.

Es gibt keine rechtlich oder mathematisch zwingend vorgegebene Preisgrenze zwischen dem niedrigpreisigen Altarzneimittel- und dem hochpreisigen Innovationssegment. Im Sinne einer pragmatischen Vorgehensweise setzen wir der Einfachheit halber einen Apothekenverkaufspreis (AVP ohne Umsatzsteuer) von 500 € als Grenze zwischen den beiden Segmenten an.

Des Weiteren benutzen wir aus den DAV-Wirtschaftsberichten 2011-2022 die Daten zum sog. Gesamt- und GKV-Teilbetriebsergebnis[1] der statistischen Durchschnittsapotheke.

 

RX-Produktspektrum: Innovationen spielen eine größere Rolle

Das Produktspektrum lässt sich anhand der Anzahl der Pharmazentralnummern (PZN)[2] darstellen, die für rezeptpflichtige Arzneimittel vergeben werden: Die Zahl der PZN mit einem AVP über 500 EUR  hat sich von knapp 4.300 in 2011 auf rund 8.600 in 2022 fast verdoppelt, die Zahl der Alt-Arzneimittel-PZN (mit einem AVP bis 500 EUR) ist dagegen von rund 50.000 auf rund 46.000 gesunken. Das Produktspektrum der Innos ist also deutlich größer geworden; ihr prozentualer Anteil am gesamten RX-Portfolio ist von 7,7 auf 15,0 % gestiegen.

 

Produktspektrum - Verdoppelung bei Innos, leichter Rückgang mit Alt-RX-Segment

 

Packungszahlen: Zunahme bei Innos, aber weiterhin Dominanz des Alt-RX-Segmentes

Die Zahl der verordneten GKV-RX-Packungen hat sich bei Innos von 6 Mio. in 2011 auf 10 Mio. in 2022 erhöht. Gleichzeitig ist die Packungszahl im Alt-Arzneimittelsegment von 566 auf 622 Mio. Packungen in 2022 gestiegen. Der Anteil der Innos an der Gesamt-GKV-RX-Packungszahl liegt bei nur 1,6 %. 98,4 % der GKV-RX-Packungen entfallen auf das Alt-Arzneimittelsegment. Gemessen an den Packungen spielt der Alt-Arzneimittelmarkt eine ungleich größere Rolle.

 

Umsatz: Innos auf dem Weg zur Umsatzparität

Der Bruttoumsatz im Innovationssegment ist von 8,5 Mrd. EUR in 2011 auf 23,1 Mrd. EUR in 2022 gestiegen. Der Umsatzanteil der Innos ist so von 29 % in 2011 auf 47,9 % in 2022 gewachsen. Die Dynamik im Alt-Arzneimittelmarkt ist dagegen deutlich geringer: Hier ist der Umsatz „nur“ von 20,5 auf 25,1 Mrd. EUR gestiegen und erklärt sich zum größten Teil durch die größere Packungszahl. Das Umsatzplus im Inno-Segment ist im Wesentlichen durch die Preise getrieben.

 

Buttoumsatz inkl. USt

 

Branchen-RX-Vergütung: marginaler Beitrag der Innos zum Gesamtrohertrag

Die Differenz zwischen dem Verkaufspreis (ohne Umsatzsteuer, die für den Handel nur eine an den Fiskus durchzureichende Größe ist) und dem Einkaufspreis ist ganz allgemein die Handelsmarge, auch Vergütung oder Rohertrag genannt. Das ist die betriebswirtschaftliche Manövriermasse des Handels.

In der GKV-Versorgung wird die Handelsmarge, die sich aufgrund der Arzneimittelpreisverordnung bei rezeptpflichtigen Arzneimitteln für die Apotheken ergibt, durch den GKV-Abschlag[3] vermindert, den sie qua SGB V den Krankenkassen zu gewähren haben. Hier zeigt sich, dass – für die Branche insgesamt – im Innovationssegment der Rohertrag von 244 Mio. EUR in 2011 auf 632 Mio. EUR in 2022 angestiegen ist. Dies ist zwar ein überproportionaler Anstieg im Vergleich zu den Alt-Arzneimitteln, was der von knapp 6 auf 12 % gestiegene Rohertragsanteil der Innos in der GKV-Versorgung indiziert. Das Gros der Apotheken-Handelsmarge entsteht jedoch nach wie vor in der GKV-Versorgung jedoch über die Alt-Arzneimittel.

 

Branchen Diagramme

 

 

Stückvergütung: Zwar Anstieg bei Innos, aber nur geringe Veränderung bei Alt-Arzneimitteln

Dividiert man die Branchenvergütung durch die Packungszahlen, ergebt sich die sog. Stückvergütung, auch Stückertrag genannt. Bei den Innos ist die Stückvergütung von knapp 40 EUR in 2011 auf über 63 EUR je Packung in 2022 gewachsen, doch angesichts der nur geringen Packungszahl ist der Gesamteffekt relativ überschaubar. Im Alt-Arzneimittelsegment, das über 98 % der Packungsmenge ausmacht, ist die Stückvergütung, die die Apotheken auf Grundlage der AMPreisV in der GKV-Versorgung erhalten, in den 11 Jahren von 2011 bis 2022 moderat von 7,04 auf 7,59 EUR je Packung gestiegen. Natürlich können die Apotheken versuchen, sich von ihren Vorlieferanten in der Wertschöpfungskette Einkaufsrabatte durch bestelleffizientes Verhalten und Mengenbündelung oder Skonti für schnelle Bezahlung zu holen, doch in Zeiten von Lieferengpässen ist dafür die Verhandlungsposition sehr schlecht geworden, zumal der pharmazeutische Großhandel wegen seiner ebenfalls seit 2013 nicht angepassten Margen dazu auch immer weniger in der Lage ist. Der Wortlaut der AMPreisV in § 78 AMG sieht explizit vor, dass die berechtigten Interessen der Apotheker vom Bundeswirtschaftsministerium in der AMPreisV zu berücksichtigen sind – eine vorsätzliche Unterfinanzierung im GKV-RX-Bereich mit Hinweis, die Apotheker könnten sich die fehlenden Deckungsbeiträge bei ihren Vorlieferanten erbetteln, liefe dem Wortlaut des AMG zuwider.

 

Stückvergütung Diagramme

 

Für das RX-Portfolio insgesamt, also Innos und Alt-RX zusammengenommen, ergibt sich eine Entwicklung der Stückvergütung von 7,13 EUR in 2011 auf 8,25 EUR in 2022, was einer jahresdurchschnittlichen Erhöhung von 1,4 % entspricht.

 

Stückbetriebskosten GKV-RX-Segment

Um die Stückgewinne durch Gegenüberstellung von Stückvergütungen und Stückkosten ausweisen zu können, müssen zunächst die Stückkosten ermittelt werden. Da in dieser Analyse die Stückvergütungen auf Grundlage der DAPI-Taxstudie zum GKV-Segment ermittelt wurden, verwenden wir für die Betriebskosten die Daten nicht zum Gesamtbetriebsergebnis, sondern zum „Teilbetriebsergebnis GKV“ der Durchschnittsapotheken.[4]

Die Stückbetriebskosten im GKV-RX-Segment insgesamt, also Innovations- und Altarzneimittelsegment zusammengenommen, sind von 2011 bis 2022 von 7,13 auf 8,75 EUR je Packung gestiegen.

 

Tax Diagramm

 

Stückgewinn im GKV-RX-Segment? Seit 2020 entstehen Stückverluste!

Saldiert man die Stückvergütung und die Stückkosten, ergibt sich für den Zeitraum von 2011 bis 2022 ein für viele vermutlich sehr überraschendes Bild. Beginnend bei einem Stückgewinn von 25 Cent je RX-Packung führte die Anpassung des Fixums bei der RX-Vergütung in 2013 zu einem Anstieg auf 0,91 EUR. In 2020 ist bei der GKV-RX-Versorgung aus dem Stückgewinn ein Stückverlust geworden, der in 2022 sogar schon 27 Cent je GKV-Packung beträgt. In 2023 wird sich dies weiter verschärfen, denn der erhöhte Kassenabschlag reduziert die Stückvergütung und gleichzeitig steigen inflationsbedingt die Stückkosten. Ceteris paribus wird beides zusammen in 2023 die Stückverluste in der GKV-Versorgung auf etwa 1 € je GKV-RX-Packung je Durchschnittsapotheke erhöhen.

 

Tax Stückgewinn Diagramme

 

Zwischenfazit

Für die Arbeitszeit, das Eigenkapital und die eigenen Immobilien, die von den Inhabern und Inhaberinnen in ihre Apotheken eingebracht werden, ist mit der in der AMPreisV vorgesehenen Apothekenvergütung in der GKV-RX-Versorgung seit 2020 keinerlei Vergütung entstanden.  Mehr noch: In der GKV-RX-Versorgung werden seit 2020 nicht einmal die steuerlich abzugsfähigen Betriebskosten der Apotheken gedeckt. Die GKV-RX-Versorgung ist defizitär und wird derzeit von den anderen Umsatzsegmenten und aus Einkaufskonditionen der Apotheken subventioniert.

Im hochpreisigen Innovationssegment spielen die umsatzvariablen Stückkosten eine herausragende Rolle, während hier die packungsbezogenen Fixkosten von nachrangiger Bedeutung sind. Im niedrigpreisigen Alt-Arzneimittelsegment ist es dagegen gerade umgekehrt: Hier sind die packungsbezogenen Fixkosten dominant und die umsatzvariablen Kosten weniger wichtig.

Die Entwicklung von Stückvergütungen und Stückkosten läuft im Niveau auseinander. Zugleich ist die Balance bei der Lastenverteilung zwischen dem Alt-Arzneimittel- und dem Innovationssegment verloren gegangen.

Wir müssen uns die Methodik der RX-Stückvergütung näher anschauen. Was ist der Status quo und was wäre betriebswirtschaftlich adäquat?

 

GKV-RX-Apotheken-Vergütung: Status quo und adäquate Optionen

Was ein betriebswirtschaftlich adäquates Apothekenvergütungsmodell leisten muss, kann mit dem Bild einer Waage verdeutlicht werden: Auf der linken Waagschale werden für das betreffende Portfoliosegment (z.B. GKV-RX) die Teilbetriebskosten zuzüglich des sog. „Unternehmerlohns“ [5]  gelegt. Auf der rechten Waagschale muss eine Vergütungsformel gefunden werden, die die Waage in die Balance bringt. Zur Gestaltung dieser Vergütungsformel auf der rechten Waagschale gibt es unendlich viele Möglichkeiten – weltweit vorherrschend sind jedoch Formeln, bei denen die Vergütungen einen wie auch immer gearteten Bezug auf die abgegebene Arzneimittelpackung nehmen, also Stückvergütungsmodelle.

 

Grundidee Waage

 

In Europa werden seit dem kaiserlichen Edikt in Jahr 1241 für die Apotheken Stückvergütungsmodelle angewandt. Seit dem Mittelalter werden sie in Deutschland als degressive „Arzneitaxen“ ausgestaltet, bei denen je Packung mit steigendem Apothekeneinkaufspreis (AEP) ein fallender prozentualer Aufschlagssatz hoheitlich vorgegeben wurde. Dieses System degressiv gestaffelter AEP-Aufschlagssätze wurde – mit verschiedenen technischen Ausgestaltungen – in Deutschland bis Ende 2003 benutzt, war jedoch schon Jahre zuvor zunehmend in die Kritik geraten: Die Kostenträger warfen den Apotheken vor, „Appendix der Pharmaindustrie“ zu sein und an der „doppelten Dynamik“ aus steigenden Herstellerpreisen und Packungszahlen ungerechtfertigt zu profitieren. Die Apotheker, die ihre Kompetenz in der Arzneimittelversorgung verstärkt genutzt wissen wollten, hatten das mediale Problem, nicht als vom Herstellerpreis unabhängige Sachwalter der Patienteninteressen wahrgenommen zu werden, was die Platzierung ihrer pharmazeutischen Dienstleistungsangebote gegenüber der Politik erschwerte. In Sommer 2003 wurde der Dialog dazu sehr intensiv.

Im Ergebnis dieser Diskussion wurde vom Gesetzgeber zum Jahresbeginn 2004 ein sog. „Kombimodell“ zur GKV-RX-Apothekenvergütung definiert. Dabei wurde je RX-Packung ein Fixzuschlag in Höhe von 8,10 EUR, ein Aufschlagssatz in Höhe von 3 % auf den Apothekeneinkaufspreis und – bei GKV-RX-Verordnungen – ein Abschlag von 2 EUR definiert. Der Fixaufschlag ist zur Deckung der fixen, der Prozentaufschlag zur Deckung der umsatzvariablen Stückkosten der Apotheken kalkuliert worden.[6] Die konsentierte Annahme war, dass 90 % der Stückkosten fixe Kosten sind und durch das Fixum gedeckt werden sollten. Die restlichen 10 % der Stückkosten sollten als umsatzvariable Kosten durch den 3%igen Aufschlagssatz auf den Apothekeneinkaufspreis gedeckt werden. Damit war zwar keine vollständige, aber doch eine sehr weit reichende Abkopplung der Apotheker vom Herstellerabgabepreis erreicht.

Es war schon im Sommer 2003 allen Beteiligten klar, dass bei einer hoheitlichen Fixierung der Stückvergütungen in einer sich inflationierenden Welt es für die Apotheken Anpassungen an die Stückkosten geben muss. Es wurden seinerzeit auch diverse Modelle zur Dynamisierung geprüft (Anpassung an „apothekenferne“ Größen wie das Bruttoinlandsprodukt, „GKV-nahe“ Größen wie Grundlohnsumme oder „apothekennahe“ Größen wie die Apothekenbetriebskosten), doch letztlich wurde eine regelhafte Anpassung, eine formelhafte Dynamisierung wegen des grundsätzlichen Indexierungsverbotes im Preisklauselgesetz[7] von der Regierung abgelehnt. In § 78 (1) Arzneimittelgesetz wurde jedoch eine Formulierung aufgenommen, die das Bundeswirtschaftsministerium ermächtigt, ohne Zustimmung des Bundesrates den Festzuschlag „entsprechend der Kostenentwicklung der Apotheken bei wirtschaftlicher Betriebsführung“ anzupassen. Eine explizite Verpflichtung des BMW zu einer regelmäßigen Überprüfung wäre übrigens nach wie vor zulässig.

 

Status-Quo Tabellen

 

Das Bundeswirtschaftsministerium hat seit 2004 die Ermächtigung nicht oft genutzt. Die Komponenten Fixum und Prozentaufschlag des Kombimodells wurden nur einmal angepasst: 2013 wurde das Fixum von 8,10 auf 8,35 angehoben – der Betriebskostenanstieg von 2002 bis 2012 wurde damit jedoch nur zu 10 % ausgeglichen.[8] Seither ist für die weiterhin gestiegenen Stückkosten keine Kompensation in der AMPreisV erfolgt. 2017 wurde per Schiedsstellenentscheid der Kassenabschlag auf 1,77 EUR inklusive USt abgesenkt, seit Februar 2023 ist dieser vom Gesetzgeber als „Apothekensparbeitrag“ wieder auf 2 EUR brutto erhöht worden. Zukünftige weitere Betriebskostensteigerungen sind schon absehbar: Lieferengpässe, Personal und Inflation sind die treibenden Faktoren.

 

Betriebskosten Tabellen

 

Die ausgebliebene Anpassung der Stückvergütung an das gestiegene absolute Niveau der Stückkosten ist nur ein Aspekt, wenn auch ein ganz zentraler. Ein anderer Aspekt ist die Frage, inwieweit die Traglast bei der Vergütungserzielung zwischen dem fixkostenlastigen Alt-RX-Segment und dem von variablen Kosten besonders belasteten Innovationssegment noch ausbalanciert ist. 2003 war Konsens, dass mit dem 3 %igen AEP-Aufschlag der umsatzvariable Kostenblock und mit dem Fixum der Fixkostenblick ausgeglichen werden kann. Mittlerweile kommen die erhöhten prozentualen Kosten wegen der verdoppelten Packungszahl bei Innos in größerem Umfang zur Geltung. Insofern ist es an der Zeit, nicht nur das Gesamtvergütungsniveau an die Kostensteigerungen anzupassen, sondern auch die Quotierung zwischen Fixum und %-Aufschlagsatz im Hinblick auf die Traglasten bei der Vergütungserzielung zwischen Alt-RX- und Innovationsegment zu überprüfen.

 

Fehlende Balance zwischen Alt-RX

 

 

Es besteht also Handlungsbedarf in Sachen Apothekervergütung.
Wie könnte es weitergehen?

Die ABDA hat die Idee ins Spiel gebracht, eine „für alle Apotheken gleiche Basisvergütung“ einzuführen und zusätzlich das Kombimodell anzupassen. Dass das eine durchaus praktikable Zukunftsoption ist, lässt sich anhand des bereits benutzten Bildes einer Waage veranschaulichen:

 

Zukunftsoption Waage

 

 

In die linke Waagschale werden die Gesamtkosten in zwei Kosten-Komponenten zerlegt:

  • Zum einen in regulativ bedingte Mindestkosten, also den obligaten Vorhaltekosten, die einer Apotheke zwingend entstehen, um die Betriebserlaubnis zu erhalten und zu behalten, die aber unabhängig von Umsatz und Absatz oder dem Portfoliosegment anfallen: hoheitlich vorgegebene Mindestanforderungen an Räume, Einrichtung, IT, Warenlager, Öffnungszeiten mit Präsenz pharmazeutischen Personals usw., deren Einhaltung auch von den Aufsichtsbehörden der Bundesländer überwacht wird. Im Prinzip wird dieser Ansatz derzeit auch im Bereich der zukünftigen Krankenhausfinanzierung diskutiert und ist im Prinzip auch die Grundidee des Nacht- und Notdienstfonds gewesen, mit dem die Vorhaltekosten des Nacht- und Notdienstes kompensiert werden sollten.
  • Zum zweiten in die operativ bedingten RX-Kosten, die sich nach Abzug der Vorhaltekosten von den Gesamt-RX-Kosten ergeben.

In die rechte Waagschale würden, zum Ausgleich der linken Waagschale, zwei Vergütungskomponenten gelegt:

  • Zum einen eine Vergütung für die Vorhaltekosten, also den regulativ bedingten Mindestkosten. Dieser Betrag könnte analog der NNF- und Dienstleistungsfondspauschale durch einen Euro-Aufschlag auf jede RX-Packung erhoben und dann an die Apothekenbetriebe ausgekehrt werden – lediglich das Vorhandensein einer Betriebserlaubnis wäre die Grundlage. Es steht also eine bewährte, verwaltungskostenminimale Mechanik zum Inkasso und Auskehrung zur Verfügung.
  • Zum anderen müsste für die operativ bedingten RX-Stückkosten das Kombimodell auf Basis der aktuellen Betriebskosten neu kalkuliert werden. Zu prüfen wäre auch, das bislang für alle Preisstufen einheitliche Kombimodell durch aneinander geschachtelte Kombimodelle zu ersetzen, also Teilmodelle z.B. für eine untere und eine obere, gegebenenfalls auch eine mittlere Preiszone mehrstufig zu schichten.

 

Erkenntnisse zur Apothekenvergütung

  1. Aktuell ist die sich aus der AMPreisV ergebende GKV-RX-Vergütung der Apotheken defizitär und wird von anderen Portfoliosegmenten und durch Einkaufsrabatte quersubventioniert.
  2. Eine zeitgemäß mit den Betriebskosten und beiden RX-Segmenten (Alt-Arzneimittel- und Innovationssegment) ausbalancierte, angemessene und faire Stückvergütung der Apotheken ist möglich.
  3. Die Niveauanpassung an das aktuelle Betriebskostenlevel ist dringend erforderlich – und: Sie könnte in regelmäßiger Taktung erfolgen!

 

 

[1] Die Daten zum Betriebsergebnis der statistischen Durchschnittsapotheke werden seit Jahrzehnten im DAV-Wirtschaftsbericht veröffentlicht und sind auch auf der Website der ABDA öffentlich verfügbar.

[2] Zu jedem zugelassenen Arzneimittel eines Herstellers werden von der Informationsstelle für Arzneimittelspezialitäten – IFA GmbH, Frankfurt, sog. Pharmazentralnummern (PZN) vergeben, mit denen der Hersteller für jedes seiner im Markt verfügbaren Fertigarzneimittel jeweils eine nach Packungsgröße, Wirkstärke und Darreichungsform differenzierende PZN erhält. Gesellschafter der IFA sind ABDA, BPI und PHAGRO. Die PZN ist in der pharmazeutischen Wertschöpfungskette das zentrale Erkennungsmerkmal für Arzneimittelpackungen. Die IFA-Datenbank wird 14-tägig aktualisiert.

[3] Der Kassenabschlag wurde vom Gesetzgeber im Februar 2023 von bislang 1,77 EUR inkl. USt (=1,49 EUR ohne USt) auf 2,00 EUR inkl. USt (=1,68 EUR ohne USt) erhöht.

[4] Zur Berechnungsmethodik: Der GKV-Umsatz wird bereits im Gesamtbetriebsergebnis separat ausgewiesen. Die „Teilbetriebskosten GKV“ werden aus den Gesamtbetriebskosten der Durchschnittsapotheke mit einer kombinierten Umsatz- und Packungsmethode ermittelt. Da eine vollständige Kostenzuordnung ausschließlich nach Umsatzanteilen oder ausschließlich nach Packungszahlen objektiv vorhandene Korrelationen entweder zwischen Packungen und Betriebskosten oder aber zwischen Umsatz und Betriebskosten ausblenden würde, ist eine Kombination dieser beiden betriebswirtschaftlichen Standardmethoden zur Betriebskostenzuordnung auf Teilsegmente probat.

[5] Als „Unternehmerlohn“ werden in der BWL die kalkulatorischen Kosten für vom Inhaber in seine Apotheke eingebrachte Zeit, Eigenkapitalien und Immobilien bezeichnet. Es handelt sich dabei um die Opportunitätskosten, also die Erträge, die der Inhaber erwirtschaften könnte, wenn er seine Zeit, sein Kapital oder seine Immobilie anderweitig als in seiner Apotheke investieren würde. Mit der Berücksichtigung des sog. Unternehmerlohns werden die Gewinn- und Verlustrechnungen von Personengesellschaften mit denen von Kapitalgesellschaften betriebswirtschaftlich vergleichbar gemacht.

[6] In den vom BMG im Sommer 2003 moderierten Gesprächen zu dem Kombimodell wurden dabei die Gesamtbetriebskosten in zwei Kategorien unterteilt. In fixe Kosten, die unterjährig aufgrund gegebener Verträge und Kündigungsfristen unabhängig vom Traffic in der Apotheke anfallen: Gehälter, Mieten, Abschreibungen auf Raum und Einrichtung, usw. Als variable Kosten wurden dagegen die Kosten definiert, die mit der Packungszahl und dem Umsatz variieren: Kreditkosten, umsatzabhängige Gebühren, Bruch-, Verfall und Retaxationsrisiken usw.

[7] Seinerzeit waren aufgrund des Preisklauselgesetzes Wertsicherungsklauseln u.ä. in Verträgen grundsätzlich verboten, Ausnahmen zu Preisanpassungsklauseln nur mit einem sog. Genehmigungsvorbehalt des BAFA (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle) möglich. Damit sollten die währungspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten der Bundesbank und EZB geschützt werden, die bei einer in vielen Branchen „durchindexierten“ Volkswirtschaft ins Leere laufen könnten.

[8] Zur Finanzierung des Nacht- und Notdienstfonds (NNF) wurde 2013 ein RX-Packungszuschlag in Höhe von 21 Cent je RX-Packung in der AMPreisV verankert, der jedoch kein unmittelbarer Bestandteil der Apothekenvergütung bei der RX-Arzneimittelabgabe ist, da er von der Apotheke nach dem Inkasso direkt an den NNF weitergeleitet werden muss.

 

 

Weitere Beiträge von Dr. Frank Diener:

„Nach ´zu` kommt ´ab`!“, Observer Gesundheit, 26. November 2019,

„Gewinne für Heilberufler“, Oberserver Gesundheit, 13. August 2018,

„2hm-Gutachten zur Apothekenhonorierung“, Observer Gesundheit, 3. Mai 2018.


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