Stationär vor ambulant!

Rückwärtsgewandte Gesundheitspolitik setzt sich durch

Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi)

In seinem Handbuch für gute Regierungsführung rät schon der italienische Philosoph und Diplomat Niccolo Macchiavelli, notwendige Einschnitte oder gar Grausamkeiten unmittelbar nach Regierungsantritt vorzunehmen. Im Anschluss daran könne der Fürst Wohltaten verteilen, an die sich das Volk dann erinnern werde.

Diesen historischen Rat ignorieren die gegenwärtigen Koalitionäre nicht nur. Im Gegenteil: Sie wollen zuerst scheinbare Wohltaten verteilen, wohl in der Hoffnung, eine Folgeregierung möge sich dann mit Einschnitten beschäftigen. Das wird sich aber nicht auszahlen! Vielmehr dürften die so geweckten Erwartungen schon in dieser Legislaturperiode nicht erfüllt werden können.

 

Knappe Ressourcen werden versenkt

Dies wird in der Krankenhauspolitik absehbar der Fall sein. Allen Beteiligten ist klar, dass es in der stationären Versorgung in Deutschland einer Strukturreform bedarf, um mit den eingesetzten Mitteln mehr Versorgungsqualität zu erreichen. Weniger Fälle in weniger Krankenhäusern würden bei der im internationalen Vergleich sehr guten Personalausstattung der Krankenhäuser zu einem überaus vorteilhaften Verhältnis von Pflegepersonal bzw. Ärzten je Fall führen. Die Versorgung könnte an Standorten konzentriert werden, die dann auch baulich, technisch und personell gut ausgestattet sind. So das von Experten ausgearbeitete Konzept, das mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) dem Grunde nach auch gesetzestechnisch auf den Weg gebracht wurde.

Von einer beherzten Fortführung dieses Gedankens scheint die Politik aktuell aber weiter entfernt denn je. Vielmehr werden knappe Ressourcen versenkt, um eine nicht zukunftsfähige Struktur zu stabilisieren. Wie der Krankenhaus-Ratingreport 2025 jüngst erneut bestätigt, erreichen die stationären Fallzahlen weiterhin nicht das prä-pandemische Niveau des Jahres 2019, während die Personalstärke weiter steigt. Anstatt strukturelle Fallzahlrückgänge zu nutzen, um Versorgungsangebote zu konzentrieren, werden nun die hierdurch bedingten Einnahmeausfälle vorübergehend durch einen Ausgleich der Inflation in zurückliegenden Jahren überdeckt. Dieser Ausgleich kommt allerdings ausnahmslos allen Häusern in gleicher Weise zugute. Vier Milliarden, schuldenfinanziert, sollen dazu im kommenden Jahr in Form eines pauschalen Aufschlags von 3,45 Prozent verteilt werden. Das bedeutet Windfallprofits für Häuer in der Gewinnzone und kann ein Hinausschieben notwendiger Reformmaßnahmen bei den anderen begünstigen.

Zudem wird der Bund in den kommenden vier Jahren statt der ursprünglich geplant 2,5 Milliarden nun 3,5 Milliarden Euro jährlich über den Krankenhaustransformationsfonds bereitstellen. Der Anteil der Länder am Fonds reduziert sich entsprechend. Hierbei ist nicht ausgeschlossen, dass die mit Schuldenaufnahme finanzierten Mittel, um Strukturvoraussetzungen zu erreichen, auch Häusern zu Gute kommen, die bei stringenter Planung unter den Vorzeichen einer Konzentration stationärer Versorgungsstrukturen eher geschlossen als aufgerüstet werden sollten.

Dies alles geschieht vor dem Hintergrund der ohnehin überproportionalen Ausgabensprünge der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für die stationäre Behandlung in Krankenhäusern. Während die GKV von 2020 bis 2024 6,1 Milliarden Euro (13,9 Prozent) mehr für ambulante Versorgung (inkl. z.B. der Instituts- und Hochschulambulanzen) ausgab, stiegen die GKV-Ausgaben für Krankenhäuser um 20,2 Milliarden Euro (24,8 Prozent). Dabei sind die Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung der Vergütung sektorspezifisch sehr unterschiedlich festgelegt. Für Kliniken gilt seit Jahren, dass die Preise für stationäre Leistungen jährlich mindestens nach Maßgabe der Entwicklung der Personal- und Sachkosten, ermittelt anhand von Indizes durch das Statistische Bundesamt, angepasst werden. Liegt die GKV-Einnahmeentwicklung darüber, gilt der Bestwert.

 

Politik hat volles Verständnis für Krankenhäuser

Bereits diese Konstellation führte dazu, dass der Orientierungswert für die Vergütung stationärer Leistungen in den letzten 15 Jahren im Mittel doppelt so stark gestiegen ist wie der für vertragsärztliche Leistungen – während letzterer in der Regel mit der allgemeinen Inflationsrate kaum Schritt halten konnte. In den Jahren 2019 bis 2023 stieg die Inflationsrate nahezu doppelt so stark wie der Orientierungswert für vertragsärztliche Leistungen. Der hierdurch entstandene basiswirksame Realverlust ist nicht ausgeglichen worden. Gleichzeitig sind die Löhne für Mitarbeitende in den Praxen überproportional und damit gegenüber der Geldentwertung real gestiegen.

Für Krankenhäuser hatte der Gesetzgeber in dieser Lage volles Verständnis. Seit 2024 gilt für diese, dass tarifvertragliche Anpassungen im Bereich des Pflegepersonals und des ärztlichen Dienstes, die den Orientierungswert übersteigen, zu 100 Prozent von der GKV basiswirksam übernommen werden müssen. Zudem soll für unterjährig in Kraft getretene Änderungen binnen vier Wochen eine ebenfalls basiswirksame Anpassung des Basisfallwerts vorgenommen werden. Perspektivisch muss sich folglich die Vergütung stationärer Leistungen noch stärker von der Vergütung ambulanter Leistungen entfernen. Wer also eine sektorale „Versäulung“ des deutschen Gesundheitswesens beklagt und lamentiert, den Krankenhäusern stünde die ambulante Versorgung nicht offen, muss sich zur Aufklärung der Ursachen an den Rat des Informanten ‚deep throat‘ aus der Watergate Affäre halten: „Follow the money!“

Ex-Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat quasi noch auf dem Weg aus dem Ministerium der Ambulantisierung stationärer Leistungen einerseits ein großes Mengenziel und andererseits die Anpassung an die vertragsärztliche Vergütung nach Einheitlichem Bewertungsmaßstab (EBM) als Entwicklungsperspektive mitgeben. Folglich dürfte die Ambulantisierung bei sektorgleicher Vergütung für Krankenhäuser noch unattraktiver werden, als es die rein organisatorische Integration ambulanter Leistungen in den Krankenhausbetrieb ohnehin schon ist. Weder Krankenhäuser noch selbständige oder angestellte Niedergelassene werden so diese sektorengleich vergüteten Leistungen erbringen können. Vielmehr sind Ausweichstrategien zu erwarten, wie diese dennoch mit einer höheren vollstationären Vergütung erbracht werden können.

 

Kein Wunder: zunehmende Lücken in Regelversorgung

Wer die Erbringung stationärer Leistungen im System der GKV so systematisch und nachhaltig bevorteilt, muss sich nicht wundern, wenn sich in der für die Regelversorgung der Bevölkerung weitaus wichtigere Versorgung in den Praxen (darunter mehr als 2.300 von Krankenhäusern geführte MVZ) zunehmend Lücken auftun. Wer dann beträchtliche Ressourcen aus Sondervermögen in den Erhalt einer letztlich damit reformunfähigen Krankenhausstruktur versenkt, wird für die Erneuerung der wohnortnahen ambulanten Versorgung kaum noch Kraft aufbringen. Der medizinisch und ökonomisch sinnvolle Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘ wird so aktuell ins Gegenteil verkehrt. Mit einem „Praxis-Zukunfts-Gesetz“ hingegen könnte die Politik die ambulante Versorgung personell, technisch und digital aufwerten und als Fundament der medizinischen Versorgung neben einer neu geordneten Krankenhauslandschaft positionieren.


Observer Gesundheit Copyright
Alle Kommentare ansehen