Südkorea und die Corona-Krise

Dr. Robert Paquet

Die Corona-Pandemie führt den Blick in andere Länder. Dabei wird auch die Frage gestellt: Welchen Einfluss haben das Regierungssystem und die Organisation des Gesundheitswesens auf die mehr oder weniger erfolgreiche Bekämpfung der Krankheit. Die Beispiele von China und Südkorea liegen auf der Hand, weil sie Europa im Verlauf der Pandemie einige Monate voraus sind und offensichtlich Erfolg bei der Eindämmung der Infektionen haben. Bei China wird spekuliert, wieweit das diktatorische Regime und die staatliche Organisation des Gesundheitssystems dazu beigetragen haben. Bei Südkorea zeigt sich dagegen, dass auch ein Land mit einer nachhaltigen demokratischen Entwicklung und einem profitorientierten Gesundheitswesen sehr erfolgreich sein kann. Ein kaum zu unterschätzender Faktor ist dabei, dass das Land sehr früh entschlossen reagiert hat und damit die Infektionswelle bremsen konnte. Dadurch kam es nicht zu einer Überforderung des Versorgungssystems. Die Frühzeitigkeit der Maßnahmen hat jedoch auch Gründe in der Organisation des Gesundheitssystems. Doch zunächst ein Blick auf die Entwicklung der Corona-Krise.

 

Entwicklung der COVID-19-Pandemie in Südkorea[1]

Der erste Fall einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 in Südkorea wurde am 20. Januar 2020 bekannt. Es handelte sich um eine 35-jährige Chinesin mit Wohnsitz in Wuhan, die bei der Einreise aufgefallen war. Sie wurde sofort in die Isolierstation eines Krankenhauses gebracht, wo die Infektion diagnostiziert wurde. Bis zum 18. Februar 2020 stieg die Zahl der bekannten Infektionsfälle in Südkorea langsam auf 31 an, d.h., es wurde etwa eine Neuinfektion pro Tag registriert. Von den 31 Infizierten waren 13 kurz zuvor in der Volksrepublik China gewesen und 15 Personen waren mutmaßlich außerhalb Chinas infiziert worden.

Ab dem 19. Februar 2020 setzte ein rapider Anstieg der registrierten Fallzahlen ein. Ursächlich für diesen Anstieg war die Entdeckung eines Infektionsclusters in der südlich gelegenen Stadt Daegu. Die Infektionsfälle ereigneten sich anfänglich ganz überwiegend in der Shincheonji-Gemeinschaft, einer sektenähnlichen christlichen Kirche. In deren Gemeinde in Daegu infizierten sich die Gemeindemitglieder bei ihren Zusammenkünften gegenseitig, wobei wohl eine 61-jährige Superverbreiterin eine zentrale Rolle spielte. Am 24. Februar 2020 war Südkorea mit 883 bestätigten Infektionen das Land mit der höchsten Zahl an bekannten Infektionsfällen außerhalb Chinas.

Die hauptbetroffene Stadt ergriff Gegenmaßnahmen, schloss öffentliche Gebäude und verschob den anstehenden Schulbeginn. 180 Hochschulen und Universitäten in ganz Südkorea entschlossen sich in der Folge, den anstehenden Semesterbeginn zu verschieben. Das Bildungsministerium wies Schulen und Kindergärten zunächst an, den Beginn des neuen Schuljahres vom 2. auf den 23. März zu verschieben. Später erfolgte eine weitere Verzögerung des Schulstarts bis zum 9. April. Der Unterricht soll zunächst online stattfinden. Nachdem 35 % der Neuansteckungen in Südkorea nach Regierungsangaben auf Einreisende zurückzuführen waren, wurden zum 1. April die Quarantäne-Regelungen für Einreisende verschärft. Jeder Ankommende muss sich, unabhängig von der Nationalität für 14 Tage in überwachte Quarantäne begeben.

Südkorea hat vom Beginn der Epidemie an massiv auf Tests gesetzt. Bis zum 12. März 2020 wurden bereits etwa 210.000 Personen getestet. Infizierte wurden konsequent isoliert. Die Maßnahmen hatten Erfolg: Die südkoreanische Außenministerin Kang Kyung-wha erklärte am 15. März 2020, dass eine Stabilisierung der Lage zu beobachten sei, da die Zahl der Neuinfektionen seit drei Tagen geringer sei als die Zahl der von der Infektion geheilten Personen. Die im internationalen Vergleich außerordentlich niedrige Letalität der Epidemie in Südkorea sei vorrangig auf die großflächige Testung von Risikopersonen zurückzuführen. Seitdem nimmt die Zahl der Geheilten schneller zu als die Zahl der festgestellten Neuinfektionen: Am 6. April gab es nach Angaben des Koreanisches Zentrum für Krankheitskontrolle (KCDC) 10.284 kumulativ bestätigte Infektionen, 6.598 Geheilte und nur 186 mit Corona in Verbindung stehende Todesfälle.

Heftig diskutiert wird – nicht nur international, sondern offenbar auch in Südkorea selbst – das Verfahren, dass mit Apps und Websites vor Orten gewarnt wird, an denen sich die Infizierten nachweislich (mit ihrem Smartphone) aufgehalten haben. Die Datenschutz-Rechtslage erlaubt es der Regierung sogar, die Telefonnummern der am Virus erkrankten Personen in Erfahrung zu bringen und anhand der GPS-Daten Kontaktpersonen zu Tests aufzufordern.

Angesichts dieser Entwicklungen wurde die koreanische Gesundheitsversorgung nicht wirklich herausgefordert. Trotzdem lohnt ein Blick auf das Gesundheitswesen.

 

Das Gesundheitssystem in Südkorea

Informationen zum koreanischen Gesundheitssystem sind rar. Da kommt der Bericht „OECD Review of Public Health: Korea A HEALTHIER TOMORROW“[2] wie bestellt (erschienen zum 1. April)[3].

Zunächst einige Grunddaten: Südkorea hat 51,4 Mio. Einwohner (2018). Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 82,7 Jahren (2017). Es gibt 223 Ärzte pro 100.000 Einwohnern und 1.147 Krankenhäuser (11,5 Betten pro 1.000 Einwohner; Deutschland 8,3)[4]. 2018 gab Südkorea nach OECD-Angaben 3.192 US-Dollar pro Kopf für Gesundheit aus (einschließlich der privaten Zuzahlungen; in Deutschland waren es 5.986 US-Dollar)[5].

Dabei ist die Bevölkerung zurzeit noch relativ jung; Südkorea hat den demographischen Wandel noch vor sich. Der wird jedoch als dramatisch prognostiziert. 2017 lag der Anteil der über 65-Jährigen bei 13,8 Prozent und der Anteil der über 80-Jährigen bei 3,0 Prozent. Für das Jahr 2050 wird vorhergesagt, dass Südkorea mit 38 Prozent den höchsten Anteil der über 65-Jährigen in der OECD haben werde, mit 15,1 Prozent der über 80-Jährigen (S. 13).

Südkoreas Einwohner haben freie Arzt- und Krankenhauswahl. Dabei wird der größte Teil der Primärversorgung über die Krankenhäuser geleistet (2015: über 70 % der „out-patient-visits“) (S 48). Weitere 2,6 Prozent der Behandlungstermine finden in einem System von staatlichen Gesundheitszentren statt (254 Zentren, 1.335 Unterzentren, 1.905 „primary health posts“ etc.). Diese Einrichtungen werden vor allem von der ärmeren Bevölkerung aufgesucht und sollen auch die Versorgung auf dem Lande und in abgelegenen Gegenden sichern. Den Rest übernehmen niedergelassene bzw. angestellte Ärzte im ambulanten Bereich (oft in privatwirtschaftlich organisierten „Polikliniken“)[6], bei denen jedoch die fachärztliche Orientierung überwiegt; die OECD stellt daher als ein zentrales Problem heraus, dass Südkorea keine flächendeckende allgemeinärztliche bzw. Hausarztversorgung hat. Dabei liegt die Kontaktfrequenz mit 16,6 Arztbesuchen im Jahr weltweit an der Spitze (2017, OECD-Durchschnitt bei 6,8)[7].

Staatliche Kliniken gibt es nur für wenige Indikationen, „wo der private Markt dabei versagt, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen“, so etwa 17 psychiatrische Kliniken[8] und drei Tuberkulose-Einrichtungen (S. 44). Die übrigen Kliniken werden zu 90 % privat betrieben. Je nach Art der Leistung müssen Patienten zwischen 20 und 50 Prozent zuzahlen (S. 59). Das gilt für Krankenhaus- und ambulante Leistungen sowie für Arzneimittel. Im Jahr 2017 wurden in Südkorea 34,3 Prozent der Gesundheitsausgaben durch Zuzahlungen (out-of-pocket) getragen (OECD-Durchschnitt ca. 20 Prozent) (S. 46).

Besonders groß ist der Markt übrigens im Bereich der Schönheitschirurgie. Mit 13 Eingriffen auf 1.000 Einwohner ist Südkorea das Land, in dem die Menschen sich weltweit am häufigsten wegen ihres Aussehens unter das Messer legen. Auch ein Großteil der Medizintouristen reist nach Südkorea, um von der plastischen Chirurgie zu profitieren.“[9] Während fast alle anderen OECD-Länder Betten abgebaut haben, hat Südkorea hier seit 2010 noch weiter zugelegt. Der OECD-Bericht meint, dass die Anzahl vermeidbarer Krankenhausaufenthalte, also für Krankheiten wie COPD, Asthma und Diabetes, die im ambulanten Sektor gut betreut werden könnten – in Südkorea weit über dem OECD-Durchschnitt liegt (S. 20). Ein besonderes Problem ist, dass sich die Leistungsanbieter vor allem in den Metropolregionen konzentrieren; rund 50 Prozent der Bevölkerung leben im Großraum Seoul (S. 56).

Südkorea hat ein Sozialversicherungssystem, das seit seinem Aufbau ab 1964 viele Regelungen des deutschen Systems adaptiert hat. Eine öffentliche Krankenversicherung gibt es darin seit 1964 bzw.1977; seit 1989 ist sie Pflichtversicherung. Angefangen wurde mit der Versicherungspflicht für die Beschäftigten von Großunternehmen; später kamen die kleineren Unternehmen und die Selbständigen hinzu. Im Jahr 2000 wurden alle bis dahin eigenständigen Versicherungsträger zu einer einheitlichen Krankenversicherung zusammengefasst. Sie schützt 97,2 Prozent der Bevölkerung, während 2,8 Prozent von einem „Medical Aid Program“ für die Bedürftigen erfasst werden. Für dessen Kosten kommt der Staat auf. Die Beiträge werden hälftig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern entrichtet. Für die Krankenversicherung werden jeweils rund drei Prozent des Bruttolohns fällig[10]. Außerdem gibt es seit 2008 eine Pflegeversicherung (long-term-insurance) mit fünf Pflegegraden, die allerdings noch im Aufbau ist (S. 46).

Das Gesundheitssystem in Südkorea ist hoch entwickelt und entspricht weitgehend den westlichen Standards. „In die Schlagzeilen kam es in jüngerer Vergangenheit lediglich aufgrund des Ausbruchs der Seuche MERS (Middle East Respiratory Syndrom). Ein Großteil der Infektionen geschah in den Krankenhäusern, weswegen die Regierung Maßnahmen forcierte, die Quarantäneeinrichtungen in den Hospitälern zu verbessern und striktere Kontrollen bei ausländischen Besuchern durchzuführen.[11]

 

Hohe Wertschätzung der personalisierten Medizin

Eine weitere einschneidende Erfahrung für das Gesundheitswesen waren die massiven Mängel, die das Fährunglück der Sewol im Jahr 2014 sichtbar werden ließ. Beides hat dazu geführt, dass das zuständige Ministerium des Inneren und für Sicherheit (MOIS) – in enger Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Gesundheit und Wohlfahrt – die Krisenpläne weiterentwickelt hat. Damit waren erhebliche Investitionen verbunden, auch für Equipment zur Infektionskontrolle. Die ohnehin zentralstaatliche Regulierung wurde institutionell angepasst; die Kooperation von Zentralregierung, regionalen und lokalen Behörden wurde – unter Einbeziehung der (privaten) Krankenhäuser – klar geregelt. Die Informations- und Meldewege wurden zentralisiert und vereinheitlicht. Das MOIS wurde zur zentralen Institution „für emergency preparedness“ (S. 30f.). Der OECD-Bericht meint zwar, hier werde immer noch nicht genug getan („unfinished agenda“), bemerkenswert ist aber, dass seit mehreren Jahren dezentral viele und regelmäßige Notfall-Übungen stattfinden (einmal jährlich auch auf nationaler Ebene – „larg scale drill“), die zur Verbesserung der Informations-, Kommunikations- und Koordinationsverfahren beitragen (S. 159). Besonderes Augenmerk wurde – angesichts der MERS-Epidemie – auf die Gewinnung von Infektions-Spezialisten und deren Training gelegt (S. 31).

Eine weitere Besonderheit des südkoreanischen Gesundheitssystems war möglicherweise in der aktuellen Krise hilfreich: die hohe Wertschätzung der personalisierten Medizin, der Genom-Forschung und entsprechender Tests. Die Hoffnung auf signifikante Fortschritte in der Medizin durch diese Möglichkeiten ist sehr verbreitet, wird durch den Staat massiv gefördert und ist bei der Bevölkerung populär. „Direct-to-consumer genetic (DTC) testing“ sei in Südkorea sehr beliebt, weiß der OECD-Bericht (S. 11).

 

Ergebnis

Südkorea hatte bei der Reaktion auf die Corona-Krise viel Glück. Möglicherweise war die schnelle Entdeckung eines Krisen-Hotspots sogar günstig, weil sie den frühestmöglichen Warnschuss für Gegenmaßnahmen ausgelöst hat. In dieser Hinsicht gab es allerdings eine gute Vorbereitung. Die staatlichen Instanzen waren handlungsfähig und haben schnell und entschlossen reagiert (hier kann der deutsche Föderalismus noch was lernen). Ein ausgebautes Gesundheitssystem mit zahlreichen Testlabors hat sicher auch geholfen, Schlimmeres zu verhüten.

So kann man vielleicht feststellen: Auch Demokratien können auf Pandemien gut vorbereitet sein, wenn sie den Notfall üben, die richtigen Maßnahmen ergreifen und die Institutionen abgestimmt (re-)agieren. Ein weitgehend privatwirtschaftlich organisiertes Gesundheitssystem kann – bei rechtzeitiger Mobilisierung – die Herausforderungen einer Pandemie bewältigen. Für den Ruf nach einer Verstaatlichung der Kliniken gibt es derzeit keinen Grund, außer den, dass die Linken das schon immer gefordert haben[12].

 

[1] Die Darstellung des Sachstands folgt: https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_S%C3%BCdkorea (abgerufen am 6.4.2020).

[2] https://www.oecd.org/health/oecd-reviews-of-public-health-korea-be2b7063-en.htm. Die folgenden Informationen folgen diesem Bericht.

[3] Die folgenden Seitenangaben beziehen sich – soweit nicht anders angegeben – auf diese Publikation.

[4] https://www.indexmundi.com/g/r.aspx?v=2227&l=de (abgerufen am 6.4.2020)

[5] https://www.oecd-ilibrary.org/sites/4dd50c09-en/1/2/7/1/index.html?itemId=/content/publication/4dd50c09-en&_csp_=82587932df7c06a6a3f9dab95304095d&itemIGO=oecd&itemContentType=book

[6] Von den rund 120.000 in der Versorgung tätigen Ärzten sind rund 24.000 Ärzte der „traditionellen koreanischen Medizin“, die sehr anerkannt ist.

[7] Bei solchen Zahlen muss regelmäßig auf die unterschiedliche Zählweise hingewiesen werden; werden tatsächliche Kontakte (mit dem Arzt selbst oder der Praxis) oder „Abrechnungsfälle“ gezählt?

[8] Korea hat die höchste Selbstmordrate der OECD-Länder.

[9] Anne-Katrin Schulz, Pressesprecherin der BDAE-Gruppe: https://www.versicherungsbote.de/id/4850764/Suedkorea-Krankenversicherung-Gastbeitrag-BDAE/ (abgerufen am 6.4.2020)

[10] Anne-Katrin Schulz, a.a.O.

[11] Anne-Katrin Schulz, a.a.O.

[12] Der wirtschaftspolitische Sprecher der LINKEN im Bundestag, Klaus Ernst, am 30.3. in seiner Presseerklärung; auch im Beschluss des Parteivorstandes DIE LINKE vom 28. März 2020, ergänzt durch die Beschlüsse 2020/53 A und 2020/53 B vom 4. April 2020: https://www.die-linke.de/partei/parteistruktur/parteivorstand/2018-2020/beschluesse/detail/news/solidarisch-aus-der-krise-menschen-vor-profite/, aber auch Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in den DFL-Nachrichten am 3. April (https://www.deutschlandfunk.de/corona-krise-arbeitsminister-heil-krankenhaeuser-wurden.2932.de.html?drn:news_id=1117201) (abgerufen am 6.4.2020)


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