12.08.2024
Risikostrukturausgleich vor neuer Themenkarriere?
Gutachten liefern Ansatzpunkte für die Fortsetzung der Reformdebatte
Dr. Robert Paquet
Die 2010er Jahre waren geprägt durch erbitterte Kontroversen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen um den Risikostrukturausgleich (RSA). Mit dem zum 1. April 2020 in Kraft getretenen Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FKG) trat dann für kurze Zeit Beruhigung ein.
Die Beschränkung des Morbi-RSA auf 80 Krankheiten wurde aufgehoben; mit dem Übergang auf das sog. Vollmodell (heute mit rund 500 Diagnosegruppen) sollte die Zielgenauigkeit des RSA verbessert werden. Hinzu kamen die Einführung einer Regionalkomponente, die erneute Einrichtung eines Risikopools und verschiedene Maßnahmen, die künftig die Beeinflussung der Diagnosekodierung durch die Kassen verhindern sollten.
Die Evaluation dieser Veränderungen wurde in diesem Frühjahr veröffentlicht. Seitdem grummelt es in der GKV. Weil die Krankenkassen immer weiter in die Finanzierungskrise rutschen, spielen plötzlich auch kleinere Beträge wieder eine wesentliche Rolle. Tatsächliche (und auch vermeintliche) Vor- und Nachteile der aktuellen RSA-Regelungen werden mit größter Aufmerksamkeit beobachtet. Der RSA könnte damit vor einer erneuten Themenkarriere stehen. Schauen wir uns die Gutachten einmal näher an.
1. Einleitung
Die alarmierenden Meldungen aus der GKV nehmen zu. Inzwischen haben 2024 schon elf Krankenkassen unterjährig ihre Zusatzbeiträge erhöht.[1] Der BKK Dachverband zeigt, dass der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz im nächsten Jahr auf mindestens 2,2 Prozent ansteigen wird.[2] Die Beitragssatzspanne war noch nie so hoch (0,7 – 3,3 Prozent).[3] Auch in der mittleren Perspektive zeichnet sich keine Entspannung ab.[4] Der Wettbewerb zwischen den Kassen verschärft sich entsprechend. „Primäres Ziel des RSA“ ist bekanntlich die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen durch den Ausgleich von Ausgabenunterschieden der Krankenkassen, die auf Differenzen in der Risikostruktur beruhen.[5] Für die Weiterentwicklung des RSA wurde bereits Vorsorge getroffen. „Zusätzlich zu den turnusgemäßen Anpassungen des Klassifikationssystems wurden der Wissenschaftliche Beirat und das BAS im Zuge der Umsetzung … des GKV-FKG vom Gesetzgeber mit insgesamt drei Sondergutachten beauftragt, die im Jahr 2023 zu erarbeiten waren.“[6] Sie wurden zeitgerecht abgeliefert (im Januar 2024) und im Mai veröffentlicht.[7] Neben den Ausführungen zu ihren jeweiligen Kernthemen bieten sie verschiedene Feststellungen, die alte Diskussionen neu beleben dürften (z.B. zur Rolle der Erwerbsminderungsrentner etc.).
2. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zu den Wirkungen des Ausschlusses von Risikogruppen im Risikostrukturausgleich[8]
Im GKV-FKG wurden verschiedene Regelungen eingeführt, die die Manipulationsresistenz des RSA sichern sollten. Die prominenteste ist der Ausschluss bestimmter Hierarchisierter Morbiditätsgruppen (HMGs) des Versichertenklassifikationsmodells aus dem Ausgleichsverfahren. Das sollte für HMGs gelten, die im Verlauf mehrerer Jahre besonders hohe Steigerungsraten aufwiesen. Nach § 266 Abs. 10 Satz 3 SGB V sollte der Beirat die Wirkungen dieser Regelung, die im Ausgleichsjahr 2021 erstmals angewandt wurde, untersuchen.
Für den Beirat ergaben sich aus diesem Auftrag drei „Forschungsfragen“: Zentral war die Frage, wie sich der HMG-Ausschluss auf die Zielgenauigkeit des RSA und ggf. neue Risikoselektionsanreize auswirken würde. Vor diesem Hintergrund wurde zweitens die Veränderung der Häufigkeit der vertragsärztlichen Diagnosen auf Ebene der HMGs untersucht. Schließlich wurden „die für die Durchführung des HMG-Ausschlussverfahrens in § 19 Absatz 4 RSAV festgelegten Schwellenwerte näher untersucht und bewertet.“ (S. X) Als statistische Bewertungskriterien wurden die bekannten Maße r2, MAPE, CPM und regionale MAPE herangezogen.
Effektivität des HMG-Ausschlusses
„Durch die Einführung des HMG-Ausschlusses sinkt die „Zielgenauigkeit des RSA sowohl auf der Ebene der individuellen Versicherten als auch auf Ebene der Versichertengruppen“. Das liegt daran, dass sich die Zuweisungsanteile zwischen den Risikogruppen verschieben: „Nahezu 1,5% (etwa 3,3 Mrd. €) der Gesamtzuweisungen, welche zuvor über HMGs zugeteilt wurden, werden bei Durchführung des Ausschlussverfahrens über AGGs und RGGs ausgeglichen.“ (S. XI und 65) Namentlich wird angemerkt, dass sich „negative Selektionsanreize bspw. gegen Multimorbide oder Versicherte mit Erwerbsminderungsstatus, die aufgrund ihrer höheren Morbidität auch ein größeres Risiko aufweisen, vom HMG-Ausschluss betroffen zu sein,“ weiter verstärken könnten. (S. 66 und auch 52)
Daraus könnten sich – so vermutet der Beirat – weitere Risikoselektionsanreize ergeben. Auch „ohne Kenntnis der genauen Ausschlussliste“ könnte z.B. antizipiert werden, dass Versicherte ohne bzw. mit nur geringen Leistungskosten, die im RSA ohnehin überdeckt sind, als Versicherungsrisiken noch attraktiver würden. Außerdem ließen sich (bei Kassen mit größerem Datenpool, ihren Verbänden bzw. methodisch qualifizierten Dienstleistern) die Kandidaten für die Ausschlussliste mit einer höheren Wahrscheinlichkeit vorhersagen (S. 58ff.). Die Analyse der Entwicklung in den Vorjahren könnte dabei eine wichtige Rolle spielen. Nebenbei wird auch festgestellt, dass der HMG-Ausschluss die Finanzplanung der Kassen und die Kalkulation der Zusatzbeiträge erschwert. (S. XII)
Für die regionale Zielgenauigkeit habe der HMG-Ausschluss nur geringe Auswirkungen. Jedoch: „Auf Krankenkassenebene führt der HMG-Ausschluss zu einer leichten Zunahme der mittleren Deckungsunterschiede“ (S. XII). Aus dem bereits gesagten ergibt sich „generell“, „dass Krankenkassen mit überdurchschnittlicher Morbidität … vom HMG-Ausschluss eher benachteiligt waren als Krankenkassen mit unterdurchschnittlicher Morbidität“ (auch S. 52). Eine „wettbewerbliche Relevanz“ bekämen die Deckungsunterschiede auf Kassenebene allerdings „nur in Ausnahmefällen und mit einer höheren Wahrscheinlichkeit bei kleineren Krankenkassen“. (S. 67)
Eine weitere Möglichkeit zur Risikoselektion sieht der Beirat in der Beeinflussung der sog. „Vetoliste“ des GKV-Spitzenverbandes. Er soll nämlich gemäß § 19 Abs. 6 RSAV die Risikogruppen bestimmen, „bei denen ein möglicher überdurchschnittlicher Anstieg der Risikogruppenbesetzungen medizinisch oder diagnostisch bedingt ist“ (S. 1). Diese HMGs sollen dann nicht ausgeschlossen werden. Der (innerhalb des GKV-SV) extrem aufwendige Rechercheprozess für die Vetoliste könnte nun – so die Befürchtung des Beirats – durch Kassen bzw. Kassengruppen blockiert werden, die sich vom Ausschluss der entsprechenden HMGs Vorteile versprechen (XIII). Einen Konsens über die „Operationalisierung der Begriffe ‚medizinisch‘ bzw. ‚diagnostisch‘ bedingter Anstieg“ zu erreichen, scheint „zwischen den Krankenkassen umstritten“ zu sein. Trotz dieser Probleme „hält der GKV-SV ein Verfahren zur inhaltlichen Kontrolle und Korrektur der sich statistisch ergebenden Ausschlussliste für alternativlos“ (S. 64).
Bedeutsam sind jedoch die Feststellungen des Gutachtens zur Kernfrage bzw. zur Ursache der Einführung des HMG-Ausschlusses. „Aus den durchgeführten Analysen zum HMG-Ausschlussverfahren ergeben sich keine Hinweise zu einer medizinisch ungerechtfertigten Leistungsausweitung. Auch dem GKV-SV liegen hierzu keine Erkenntnisse vor.“ (S. X) Für die „Funktionalität“ der Ausschlussregelung ergibt sich für den Beirat „kein klares Bild“. Er vermutet, dass die Beeinflussungsversuche der Kassen auf die Diagnosestellung kein „wesentliches Problem“ mehr für den RSA darstellen. Das „Maßnahmenbündel des Gesetzgebers im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung (HHVG) und des GKV-FKG“ habe wohl dazu beigetragen, „Manipulationsanreize und Manipulationsmöglichkeiten im RSA weiter zu senken“ (S. XII). Das generelle „Einwirkungsverbot“[9] für die Kassen gegenüber den Ärzten (vor allem das Verbot der Kodierberatung) bzw. die expliziten Verbote bestimmter Vertragsgestaltungen im SGB V („Betreuungsstrukturverträge“ etc.) dürften die wirklich entscheidenden Regelungen gewesen sein. Vom GKV-SV wird dagegen die Einschätzung berichtet, inwieweit das Ausschlussverfahren tatsächlich zu einer Stärkung der Manipulationsresistenz geführt habe, „sei derzeit … auf empirischer Basis nicht möglich“ (S. 64).
Wenn der Gesetzgeber am Instrument des HMG-Ausschlusses festhalte, empfiehlt der Beirat „eine wiederholte kritische Überprüfung der Auswirkungen dieser Regelungen auch für sich anschließende Ausgleichsjahre“ (S. 68). Insgesamt schimmert die Einschätzung durch, dass das Instrument des HMG-Ausschlusses zur Verbesserung der Manipulationsresistenz inzwischen überflüssig geworden ist. Schade, dass sich der Beirat nicht zu einem expliziten Votum für seine Abschaffung durchringen konnte. Das wäre auch ein Beitrag zur Entbürokratisierung.
Fallzahlentwicklung
Zur zweiten Forschungsfrage wird festgestellt, dass die „Fallzahlen kontinuierlich ansteigen“, allerdings mit (im Untersuchungszeitraum 2018 – 2021) abnehmender Steigerungsrate. Dabei überlegt der Beirat z.B., ob und wieweit dazu die mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführten „verbindlichen Kodiervorgaben nach § 295 Absatz 4 SGB V“ eine Rolle spielen. Oder ob auch ein Aufmerksamkeitswandel durch den Übergang zur direkten Morbiditätsorientierung des RSA dazu beigetragen hat. Beides muss jedoch offenbleiben und kann empirisch nicht geklärt werden (S. 72). Außerdem habe die Zuschlagsrelevanz einzelner vertragsärztlicher Diagnosen im „Verlauf der Modellentwicklung“ und mit einer „strikteren Hierarchisierung der HMGs“ tendenziell abgenommen. Logisch zwingend ist schließlich, dass mit der Einführung des Vollmodells „das finanzielle Gewicht einzelner HMGs gesunken“ ist (S. 73). Es zeige sich auch kein systematischer Zusammenhang zwischen der Fallzahlveränderung und der „finanziellen Bedeutung einer HMG für die Gesamtzuweisungen“ (S. 76). In seiner Zusammenfassung erklärt der Beirat dazu: „Damit lassen sich aus den Ergebnissen auf Ebene der GKV-weiten Daten keine Hinweise auf Manipulation von HMG-Fallzahlen erkennen.“ (S. XIII)
Schwellenwerte
Interessanter sind die Ergebnisse zur dritten Forschungsfrage. Der erste Schwellenwert lässt „nur solche HMGs zum Ausschluss zu, die das Eineinhalbfache der durchschnittlichen Steigerungsraten der Risikogruppenbesetzung (d.h. der GKV-weiten HMG-Steigerungsrate) überschreiten.“ Das ist im Ausgleichjahr 2021 (im Verhältnis zum Referenzjahr 2017) bei 49 von 495 HMGs der Fall. Da es (z.B. im Zusammenhang mit dem Pandemiejahr) auch zu „negativen Steigerungsraten“ kommen kann, empfiehlt der Beirat, künftig diesen „Schwellenwert nur dann anzuwenden… , wenn die GKV-weite Veränderung der HMG-Besetzung positiv ist und insofern tatsächlich von einer „Steigerungsrate“ gesprochen werden kann.“ (S. XIV)
Bei einer „kursorischen Betrachtung“ der als besonders kritisch angesehenen HMGs kommen dem Beirat allerdings Zweifel an dem Handlungsmodell, das als zugrundeliegendes Motiv der gesamten Regel unterstellt wird. Er fragt, „inwiefern die beobachteten Steigerungsraten überhaupt in einem Zusammenhang mit möglichen Kodierbeeinflussungen stehen können“, und denkt über mögliche andere Effekte als Treiber des Anstiegs nach (S. 39). Fallzahlanstiege können z.B. durch die Verbilligung der Therapie (etwa bei Patentablauf eines speziellen Arzneimittels) ausgelöst werden. Bei anderen HMGs sollte die Präzision der Diagnosestellung (auch z.B. mit Validierung durch eine Krankenhaus-Diagnose) berücksichtigt werden und daher zum ‚Ausschluss vom HMG-Ausschluss‘ führen (Beispiele ebenda). „Zusammengenommen lässt sich festhalten, dass ein überdurchschnittlicher Anstieg der Besetzungszahlen einer HMG lediglich als ein Indiz, nicht aber als belastbarer Beleg eines manipulativen Eingriffs gewertet werden kann.“ (S. 40)
Der zweite Schwellenwert „lässt nur solche HMGs zum Ausschluss zu, deren Besetzung 0,05% der durchschnittlichen Versichertenzeiten aller Krankenkassen überschreitet.“ (S. XIV) Damit sollte bei eher seltenen Erkrankungen vorgebeugt werden, dass eine geringe absolute Steigerung der Fallzahl zu einer hohen prozentualen Steigerungsrate führt. Orientierungspunkt für diese Grenze war die EU-Definition seltener Erkrankungen (S. 91). Da dieser Schwellenwert für das untersuchte Ausgleichsjahr 2021 aber etwa 37.000 Versichertenjahren pro HMG entspricht und „38 % der HMGs vor dem Ausschluss schützt“, erscheint er für die Zielerfüllung zu hoch gewählt. Der Beirat empfiehlt daher die Absenkung auf einen niedrigeren Wert (S. XIV, 91 und 95).
3. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zu den Wirkungen der regionalen Merkmale im Risikostrukturausgleich[10]
Mit dem GKV-FKG wurde der RSA mit einer Regionalkomponente ausgebaut. Dabei wurde das Klassifikationsmodell um Regionale Risikogruppen (RGGs) erweitert. Der wissenschaftliche Beirat sollte diese Erweiterung nach § 266 Absatz 10 Satz 2, 2. Halbsatz SGB V evaluieren. Auch hier hat der Beirat diesen Auftrag in drei Forschungsfragen untergliedert. Zunächst geht es um die allgemeinen Auswirkungen sowie die Allokationswirkungen im Versichertenklassifikationsmodell. „In einem zweiten Schritt werden weitere Risikomerkmale benannt, die bei einer versichertenindividuellen Berücksichtigung im RSA zu einer Reduktion regionaler Deckungsbeitragsunterschiede beitragen könnten.“ Drittens wird der Frage nachgegangen, ob über die Regionalkomponente auch „indirekte Kosteneffekte des regionalen Versorgungsangebots“ mit ausgeglichen werden, obwohl Angebotsvariablen nach dem Willen des Gesetzgebers im Regionalmodell ausgeschlossen sein sollen (S. XI).
Effekte der Regionalkomponente
Die Einführung der Regionalkomponente bestätigt die Vorhersagen des Gutachtens zu den regionalen Verteilungswirkungen des RSA aus dem Jahr 2018. Sie verbessert die Güte der Ausgabenschätzung (Deckungsbeiträge und -Quoten) auf individueller und auf versichertengruppenbezogener Ebene. Sie führt jedoch vor allem zu einer deutlichen Reduktion regionaler Über- und Unterdeckungen. Der Beirat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der RSA auch bereits ohne Regionalkomponente zwischen 55 und 60 Prozent der regionalen Ausgabenunterschiede erklärt. Die Regionalkomponente erkläre nun weitere 10 bis 15 Prozent und führe damit zu einer (erwünschten) Verringerung eventueller Anreize der Kassen zu einer regionalen Risikoselektion (S. XI und 95). „Der Regionalausgleich ist aus Sicht des Beirats daher prinzipiell geeignet, die regionalen Wettbewerbsbedingungen für die Krankenkassen anzugleichen.“ Gleichwohl sieht er die Gefahr, dass dadurch auch eine Nivellierung des regionalen Kassenhandelns ausgelöst wird. Außerdem sieht er sich veranlasst zu der Warnung, dass eine „vollständige regionale Ausgabendeckung jeder Krankenkasse“ nicht das Ziel der Regionalkomponente sein könne (S. XII).
Da die Datenbeschaffung und deren Aufbereitung im jährlichen Verfahren sehr aufwendig ist und Personal bindet, sich andererseits aber zeigt, dass die regionalstatistischen Merkmale im Zeitverlauf eine hohe Stabilität aufweisen, plädiert der Beirat für längere Abstände für die Anpassung der RGG-Variablenselektion (S. 96f.). Im Gutachten werden die Datenaufbereitung (S. 18ff.) und die „Ausgestaltung der Regionalkomponente“ (S 54ff.) ausführlich beschrieben: Zunächst wird jeder Versicherte einem Wohnort im Inland zugeordnet. Für die Auswertung entscheidend ist die Kreisebene. Rund 310.000 Versicherte konnten nicht eindeutig zugeordnet werden; sie wurden zusammen mit den ca. 340.000 Versicherten mit Aufenthalt im Ausland in einer besonderen RGG zusammengefasst (S. 19).
Nach § 8 Abs. 4 Sätze 4ff. RSAV legt das BAS die Zahl der regionalen Merkmale fest und wählt die entsprechenden Daten aus den öffentlich verfügbaren externen Quellen aus. „Regionale Merkmale, die sich auf die Angebotsstruktur beziehen, dürfen dabei nicht ausgewählt werden.“ (Satz 6) Die regionalstatistischen Merkmale, die einen inhaltlichen Erklärungsgehalt für regional unterschiedliche Ausgaben bzw. Deckungsbeiträge aufweisen, werden zunächst aus unterschiedlichen Datenquellen auf Kreisebene zusammengetragen. In einer Regression wird der Erklärungsbeitrag dieser Variablen für die Deckungsbeiträge auf Kreisebene errechnet. Um „Multikollinearitätseffekte auszuschließen, werden schrittweise diejenigen Variablen aus der Regressionsgleichung eliminiert, die einen Varianzinflationsfaktor größer zehn aufweisen. Nach Abschluss dieses iterativen Verfahrens werden die Variablen entsprechend ihres p-Wertes des letzten Regressionslaufs absteigend sortiert.“ (S. 54)
Für das Ausgleichsjahr 2021 wurden (nach § 2 Abs. 1 Satz 2, Nr.4 RSAV) „insgesamt acht regionale Merkmale zur Ausgestaltung der RGGs ausgewählt. Neben der mittleren Höhe der Sterbekosten … und der Höhe der regionalen Zuweisungen des Modells 2021 (ohne Regionalkomponente) … handelt es sich dabei um die sechs Merkmale zum Anteil der Pflegebedürftigen in ambulanter bzw. stationärer Pflege, den Anteil der Beschäftigten in personenbezogenen Dienstleistungsberufen, den Anteil kleiner und mittlerer Unternehmen, den Pendler- sowie den Gesamtwanderungssaldo in den einzelnen Kreisen.“ (S. 48f.) Von den zunächst zehn signifikantesten Variablen zur Erklärung der regionalen Deckungsunterschiede wurden die angebotsseitigen Merkmale „Facharztdichte“ und „Überversorgung“ ausgeschlossen (S. 62).
Für jedes Merkmal werden „dezilbezogen anhand der Merkmalsausprägungen der einzelnen Kreise“ zehn RGGs vorgesehen (bezogen auf die 40 Kreise mit der niedrigsten bis zu den 40 Kreisen mit der höchsten Ausprägung). Diese wiederum werden in einer – kreisbezogenen – Kombination aus den möglichen RGGs den jeweils in den Kreisen wohnhaften Versicherten zugeordnet. Daraus ergeben sich (bei acht verbliebenen Regionalmerkmalen) für das Klassifikationsmodell 80 RGGs plus eine für die Versicherten mit unbekanntem Wohnort und im Ausland (S. 55 und 62ff.).
Weitere versichertenindividuelle Merkmale
Zur Forschungsfrage Nr. 2 wird eingangs betont, dass der RSA grundsätzlich auf einer „versichertenbezogenen Betrachtung und mithin auf einem Ausgleich versichertenbezogener Ausgabenrisiken“ basiert. Die Regionalkomponente soll diese Betrachtung ergänzen. Der Aufwand für die Konstruktion dieser Komponente müsse jedoch – so betont der Beirat – in einem „angemessenen Verhältnis zu der durch sie erreichbaren Verbesserung des RSA-Verfahrens stehen.“ Damit stellt sich die Frage, ob und wieweit regionale Merkmale ggf. in versichertenindividuelle Merkmale überführbar sind. Dazu wird als Beispiel das Merkmal des Bezugs einer Erwerbsminderungsrente herangezogen (das zwar nicht mehr im RSA verwendet wird, aber die entsprechenden Meldedaten sind noch verfügbar). (S.XIII) Gerechnet wird einerseits mit dem Rentenbezug als individuellem Merkmal der Versicherten, andererseits mit dem regionalen Anteil „der Zahl der Erwerbsminderungsrentner an der Zahl der Versicherten im entsprechenden Alter“. Für die Kreise werden in dieser Modellrechnung dementsprechend zehn zusätzliche RGGs gebildet (ebenda). Wie zu erwarten war, ergibt sich bei der Zuordnung als Individualmerkmal eine „deutliche Verbesserung der Modellgüte auf individueller Ebene“. Bei der Berücksichtigung als Regionalmerkmal ergibt sich zwar (fast) „keine Veränderung der Gütemaße auf individueller Ebene …, allerdings … eine stärkere Verbesserung der regionalen Ausgabendeckung.“ Man wisse jedoch nicht, so der Beirat, ob sich die hier exemplarisch dargestellten „Wirktendenzen“ auch auf andere Merkmale übertragen lassen. (S. XIV)
Insoweit hält der Beirat hinsichtlich der Grundsatzfrage, ob die Regionalkomponente nicht insgesamt durch eine Erweiterung der versichertenindividuellen Merkmale ersetzt werden könnte, an der Beibehaltung einer Regionalkomponente fest (S.100). Darüber hinaus schlägt er aus der großen Zahl der „als Regionalmerkmal angedachten Faktoren“ eine ganze Reihe von Merkmalen zur Prüfung vor, die als Versichertenmerkmale die „versichertenindividuelle Vorhersagegüte des Klassifikationsmodells“ steigern könnten (z.B. Informationen zur Arbeitslosigkeit, zur Altersarmut, zum Versichertenstatus, zur Zuzahlungsbefreiung nach § 62 SGB V, zur Krankenhausverweildauer eines Versicherten im Vorjahr sowie zum höchsten Bildungsabschluss). (S. XIV) Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist das Votum zum Merkmal der Pflegebedürftigkeit, die ja als Regionalquote (ambulant und stationär) in die Regionalkomponente eingeht. Das Merkmal ließe sich ohne weiteres als Individualmerkmal operationalisieren (S. 101). Gleichwohl spricht sich der Beirat dagegen aus, es in die Prüfung als individuelle Variable einzubeziehen. Hier gebe es nämlich für die Kassen Manipulationsanreize und -Möglichkeiten (S. 117).
Indirekter Ausgleich der Angebotsstrukturen
Zur dritten Forschungsfrage stellt der Beirat einerseits fest, dass die jeweilige Dichte des medizinischen Angebots einen Einfluss auf die regionale Variation der Leistungsausgaben hat. Andererseits hätten die Kassen aber auch „in gewissem Umfang Einfluss auf das regionale medizinische Angebot“ (S. XIV). Es sei daher in der Fachdiskussion umstritten, ob und wieweit die regionale Versorgungsdichte als für die Krankenkassen nicht beeinflussbarer Faktor im Rahmen des RSA ausgeglichen werden sollte. Man befürchtet bei einem solchen Ausgleich z.B. die Subventionierung von Überversorgung; regionale Effizienzanstrengungen der Kassen würden entmotiviert etc. Vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber die Einbeziehung von Angebotsvariablen in die Regionalkomponente ausgeschlossen. Nun war die Frage, ob im seit 2021 praktizierten Verfahren nicht doch indirekt ein Ausgleich auch von Angebotsstrukturen stattfindet.
Auf der Basis von Modellrechnungen mit diversen Informationen zur Angebotsstruktur (Hausarzt- und Facharztdichte, Krankenhausbettendichte, Anzahl der verfügbaren Pflegeheimplätze etc.) kommt der Beirat zu dem Schluss, dass „ein nicht unerheblicher Anteil der angebotsbezogenen Deckungsunterschiede (indirekt) ausgeglichen“ wird (S. XV). Dafür wird ein Neutralisierungsverfahren vorgeschlagen.
4. Untersuchung zur Verwendung von Leistungsausgaben der Vorjahre als zusätzliche Variablen im BAS-Klassifikationssystem[11]
Vor dem Hintergrund einer bereits längeren Fachdiskussion (S. 3ff.) hat der Gesetzgeber im GKV-FKG das BAS beauftragt, „den Zusammenhang zwischen den Leistungsausgaben eines Versicherten in den vorangegangenen drei Jahren (Leistungsausgaben der Vorjahre) und den Leistungsausgaben eines Versicherten im Ausgleichsjahr 2019“ zu analysieren. „Gleichzeitig wurde die Rechtsgrundlage für die Übermittlung der notwendigen Daten geschaffen.“ (S. XII) Nach umfangreichen (Plausibilitäts-)Überprüfungen weisen die Daten eine ausreichende Repräsentativität für die vorgesehene Untersuchung auf. Neben den Standard-Bewertungskriterien (r2, CPM und MAPE auf unterschiedlichen Ebenen etc.) wurden „zusätzliche Bewertungskriterien“ eingeführt (Auswirkungen für das Klassifikationssystem: Anzahl der Hierarchieverletzungen, Anzahl negativer HMG-Schätzer etc.). (S. XIII)
Für versichertenindividuelle Leistungsausgaben zeigt die Datenanalyse, „dass für die Versicherten sowohl am unteren als auch am oberen Rand der Verteilung dieser Leistungsausgaben eine hohe Persistenz im Zeitverlauf besteht. Diese ist insbesondere für Versicherte mit extrem hohen Leistungsausgaben in einem Berichtsjahr stark ausgeprägt.“ In dem betrachteten Zeitraum steigen die mittleren Leistungsausgaben je Versicherten stark an. Das gilt insbesondere für die Leistungsausgaben in den höheren und höchsten Bereichen (ebenda). So entfallen auf „die kostenintensivsten 10% der Versicherten … mehr als 60% der Leistungsausgaben bzw. auf das kostenintensivste Promille der Versicherten sechs Prozent aller Ausgaben über alle Berichtsjahre hinweg. Die Daten zeigen außerdem eine Überdeckung bei den 90% der Versicherten mit den niedrigsten Leistungsausgaben im direkten Vorjahr bzw. eine Unterdeckung bei den kostenintensivsten 10% der Versicherten.“ Das BAS sieht hier für die Kassen erhebliche Risikoselektionsanreize (S. XIV).
Methodisches
Aufgrund der Verteilung der Leistungsausgaben (ohne Krankengeld) werden die Versicherten nach Perzentilen (und nicht nach festen Euro-Beträgen) klassifiziert (LAoKG-Klassen). Das erst macht den Vergleich über mehrere Jahre möglich. Aus der „deskriptiven Analyse“ der Ausgabenklassen „werden sieben Risikogruppen für die Leistungsausgaben der Vorjahre, die sog. LVGs, gebildet. Es gibt fünf Gruppen für den oberen Rand der Leistungsausgabenverteilung („Top-Gruppen“) und zwei Gruppen für den unteren Rand („Bottom-Gruppen“). Eine versicherte Person kann keine oder maximal eine dieser LVGs aufweisen, d.h., nicht jede versicherte Person erhält eine LVG.“
Die höchste LAoKG-Klasse entspricht 0,1 Prozent der Versicherten (99,9. Perzentil) mit Leistungsausgaben im Jahr 2018 von mehr als 88.000 Euro. Die zweithöchste Klasse entspricht 0,25% der Versicherten (99,75. Perzentil) mit mehr als rund 59.000 Euro Ausgaben etc. Die niedrigste Klasse mit fünf Prozent der Versicherten hatte 2018 nur 32 Euro Ausgaben (oder weniger). Die zweitniedrigste Klasse hatte 58 Euro Ausgaben (oder weniger) (S. 61).
In einem zweiten Schritt geht es darum, in welcher Verknüpfung diese Leistungsausgabenklassen in die Regression aufgenommen werden. „Diese unterscheiden sich hinsichtlich der Art und Weise, wie viele Vorjahre zur Einteilung der Risikogruppen herangezogen werden“ und nach weiteren Nebenbedingungen (Muss die jeweilige Leistungsausgabenklasse in allen betrachteten Jahren erreicht worden sein oder welche Abweichungen sind zulässig? etc.) (S. XIV)
Hier wurden sieben Modelle mit verschiedenen Bedingungs-Variationen durchgerechnet. „Alle untersuchten Modelle sind grundsätzlich in der Lage, die Zielgenauigkeit der Zuweisungen auf individueller, krankenkassenbezogener und regionaler Ebene zu verbessern und damit die Risikoselektionsanreize zu verringern.“ Allerdings in recht unterschiedlichem Ausmaß. Zum Beispiel verwendet „Modell 1“ nur die Informationen des direkten Vorjahres; Modelle mit LVGs auf Basis von Leistungsausgaben aus mehreren Vorjahren sind dagegen effizienter. Daher wird Modell 1 verworfen. Wenn die Informationen aus mehreren Vorjahren einfließen, verbessert sich z.B. auch der Deckungsbeitrag von Versicherten mit Erwerbsminderungsstatus oder für Versicherte mit extrakorporaler Blutreinigung. Was in Anbetracht der zugrundliegenden Erkrankungen hochplausibel ist.
Ein anderer Grund für das Ausscheiden von Modellen ist ein zu hoher „Anpassungsbedarf des Klassifikationssystems“, der durch ihre Anwendung ausgelöst würde (u.a. die medizinische Kohärenz betreffend). In allen Modellen behalten übrigens die beiden Bottom-Gruppen positive Deckungsbeiträge und bleiben damit attraktive Risiken für die Kassen. Schließlich hält das BAS zwei Modelle für „grundsätzlich empfehlenswert“: Wenn die Voraussetzungen für eine LVG in den beiden direkten Vorjahren bzw. in zwei von drei Vorjahren erfüllt sind (S. XVI). Im Rahmen einer vertieften Analyse wurde auch die Wechselwirkung zwischen Risikopool und LVGs untersucht: „Es lässt sich festhalten, dass sich die meisten Kennzahlen durch die Verwendung der LVGs stärker verbessern als durch den Risikopool für sich allein betrachtet.“ (S. XVII)
Ergebnis und Bewertung des Beirats
Den „zentralen Nutzen der Verwendung von LVGs“ sieht das BAS darin, dass Risikoselektionsanreize gegen dauerhaft kostenintensive Versicherte weiter reduziert werden. Das käme vor allem den schwerstkranken und multimorbiden Versicherten zugute. Und insbesondere Versicherten, „die von neuartigen medizinischen Therapien profitieren, welche aber aufgrund des sachlich bedingten Zeitverzugs der Weiterentwicklung des Klassifikationssystems nur mit großer Verzögerung abgebildet werden können“, sowie Versicherten, „die kostenintensive Arzneimitteltherapien über mehrere Jahre erhalten, welche ausschließlich im Krankenhaus verabreicht werden und zu denen deshalb im RSA keine Verordnungsdaten vorliegen.“ (auch S. 118)
Diese Verbesserungen hätten allerdings ihren Preis: „Im Vergleich zum Status quo-Modell erfordern alle erweiterten Modelle zusätzliche Daten. … Die Einführung von LVGs würde eine erhöhte Komplexität durch einen weiteren Verfahrensbaustein in das Ausgleichsverfahren einbringen sowie zusätzlichen Aufwand nach sich ziehen.“ In der vorliegenden Untersuchung bleiben außerdem unberücksichtigt: u.a. die Wirkung der in den Vorjahren Verstorbenen, die Auswirkungen auf die Regionalkomponente und den HMG-Ausschluss. Weitere Untersuchungen zu diesen Aspekten und zum administrativen Auswand etc. seien erforderlich. „Sofern der Gesetzgeber die Einführung von LVGs in Erwägung zieht, sollte aus Sicht des Bundesamtes für Soziale Sicherung diese Entscheidung erst auf Grundlage dieser weiteren Untersuchungen erfolgen.“ (S. XVIIf.)
Die Untersuchung trägt insgesamt den Charakter einer Machbarkeitsstudie. Die Autoren bezeichnen z.B. die Festlegung der Perzentilgrenzen für die den LVGs zugrundeliegenden Leistungsausgabenklassen selbst als „explorativ“[12]. Die vorgenommene Festlegung erscheint zwar plausibel, man könnte das aber auch ganz anders machen. Das gilt auch für die Auswahl und Bildung der Modelle (S. 63), die eher zufällig durch die zur Verfügung stehenden Daten der Vergleichsjahre geprägt ist. Da die Datenverfügbarkeit zunimmt, könnte man z.B. auch die Einbeziehung der vergangenen fünf Jahre diskutieren etc.
5. Gesamtbewertung und Fazit
Die drei Gutachten sind sehr sorgfältig, differenziert und methodisch anspruchsvoll. Sie sind ausführlich und bieten eine Fülle von Material, das allen, die an einer Änderung des RSA interessiert sind, viele Argumente liefert. Dass „gesunde“ Versicherte im RSA gute Risiken sind und bleiben, wissen die Kassen aber ohnehin. Dass Erwerbsminderungsrentner trotz des Morbiditäts-Vollmodells schlechte Risiken bleiben, wird mit den Gutachten mehrfach bestätigt. Die Knappschaft und die AOKen haben sich schon mehrfach für die Wiederaufnahme der Erwerbsminderungs-Gruppen in den RSA und für die Aufnahme weiterer Versichertenmerkmale in das Berechnungssystem ausgesprochen.[13] Das gilt auch für Multimorbidität und die Zuzahlungsbefreiung der „Härtefälle“, die ja auch im Vorschlagskatalog des Beirats enthalten sind.
Eine eigenartige Rolle spielt hier der Faktor Pflegebedürftigkeit, dessen Aufnahme in den RSA ebenfalls von den AOKen und der Knappschaft gefordert wird. Im Beiratsgutachten zur Regionalkomponente wird zwar seine Relevanz bestätigt, die Berücksichtigung im RSA aber abgelehnt, weil hier Manipulationsmöglichkeiten der Kassen bestünden. Bei der Präsentation des Gutachtens auf der 8. Gesundheitsfonds-Veranstaltung erläuterte Prof. Leonie Sundmacher diese Bedenken. Die Kassen könnten – mit ihrem Einfluss auf die Medizinischen Dienste – die Begutachtung beeinflussen und sogar mit ihrer Entscheidung zum Pflegegrad über die Empfehlungen des MD hinausgehen. Insoweit wäre der Pflegegrad als Individualmerkmal ungeeignet. Dabei ließe sich das Problem – sofern sich dieses Handeln der Kassen überhaupt nachwiesen ließe – ganz einfach durch den Verzicht auf den genauen Pflegegrad lösen. Die ja/nein-Frage, ob Pflegebedürftigkeit überhaupt vorliegt, wäre pragmatisch und würde schon erhebliche Verbesserungen bringen[14]. – Bei allen diesen Merkmalen geht es den verschiedenen Kassengruppen zunächst einmal um die lobbyistische Aufgabe, die entsprechenden Datenmeldungen in Gesetz und RSAV zu verankern.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass sich die 97. Gesundheitsministerkonferenz (am 13. Juni) für eine „Überprüfung der Ausgewogenheit des Risikostrukturausgleichs“ ausgesprochen hat (TOP 5.4)[15]. NRW-Gesundheitsminister Laumann hat das in der anschließenden Pressekonferenz auf die „vulnerablen Gruppen“ zugespitzt (Multimorbide, Menschen mit geringem Einkommen (Zuzahlungsbefreite, Bürgergeldbezieher etc.)).
Gleichzeitig gibt es eine Bundesrats-Initiative aus Baden-Württemberg, die die schleppenden Prüfverfahren des BAS zum Effekt der Diagnosemanipulationen (Betreuungsstrukturverträge etc.) aus den Jahren 2013ff. beenden will.[16] Es bleibt abzuwarten, ob diese „Schlussstrich-Initiative“ zugunsten der AOKen im Plenum des Bundesrats Erfolg haben wird.
Manche Erwägungen von Beirat und BAS zu den Risikoselektionsstrategien der Kassen erscheinen überzogen und wirklichkeitsfremd. Denn alle Kassen werben gleichermaßen um die Jungen und Gesunden, und fürchten die Schwerkranken. Schon dieses Interesse ist als Marketing-Maxime schwer genug zu operationalisieren und praktisch relevant umzusetzen. Die Versicherten wählen ihre Kasse jedenfalls selbst und es herrscht Kontrahierungszwang. Jede – zwangsläufig verdeckt und heimlich anzulegende – gezieltere Risikoselektion wäre so aufwendig (und letztlich spekulativ), dass ihr Ertrag kaum zu kalkulieren wäre. Immerhin deutet der Beirat an mehreren Stellen an, dass die Kassen bei Risikoselektion diese Kosten-Nutzen-Abwägung anstellen müssten.
Vor diesem Hintergrund muss man sich noch einmal vergegenwärtigen, dass der RSA ein Hilfsinstrument zur Regulierung des Kassenwettbewerbs ist. Die Kassen sollen damit faire Bedingungen erhalten, unabhängig von den bei ihnen versicherten Risiken. Inzwischen tut sich hier jedoch ein krasser Widerspruch auf: Der RSA wird methodisch immer filigraner, er tendiert zum „Selbstzweck für Methodik-Interessierte“[17]. Die Lektüre der Gutachten wird im Detail zum Glasperlenspiel für statistisch-mathematisch engagierte Freaks. Parallel dazu werden jedoch in der realen Welt die Wettbewerbsmöglichkeiten der Kassen immer weiter eingeschränkt. Kassenwettbewerb findet immer weniger statt; Verträge werden vereinheitlicht; Initiativen zu Innovationen werden im Innovationsausschuss zentralisiert etc. In der Politik ist bei allen Parteien Wettbewerb nicht mehr erwünscht. Ist es daher letztlich nicht Zeit für die (regionale?) Einheitskasse? Bei der man den ganzen RSA nicht mehr braucht? Noch traut sich im politischen Raum niemand, diese an sich naheliegende Konsequenz auszusprechen.
[1] https://www.versicherungsjournal.de/markt-und-politik/gkv-zusatzbeitrag-steigt-2025-auf-mindestens-2-2-prozent-151151.php
[2] https://www.bkk-dachverband.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/finanzielle-notlage-der-gkv-spitzt-sich-weiter-zu-was-fehlt-zahlen-die-beitragszahler
[3] Ebenda.
[4] Siehe Robert Paquet: https://observer-gesundheit.de/finanzierungskrise-der-sozialversicherungen/
[5] Bundesamt für Soziale Sicherung: Tätigkeitsbericht 2023, S.90 https://www.bundesamtsozialesicherung.de/fileadmin/redaktion/allgemeine_dokumente/Taetigkeitsbericht2023_barrierefrei.pdf
[6] Ebenda S. 93
[7] Siehe auch den Report zur 8. Gesundheitsfonds-Veranstaltung des GKV-Spitzenverbandes und des BAS zur Präsentation der Gutachten am 10. Juni 2024: https://www.observer-mis.de/data/exchange/REPORT/Report_141_GKV-SV_RSA_10.6.24.pdf
[8]https://www.bundesamtsozialesicherung.de/fileadmin/redaktion/Risikostrukturausgleich/Wissenschaftlicher_Beirat/20240513_Gutachten_HMG_Ausschluss_RSA.pdf
[9] BAS 2024, S. 94
[10]https://www.bundesamtsozialesicherung.de/fileadmin/redaktion/Risikostrukturausgleich/Wissenschaftlicher_Beirat/20240513_Gutachten_Regionale_Merkmale_RSA.pdf
[11]file:///C:/Users/paquet/Documents/RSA%20und%20Finanzierung%20der%20GKV/RSA%2020240513_Gutachten_BAS_Untersuchung_LA_Vorjahre.pdf
[12] Gesundheitsfonds-Veranstaltung des GKV-Spitzenverbandes und des BAS zur Präsentation der Gutachten am 10. Juni 2024
[13] Z.B. Wolfgang Ropertz, Verwaltungsratsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg (Arbeitgeberseite) in G+G, Ausgabe 7-8/2024, Seite 37
[14] Siehe auch Klaus Jacobs: „Jacobs‘ Weg: Risikostrukturausgleich: Beirat springt zu kurz“, in G+G, Ausgabe 6/2024, Seite 39
[15] https://www.gmkonline.de/Beschluesse.html?id=1574&jahr=2024
[16] Bundesrats-Drucksache 331/24
[17] Klaus Jacobs, a.a.O.
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