Solidarische Neuausrichtung der Pflegeversicherung

Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit

Die letzte große Pflegereform hat zweifelsfrei für viele Betroffene und ihre Angehörigen Leistungsverbesserungen gebracht. Dennoch gibt es weiteren Reformbedarf in der Pflegeversicherung.

 

Hoher Anstieg der Eigenanteile gefährdet Akzeptanz der sozialen Pflegeversicherung

Wer in einem Pflegeheim lebt, muss immer mehr aus der eigenen Tasche bezahlen. Seit Einführung der Pflegeversicherung vor 24 Jahren hat sich der durchschnittliche Eigenanteil nahezu verachtfacht. So ist dieser nach Berechnungen von Prof. Heinz Rothgang mittlerweile auf 600 Euro monatlich gestiegen.

Zu den steigenden Eigenanteilen für die Pflege kommen Kosten für Unterkunft, Verpflegung und die sogenannten Investitionskosten des Heimträgers. Insbesondere den pflegenden Angehörigen, die ohnehin durch die Pflegesituation stark gefordert und auch häufig psychisch sehr belastet sind, werden die steigenden Eigenanteile zunehmend zu einer schwer schulterbaren Herausforderung.

Die Höhe der Eigenanteile variiert von Heim zu Heim und fällt von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich aus. Hauptgrund dafür sind die Unterschiede bei den Personalkosten, die etwa 80 Prozent der Heimbudgets ausmachen. Am tiefsten in die eigene Tasche greifen müssen demnach die Pflegebedürftigen in Nordrhein-Westfalen. Dort kostet ein Heimplatz die Betroffenen im Schnitt 2.252 Euro im Monat. Es folgt das Saarland mit 2.194 Euro. Im Mittelfeld liegen unter anderem Bremen (1.725 Euro) und Hessen (1.684 Euro). Die Kosten für Heimplätze sind in Sachsen und Sachsen-Anhalt derzeit noch moderat, steigen in diesen Ländern jedoch vergleichsweise am stärksten.

Durch die hohen Eigenanteile geraten Betroffene zunehmend in die Abhängigkeit von Sozialhilfeleistungen. Das ist völlig inakzeptabel und widerspricht zudem der ursprünglichen Intention der Pflegeversicherung: Menschen, die ein Leben lang gearbeitet und in die Sozialsysteme eingezahlt haben, sollten nicht mehr von Transferleistungen abhängig sein. Darüber bestand bei der Einführung der Pflegesicherung ein breiter gesellschaftlicher Konsens.

Eine Sozialversicherung, die ihre Versicherten nicht verlässlich vor Sozialhilfebedürftigkeit schützt, verliert ihre Legitimation. Sozialhilfe sollte im deutschen Sozialstaat nur dann notwendig werden, wenn die anderen Systeme nicht greifen. Vor diesem Hintergrund fordert die DAK-Gesundheit eine solidarische Neuausrichtung der Pflegeversicherung. Ziel ist es, den Eigenanteil zu deckeln und damit das finanzielle Risiko für die Betroffenen kalkulierbar zu gestalten. Zudem sollte eine Pflegeinfrastrukturgarantie dafür sorgen, dass gleichwertige Lebensverhältnisse für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen unabhängig von der Region bestehen. Schließlich sollte ein Zuschuss aus Steuermitteln für versicherungsfremde Leistungen die Pflegeversicherung entlasten.

 

Zielführender Reformvorschlag: „Sockel-Spitze-Tausch“ mit fixen Eigenanteilen

Damit Pflegebedürftigkeit künftig nur noch in Ausnahmefällen mit dem Gang zum Sozialamt verbunden ist, schlägt die DAK-Gesundheit eine Umkehr der Finanzierungssystematik vor. Bisher übernimmt die Pflegeversicherung die Kosten nur je nach Pflegegrad bis zu einer gewissen Höhe, den Rest zahlen die Pflegebedürftigen oder deren Familien. Künftig sollte der Eigenanteil gestaffelt nach Pflegegraden gedeckelt werden. Es gäbe dann einen einheitlichen maximalen Betrag, den Pflegebedürftige oder deren Angehörige zahlen. Alle Kosten für die Pflege, die darüber hinausgehen, würde die Pflegeversicherung tragen. Dazu haben die Pflegewissenschaftler Prof. Heinz Rothgang aus Bremen und Prof. Thomas Klie aus Freiburg bereits erste Konzepte entwickelt.

Klar ist, dass eine solche Systematik Gefahren des Missbrauchs birgt. Leistungserbringer im stationären sowie im ambulanten Bereich könnten versuchen, eine unwirtschaftliche Inanspruchnahme zu stimulieren. Hier gilt es Mechanismen zu entwickeln, die eine Inanspruchnahme auf das Notwendige begrenzen.

Das Wesentliche des Sockel-Spitze-Tausches ist, dass der Eigenanteil für Pflegebedürftige und deren Angehörige kalkulierbar wird. So wäre es beispielsweise möglich, durch eine private Zusatzversicherung den Eigenanteil finanziell abzusichern oder durch private Rücklagen ein entsprechendes Finanzpolster anzusparen.

 

Zu große regionale Unterschiede nicht akzeptabel

Der kürzlich vorgestellte DAK-Pflegereport verdeutlicht nicht nur die starken regionalen Preisunterschiede, insbesondere bei den Pflegeheimen, sondern offenbart auch deutliche Qualitätsunterschiede zwischen den Regionen. So sind die Gestaltungsmöglichkeiten von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen in einem hohen Maße von ihrem Wohnort abhängig. Das ist nur schwer mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz gleichwertiger Lebensverhältnisse vereinbar.

Um dies zu ändern, bedarf es einer Pflegeinfrastrukturgarantie. In einem ersten Schritt dazu muss das Thema „Gute Pflege“ auf die Tagesordnung der Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter Federführung des Bundesinnenministeriums gesetzt werden. Hier sollten die Elemente und Strukturvoraussetzungen, die für gute Pflege vor Ort vorhanden sein sollen, beschrieben und konsentiert werden. Auf dieser Basis könnten schließlich Mindeststandards für eine gute Pflegeinfrastruktur festgelegt werden.

 

Bundeszuschuss auch sachgerecht in der Pflegeversicherung

Klar ist: Die hier skizzierte solidarische Neuausrichtung der Pflegeversicherung gibt es nicht zum Nulltarif. Die bereits beschlossene Anhebung des Beitrages um 0,5 Prozentpunkte ab 2019 wird dazu nicht ausreichen. Daher wäre ein Bundeszuschuss aus Steuermitteln, wie in anderen Systemen der Sozialversicherung, sinnvoll. Weil Leistungen der Altenpflege, wie beispielsweise die Beitragszahlungen zur Rentenversicherung für Pflegepersonen, teilweise einen gesamtgesellschaftlichen Charakter tragen, ist es sinnvoll, ähnlich der Krankenversicherung eine Mitfinanzierung aus dem Steuertopf vorzunehmen. So könnte der Bund 2020 in die Mitfinanzierung der Pflegeversicherung einsteigen und seine Zuschüsse jedes Jahr um 700 Millionen Euro steigern, bis 2024 rund 3,5 Milliarden Euro pro Jahr erreicht sind. Das entspräche zehn Prozent der Ausgaben der Pflegeversicherung.

Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden demographischen Entwicklung der nächsten Jahrzehnte muss es jetzt darum gehen, Betroffene vor finanzieller Überforderung zu schützen, ihre Gestaltungsmöglichkeiten für ein gutes Leben mit Pflegebedürftigkeit zu erhöhen und die Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung zu stabilisieren.


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