Sektorenübergreifende Versorgung – eine Einordnung

Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a. D.

Sieht man von den tagesaktuellen, meist Corona-bedingten Themen und den üblichen rückblickenden Analysen auf das Geschehen der letzten Legislaturperiode im Gesundheitswesen ab, dominiert in der aktuellen gesundheitspolitischen Debatte die Positionierung für die nächste Legislaturperiode. Dabei werden vorrangig die finanziellen Perspektiven für die gesetzliche Krankenversicherung, die Notwendigkeit einer grundlegenden Krankenhausreform und die weitere Digitalisierung benannt. Ebenso häufig finden sich Bekenntnisse zum Aus- und Aufbau einer sektorenübergreifenden Versorgung. So weit, so konsensual. Aber hinter dem Begriff einer „sektorenübergreifenden Versorgung“ (süV) werden völlig unterschiedliche Erwartungen, teilweise in Form eher grundlegender Vorstellungen, teilweise aber auch bereits in detaillierter Ausarbeitung, subsumiert. Es ist von daher an der Zeit, diese Vielfalt etwas zu ordnen und zu kategorisieren, um mehr Klarheit über das Gewollte herzustellen.

 

Ein Potpourri von Ideen und Schlagwörtern

Der Blick zurück auf die ausgehende Legislaturperiode und eine Auswertung der verschiedenen Parteiprogramme für die kommende Bundestagswahl zeigen, dass das Spektrum der Vorstellungen, wo, wie und was als sektorenübergreifende Versorgung erreicht werden kann, weit auseinanderliegen. Im Koalitionsvertrag 2018 wurde Wert daraufgelegt, die unterschiedlichen Grundlagen (von der Finanzierung über die Dokumentation bis hin zur Qualitätssicherung) der verschiedenen Sektoren in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe zusammenzuführen und so eine institutionell übergreifende, gemeinsame Plattform für eine künftige süV herzustellen.

In allen aktuellen Wahlprogrammen der relevanten Parteien finden sich Aussagen zur süV in den jeweiligen gesundheitspolitischen Kapiteln wieder, allerdings eher im Grundsätzlichen oder mit einem starken Fokus auf der Einrichtung von Gesundheitszentren. Ein klares Konzept, wie diese Ziele erreicht werden sollen, hat keine Partei ausgearbeitet.

Einige Beispiele für unterschiedliche Konkretisierungen und Ansatzpunkte:

  • So spricht die CDU/CSU von einer „vernetzte Zusammenarbeit der einzelnen Akteure“,
  • die SPD mahnt eine „Überwindung der Sektorengrenzen“ an,
  • die FDP lehnt sich mit dem Begriff der „Integrierte Gesundheitszentren“ an das von der KBV beauftragte Gutachten von Oberender an,
  • und die Grünen scheinen sich in ihrer Terminologie von „regionalen Versorgungsverbänden von gemeinwohlorientierten regionalen Gesundheitszentren“ auf jüngst von Optimedis veröffentlichte Vorstellungen zu beziehen.

Aber auch die anderen Player im Gesundheitswesen bekennen sich in ihren gesundheitspolitischen Statements zur Bundestagswahl klar zur süV, teilweise abstrakt, teilweise mit sehr konkreten Vorstellungen. Dies trifft beispielsweise für fast alle Krankenkassenverbände ebenso zu wie für bestimmte Berufsgruppen oder wissenschaftlichen Experten. Auffallend ist, dass sich viele Statements um das Stichwort von „Gesundheitszentren“ gruppieren, dabei jedoch meist in dem vorausgehenden Adjektiv unterschiedliche Vorstellungen ausdrücken (regionale Gesundheitszentren, interdisziplinäre Gesundheitszentren, Stadtteil-Gesundheitszentren, lokale Gesundheitszentrum zur Primär und Langzeitversorgung, ambulant-stationäres Zentrum, interdisziplinäres Primär-Versorgungszentren und so weiter).

Auch die beiden jüngst geschlossenen Koalitionsverträge in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg widmen sich prominent der vernetzten Medizin mit jeweils eigenen Abschnitten. So will Rheinland-Pfalz „übergreifenden Gesundheitszentren der ambulanten, teil- und kurzzeitstationären sowie pflegerischen Versorgung“ aufbauen, und Baden-Württemberg hat die Absicht, „die flachendeckende Einrichtung von interdisziplinären Primärversorgungszentren“ voranzutreiben. Wenn man dazu noch die politisch geeinten, aber wegen der Pandemie nicht umgesetzten Zwischenergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „sektorenübergreifende Versorgung“ aus der auslaufenden Legislaturperiode hinzudenkt, wird das Spektrum der Möglichkeiten zur Verbesserung einer süV noch breiter.

 

Drei Varianten der sektorenübergreifenden Versorgung

Um eine gewisse Orientierung zu ermöglichen, können die unterschiedlichen Vorstellungen über die Realisierung einer süV nach den jeweiligen Zielgruppen in drei Gruppen aufgeteilt werden. Für jede dieser drei Kategorien gibt es inzwischen theoretische Herleitungen, aber durchaus auch weitergehende Konkretisierungen oder teilweise auch „Prototypen“ für eine sektorenübergreifende Versorgung, die hier nur beispielhaft gestreift werden können.

 

1. Modelle einer institutionellen süV

Bekanntermaßen hat bereits der Sachverständigenrat (SVR) 2008 ebenso wie viele andere Organisationen vorher (die älteste mir bekannte Überlegung zur Neuordnung der Sektoren stammt aus dem Jahr 1975 von Prof. Erwin Jahn) die Inkompatibilität zwischen den verschiedenen Sektoren kritisiert. Der SVR spricht von einer trennenden Mauer zwischen der ambulanten und stationären Versorgung, die es zu schleifen gilt. Ziel dieses Ansatzes ist es, Freiräume zu schaffen, die eine sektorenübergreifende Versorgung ermöglichen und insofern die Schnittstellen vermindern.

 

… mit dem Prinzip von Freiwilligkeit

Bezüglich einer institutionellen süV kann man auf viele Beispiele im SGB V zurückblicken, in denen gesetzgeberisch über Modell-Maßnahmen punktuell versucht wurde, kleine Löcher in die Mauer zwischen den Sektoren (insbesondere zwischen Klinik und Praxis) zu schlagen. Dies begann 1955 mit der Möglichkeit zur Ermächtigung von Krankenhausärzten zur ambulanten Leistungserbringung und endete zuletzt im GVWG mit der Reform der erweiterten besonderen Versorgung nach § 140 a SGB V. Aber alle diese mehr als zwei Dutzend Möglichkeiten, von einem Sektor in den anderen Sektor oder auch gemeinsam tätig zu werden, haben in keinem Fall zu durchgreifender Veränderung der Grundstrukturen geführt. Ihre ökonomische Bedeutung für die Versorgung ist unverändert marginal. Ihnen ist gemein, dass sie auf die Freiwilligkeit – bei Beibehaltung der bisherigen sektoralen Gegebenheiten – setzen.

In der Bund-Länder-Arbeitsgruppe wurde dieser Ansatz der optionalen Freiheiten an einem Beispiel durch einen relevanten materiellen Anreiz ergänzt, der die Akteure aus zwei Sektoren zur Zusammenarbeit ermutigen sollte. Dazu wurde eine Kooperationspauschale zwischen der ambulanten Pflege und der hausärztlichen Versorgung vorgeschlagen. Diese sollte dann ausgezahlt werden, wenn eine gemeinsame Dokumentation und / oder gemeinsame Fallbesprechungen zwischen der ambulanten Pflege und der jeweiligen Hausärzteschaft für Patientinnen und Patienten mit einem hören Pflegegrad nachgewiesen werden können. Anders als an der Schnittstelle zwischen der ambulanten und stationären Versorgung wäre dies der erste Versuch einer sektorenübergreifenden Zusammenarbeit zwischen den Leistungserbringern der hausärztlichen Seite und ambulanten Pflege. Dass dieser Bereich reformfähiger zu sein scheint, zeigt der Ansatz der SAPV als einer der wenigen gelungenen freiwilligen sektorenübergreifenden Ansätze.

 

… mit obligatorischer sektorenübergreifender Leistungserbringung

Aber für eine grundlegende Veränderung des „versäulten“ Gesundheitswesens sind diese kleinteiligen Lösungen nicht ausreichend. Deshalb hatte die Bund-Länder-Arbeitsgruppe 2019/20 den Vorschlag vorgelegt, einen relevanten Anteil der Versorgung aus dem bisherigen ambulanten oder stationären Sektor auszugliedern und nach einheitlichen Rahmenbedingungen ohne Anbindung an einen Sektor in einem eigenständigen Bereich durchführen zu lassen.

Erstmals würde also für die jeweiligen Sektoren kein Wahlrecht bestehen, sondern die Vorgabe definiert, dass ein festgelegter Katalog von Leistungen obligatorisch nach gleichen Spielregeln zu erbringen ist. Kritiker halten diesem Ansatz entgegen, dass dies nicht zu einer Überwindung von Sektorengrenzen, sondern zur Schaffung eines neuen Sektors führt. Die Bund-Länder-AG war aber der Meinung. dass nur mit einer obligatorischen Vorgabe ein relevanter Einstieg in die süV und gleichzeitig in die verstärkte Ambulantisierung möglich sei. Mit solchen Vorbehaltstätigkeiten für die sektorenübergreifende Versorgung wird letztendlich auch konstatiert, dass die Reformfähigkeit des Gesundheitswesens aus sich heraus nicht gegeben ist.

Eine eben solche obligatorische intersektorale Neuordnung war mit der Reform der Notfallversorgung beabsichtigt. Hier sollten die drei Sektoren der ambulanten, rettungsdienstlichen und stationären Notfallversorgung aus ihrer Versäulung in eine neue verbindliche Form der Kooperation überführt werden. Die Reaktionen auf den Arbeits- und den Referentenentwurf zur Notfallreformgesetz zeigten, wie groß die Widerstände der nicht veränderungsbereiten Sektoren sind, die sich sofort in ihrer Ablehnung einer verändernden Reform einig waren, weil ihre jeweiligen Privilegien berührt waren. Gemeinsam haben die verpflichtenden oder freiwilligen Ansätze einer institutionellen süV, dass sie auf der bestehenden Struktur aufsetzen und diese außerhalb der neu zu regelnden Sachverhalte wenig verändern.

 

2. Modelle einer am Krankheitsverlauf orientierten, patientenbezogenen süV

Die heutigen Strukturen sind historisch und institutionell ausgerichtet und orientieren sich nicht an den medizinischen Notwendigkeiten von clinical pathways. Immer wieder erleben deshalb Patientinnen und Patienten die Brüche im Gesundheitswesen ganz real, wenn in ihrer Behandlung Leistungserbringer aus unterschiedlichen Sektoren unkoordiniert nur „ihr Ding“ machen, und danach ihre Zuständigkeit als beendet ansehen. Ziel dieses neuen Ansatzes ist es dagegen, der jeweils fachlich federführenden Institution eine umfassende Koordination zu übertragen, die den gesamten Behandlungsprozess, auch über den medizinischen Bereich hinaus, umfasst. Sie ist dafür verantwortlich, die Patienten bruchlos durch das Gesundheitswesen zu begleiten. Eine am Krankheitsverlauf orientierte, patientenbezogene süV stellt also die patientenbezogene Koordination, abhängig von der Dauer und Schwere der Erkrankung, in den Mittelpunkt.

 

Abb. 1. : Formen der patientenbezogenen süV

 

Sektorenübergreifende Versorgung Abbildung 1

 

Sektorenübergreifende Versorgung Abbildung 2

 

Sektorenübergreifende Versorgung Abbildung 3

 

Sektorenübergreifende Versorgung Abbildung

 

 

Grundsätzlich liegt die Koordinationsaufgabe nach § 73 SGB V bei der hausärztlichen Versorgung, die diese lebensbegleitend wahrnimmt. Sie gewährleistet die Gesamtschau der medizinischen „Karriere“ der PatientInnen und unterstützt ihre Bahnung durch das Gesundheitswesen. Dieses ist und bleibt der Normalfall, solange ein Patient abgesehen von gelegentlicher fachärztlicher Konsultation durch die hausärztliche Versorgung medizinisch gut geleitet werden kann. Allerdings kann bei schweren lebensbegleitenden und chronischen Erkrankungen eine besondere Fachexpertise für jegliches Krankheitsgeschehen benötigt werden (beispielsweise bei Mukoviszidose oder bei dialysepflichtigen PatientInnen), die die hausärztliche Praxis überfordert. Hier sollte diese gesamtkoordinierende Verantwortung an die jeweiligen federführenden Fachärztinnen und Fachärzten abgegeben werden.

Neben diesen beiden lebensbegleitenden Koordinationsnotwendigkeiten ist häufig ein temporärer fachärztlicher Interventionsbedarf von Nöten: Beispiele wären die Implantation von Gelenkersatz oder eine letztendlich einstellbare schwere internistische Erkrankung. Bei einer patientenbezogenen süV wird die Gesamtverantwortung auf die Institution / die fachärztliche Person übertragen, die diese Intervention vornimmt. Sie umfasst den gesamten Behandlungsverlauf dieser Morbidität inklusive pflegerischer, rehabilitativer und sozialmedizinischer Notwendigkeiten und wird auch finanziell über eine fallumfassende Behandlungspauschale abgedeckt. Erst nach dem kompletten Abschluss der Behandlung übergibt die fachärztliche Institution die Patientin und den Patienten wieder der hausärztlichen Behandlung.

Noch dringender wird eine solche abgestimmte Koordinierung bei einer schweren Erkrankung mit längerer Behandlungsdauer, die zwingend eine Vielzahl von Leistungserbringung in die Behandlung integriert (zum Beispiel bei einer Krebserkrankung). Gerade hier ist es angezeigt, nicht nur die jeweilige Leistung, sondern die Gesamtverantwortung für die Steuerung dieses mittel- bis langfristigen Prozesses in die Hand spezialisierter Behandlungsschwerpunkte (ambulante oder stationäre fachspezifische Zentren) zu legen.

Dieser sektorenübergreifende Ansatz macht sich die hohe Differenzierung in unserem Gesundheitswesen zu eigen, definiert aber die jeweilige Aufgabenstellung für die Leistungserbringer neu, ohne in die grundlegenden Strukturen einzugreifen. Dabei sind die Unterstützung und Behandlungsbegleitung der Patientin und des Patienten das Maß der Dinge, die so aus einer Hand mit einer kompetenten und festen Ansprechperson erfolgt. Dies ist finanziell für die koordinierende Instanz entsprechend abzubilden und mit definierten Pflichten zu hinterlegen.

 

3. Modelle einer regionalen, populationsbezogenen süV

In einer definierten Region wird ein passgenaues Angebot für eine sektorenübergreifende und / oder koordinierende Leistung der dort wohnenden Bevölkerung von einer neuen zentralen Instanz angeboten. Zusätzlich wird durch gesunderhaltende bzw. präventive Maßnahmen ein umfassender Versorgungsanspruch eingelöst. Die Modelle folgen dem Gedanken des „One-stop-shops“ für alle gesundheitlichen Belange vor Ort. Derartige Überlegungen zu einer populationsbezogenen, regional ausgerichteten süV erfordern ein weitgehendes Umdenken tradierter Strukturen. Zurzeit werden drei unterschiedliche Modelle solcher populationsbezogenen sektorenübergreifenden Versorgung diskutiert:

 

Abb. 2. : Varianten einer populationsbezogenen süV

 

Sektorenübergreifende Versorgung Abbildung 5

 

 

Regionales Gesundheitszentrum mit Einschluss stationärer Leistungen im low care Bereich sowie ambulanter Leistungen im spezial- und hausärztlichen Bereich, beliebig erweiterbar um Angebote der ambulanten Pflege, der Prävention oder kommunal ausgerichteter sozialmedizinischer Dienste. Beispielhaft kann auf das durch Mittel des Innovationsfonds geförderte ambulant-stationäre Zentrum in Templin verwiesen werden. Es entspricht weitgehend den Vorstellungen des SVR aus dem Jahr 2008. Gerade für ländliche Regionen können solche ambulant-stationär-übergreifende Gesundheitszentren bei einem sich ausdünnenden medizinischen Angebot die beste aller Möglichkeiten bieten.

Interdisziplinäre Primärversorgungszentren, die neben der hauptsächlichen hausärztlichen Versorgung ebenfalls Angebote spezialärztlicher Versorgung, zum Teil auch der ambulanten Pflege, und immer Angebote der Prävention oder der kommunalen medizinischen Möglichkeiten integrieren. Gelebte Beispiele (mit regionalen Unterschiedlichkeiten) sind die rund ein Dutzend PORT-Zentren, gefördert durch die Robert-Bosch-Stiftung.

Übertragung der gesamten gesundheitlichen Verantwortung auf eine Institution (Kommune, Leistungsanbieter). Hierbei wird in einer definierten Region die gesamte gesundheitliche Verantwortung auf eine Institution übertragen, die direkt oder über eine Steuerungseinheit/Managementgesellschaft für die dort lebende Bevölkerung die Versorgung koordiniert. Sie erhält dafür von den Krankenkassen ein Regionalbudget oder eine patientenbezogene „Kopfpauschale“ (Capitation fee) und kauft die notwendigen Leistungen durch Verträge mit den unterschiedlichen Leistungserbringern regional ein. Durch eine präventive Ausrichtung sollen die Krankheitskosten mittelfristig reduziert und so die Overhead- bzw. Anlaufkosten und Mehraufwände der Leistungserbringer finanziert werden. Dabei stehen bei kommunalen Modellen sicherlich andere finanzielle Überlegungen als bei privaten Anbietern im Vordergrund.

Für alle drei Formen der populationsbezogenen süV bedarf es struktureller beziehungsweise rechtlicher Veränderungen, insbesondere bei den Überlegungen zur regionalen Steuerung bei der letzten Variante. Hier ist, soweit Kommunen die Sicherstellung für die gesundheitliche Versorgung übertragen werden soll, die Notwendigkeit einer grundgesetzlichen Änderung nicht weit.

Die auf Gesundheitszentren in unterschiedlicher Ausprägung ausgerichteten ersten beiden Varianten der populationsbezogenen süV haben einen hohen Anspruch auf eine Integration einer präventiven und sozialen Versorgung, die finanziell in den jetzigen Strukturen nicht abgebildete wird. Alle drei Formen sind auf die Kooperationsbereitschaft der anderen lokalen Leistungserbringer in den jeweiligen Sektoren angewiesen, um ein möglichst breites Angebot vorhalten zu können. Bei Einbeziehung von stationären Leistungen dürfte die Abstimmung mit der Landeskrankenhausbehörde nicht ganz einfach sein, auch wenn auf gesetzlich eingeführte Möglichkeiten wie den Strukturfonds zur investiven Umstrukturierung der stationären Angebote rechtlich zurückgegriffen werden kann.

 

Fazit: Chancen einer differenzierten Diskussion nutzen

Zusammenfassend ergibt sich für die drei oben skizzierten Varianten der sektorenübergreifenden Versorgung folgendes Argumentations-Tableau:

 

 

Unterschiedliche Ansatzpunkte für eine sektorenübergreifende Versorgung (süV): Differenzierungen Bewertungen
Institutionelle süV Freiwillige Lösungen (mit oder ohne finanziellen Anreiz) Bisher im ambulant/stationären Bereich ohne durchgreifenden Erfolg
  Obligatorische Lösungen Vorschläge in dieser Legislaturperiode an Widerständen und/oder pandemiebedingt unvollendet
Patientenbezogene süV

 

Regelfall:

Hausärztliche Koordination

  Spezialfall: fachärztliche Koordination Die krankheitsabhängig unterschiedlich zuständige ärztliche Person/Institution übernimmt umfassende Koordination. Wahrscheinlich gegen geringe Widerstände durchsetzbar
  Koordination bei kurzfristiger Intervention
  Koordination bei langanhaltender, schwerer Erkrankung
Populationsbezogene süV Ambulant/stationäres Gesundheitszentrum Besonders geeignet für ländliche Regionen, ohne gesetzliche Erleichterungen machbar, aber hoher Gründungsaufwand
  Primärärztliches Zentrum Bereits existent (PORT), aber Finanzierung präventiver und kommunaler Aufgaben fehlt
  Regionale Steuerung durch Kommune oder Leistungserbringer Erfordert hohen gesetzgeberischen Aufwand, Systemwechsel

 

Tabelle: Differenzierung der unterschiedlichen Optionen für eine sektorenübergreifende Versorgung

 

 

Es wird in der aktuellen politischen Debatte oft zu undifferenziert nach einheitlichen gesundheitspolitischen Lösungen gesucht. Schon allein die Frage, ob ein sektorenübergreifendes Angebot für den ländlichen Raum bei oft mangelnden und kriselnden Versorgungsstrukturen oder im städtischen Raum mit grundsätzlich optimaler Versorgungsbreite, aber gravierenden lokalen Unterschiedlichkeiten, vorgesehen ist, bedingt jeweils andere Lösungsansätze. Von daher sollte die Debatte um eine sektorenübergreifende Versorgung sich nicht auf nur eine Form beschränken, sondern mehrere Optionen ermöglichen. Sich zuspitzende regionale Mangelsituationen sind das Treibmittel, um Versorgung sektorenübergreifend neu auszurichten. Eigentlich. hat man gar keine andere Chance, will man die medizinische Versorgung in Deutschland regional nicht noch weiter auseinanderdriften lassen.

Insgesamt steht also eine breite Palette von Vorstellungen und Ideen zur Verfügung, gesetzgeberisch eine Verbesserung der sektorenübergreifenden Versorgung in der nächsten Legislaturperiode anzugehen. Man kann in den anstehenden Koalitionsverhandlungen der Verhandlungsgruppe Gesundheit nur wünschen, dass sie sich nicht nur auf Allgemeinplätze („Stärkung der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit“) einigt, sondern differenzierte und strukturierende Formulierungen findet, die in eine klare Auftragslage für die nächsten 4 Jahre münden.

 

Lesen Sie auch diese Beiträge zur sektorenübergreifenden Versorgung im Observer Gesundheit:

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