Schon heute ein Mythos?

Ärztliche „Gesamtverantwortung“ für Diagnostik und Therapie

Ute Repschläger, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes selbstständiger Physiotherapeuten (IFK)

Bereits heute setzen viele unterschiedliche Professionen im deutschen Gesundheitssystem ihre Kompetenzen dafür ein, Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Die interprofessionelle Zusammenarbeit wird ein Schlüssel dafür sein, eine gute und effiziente Versorgung auch zukünftig gewährleisten zu können. Eine Kultur, in der interprofessionelle Zusammenarbeit eine Selbstverständlichkeit darstellt, muss daher das Ziel der Bemühungen aller Akteure im Gesundheitswesen sein.

Interprofessionelle Zusammenarbeit muss den beidseitigen und gleichberechtigten Austausch auf Augenhöhe ermöglichen, dafür sind Rollen und Verantwortlichkeiten zu bestimmen.

Das Credo der „Lotsenfunktion des Hausarztes“ und der daraus „natürlich“ erwachsenen Gesamtverantwortung für Diagnostik und Therapie ist bekannt und wird – wo und wann immer möglich – durch die Ärzteschaft mantraartig wiederholt. Aus eigener Wahrnehmung und eigenem Anspruch heraus ein nachvollziehbarer Gedanke: Wer lenkt, der bestimmt, wohin es geht. Doch es stellt sich die Frage, ob der Arzt auch im Falle einer physiotherapeutischen Behandlung durch einen Therapeuten tatsächlich die Gesamtverantwortung trägt.

Im Rahmen des 128. Deutschen Ärztetags 2024 hieß es zur ärztlichen Gesamtverantwortung zuletzt: „…Die Zahl dauerhaft behandlungsbedürftiger, insbesondere multimorbider Patientinnen und Patienten nimmt in einer älter werdenden Gesellschaft zu. Auch haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert, insbesondere die Einbindung in Gemeinschafts- und Familienstrukturen. All dies erfordert heute eine Versorgung, die neben der ärztlichen Kompetenz auch andere medizinische und teils auch soziale Berufsgruppen einbeziehen muss. Eine solche interprofessionelle Versorgung ist strukturell zu fördern und adäquat zu finanzieren. Ärztinnen und Ärzte tragen dabei die Gesamtverantwortung für Diagnostik und Therapie…“

Dieses Postulat der ärztlichen Gesamtverantwortung steht im Einklang mit dem Leitspruch: „Delegation Ja, Substitution Nein“. Bei der Delegation behält der Arzt vermeintlich die ärztliche und juristische Verantwortung für die sach- und fachgerechte Durchführung einer Leistung. Davon abzugrenzen ist die Substitution, also das Ersetzen des Arztes bei Leistungen, bei denen es sich um die eigenverantwortliche Ausübung von Heilkunde handelt. Bei der Substitution geht die ärztliche und rechtliche Verantwortung dafür, dass die durchgeführten Leistungen ordnungsgemäß ausgeführt wurden, vom Arzt auf einen Nicht-Arzt über. Heute werden in der Physiotherapie Leistungen grundsätzlich vom Arzt auf den Physiotherapeuten delegiert, aber trägt der Arzt dadurch wirklich die alleinige Verantwortung?

 

Physiotherapeut haftet für seine Therapieentscheidungen

Die Ärzteschaft stellt in diesem Zusammenhang stets in Frage, wer außer ihnen selbst die Verantwortung für Diagnose, Indikationsstellung, Aufklärungsgespräche und Therapieentscheidungen übernimmt, wer für Fehler haftet und wer die Kosten der Haftpflichtversicherung trägt. Der letzte Aspekt ist für die Physiotherapie in jedem Fall eindeutig zu beantworten: Selbstständige Physiotherapeuten tragen die Kosten der eigenen Berufshaftpflicht unzweifelhaft selbst. Die Versicherung sichert den finanziellen Schaden ab, der einem Patienten durch die physiotherapeutische Tätigkeit entstehen kann. Hierzu gehören Personen-, Sach- und Vermögensschäden. Daraus resultiert die Frage: Keine Haftung ohne Verantwortung, oder? Fakt ist: Bereits heute tragen für die physiotherapeutische Diagnostik und daraus resultierende Therapieentscheidungen nicht die Ärzte, sondern die Physiotherapeuten die Verantwortung.

Die physiotherapeutische Diagnostik beinhaltet die umfassende Befragung und Untersuchung des Patienten zur Festlegung der Therapieziele und der Therapieplanung. Das aktuelle Gesundheitsproblem wird dabei individuell und ganzheitlich entsprechend dem der ICF zugrundeliegenden bio-psycho-sozialen Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und deren Komponenten (Schädigung der Körperfunktionen und -strukturen, Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe, unter Einbezug der relevanten Umwelt- und personbezogenen Faktoren) erfasst. Die Ergebnisse des physiotherapeutischen Befunds bzw. der Diagnostik dienen als Grundlage für die Behandlungsplanung. Zur Planung wird gemeinsam mit dem Patienten und eventuell seiner Bezugsperson das Therapieziel festgelegt. Dafür steht der Physiotherapeut dann auch in der Verantwortung und haftet, wenn es zu einem Schaden kommt.

Der Begriff „Diagnose“ selbst ist nicht legaldefiniert und darf zulässigerweise auch in der Physiotherapie verwendet werden. Rechtlich betrachtet ist die Diagnose nicht lediglich eine medizinische, sondern eben auch eine juristische Angelegenheit. Sie fungiert als Grundlage für die Einleitung der Therapie und kann daher auch rechtliche Konsequenzen haben.

Die Grundlage für die rechtliche Bedeutung der Diagnose findet sich in den Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Behandlungsvertrag. Der Behandelnde muss bei der Ausübung seiner Tätigkeit die erforderliche Sorgfalt anwenden, dies gilt auch für die Diagnostik und die daraus folgende Therapie. Bei Verstößen gegen die Sorgfaltspflicht können Schadensersatzansprüche und Schmerzensgeldansprüche gegenüber dem Patienten entstehen. Als Behandelnde sind neben den Ärzten auch Vertreter anderer Gesundheitsberufe wie Physiotherapeuten von den Normen erfasst.

 

Geteilte Verantwortung ist Realität

Der Arzt trägt demnach die Verantwortung für die Verordnung physiotherapeutischer Maßnahmen, für die Durchführung der Physiotherapeut. Dabei reduziert sich die Verantwortung des Physiotherapeuten allerdings auf die Durchführung der Therapie nach dem bestehenden und allgemein anerkannten physiotherapeutischen Standard. Teilt der Verordner dem Durchführenden eine therapierelevante Information über die Gesundheit des Patienten nicht mit und resultiert daraus beispielsweise ein körperlicher Schaden des Patienten, so trägt der Arzt eine Mitverantwortung. Es kann im Einzelfall auch zu auseinandergehenden Auffassungen des Arztes und des Physiotherapeuten über die Durchführung einer Behandlung kommen. In einem solchen Fall kann ein Behandlungshindernis für den Physiotherapeuten erkennbar werden, welches er als Kontraindikation bewertet.

Wenn die Durchführung der Behandlung eine potenzielle Gefahr für den Patienten darstellt, ist der Physiotherapeut verpflichtet, die Behandlung nicht durchzuführen. Denn im Unterschied zu anderen Gesundheitsberufen, die nicht selbständig diagnostizieren, gehört es zu den ureigenen Aufgaben des Physiotherapeuten, aus dem erhobenen Befund Rückschlüsse für die Behandlung abzuleiten. Die ärztliche Verordnung bildet demnach die Grundlage der Behandlung, für deren konkrete Gestaltung ist jedoch der Physiotherapeut verantwortlich. Aus dieser Verantwortung ergibt sich aber eben auch, dass der Physiotherapeut im Zweifel eine Behandlung ablehnen muss, wenn deren Durchführung erkennbar zu einer Schädigung des Patienten führen kann.

 

Ein Ausblick: Noch mehr Verantwortung durch mehr Autonomie

Der Blick in die Zukunft verdeutlicht, dass die Annahme einer Gesamtverantwortung des Arztes perspektivisch noch stärker in Frage gestellt wird. Der vorab veröffentlichte Entwurf zum neuen Berufsgesetz für die Physiotherapie enthält Regelungen zur eigenverantwortlichen Ausübung von Heilkunde für Physiotherapeuten: Ein Studium der Physiotherapie soll zukünftig zu einer Versorgung im Direktzugang befähigen. Patienten können sich dann auch ohne den Umweg über den Arzt direkt vom Physiotherapeuten behandeln lassen. Spätestens dann trägt der Physiotherapeut die alleinige Verantwortung für seine Diagnostik und seine Therapie. Dann heißt es: Delegation Nein, Substitution Ja!


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