18.06.2024
Rettet die Pflegeversicherung
Schnelles Handeln der Ampel für Pflegebedürftige erforderlich
Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK
Knapp 30 Jahre nach der Einführung der Pflegeversicherung steht diese vor einer ungewissen Zukunft. Es drohen steigende Beiträge und Leistungskürzungen. Deshalb muss die Finanzierung dringend reformiert werden – und zwar jetzt.
Dass das Finanzierungssystem der Pflegeversicherung am Limit ist, wissen auch der Bundeskanzler und sein Gesundheitsminister. Dennoch sind sie offenbar uneinig, wann eine Reform in Angriff genommen werden kann: Karl Lauterbach lässt in einem Interview Ende Mai verlauten, dass er daran in dieser Legislatur nicht mehr glaubt, da die Positionen in der Koalition zu weit auseinanderliegen. Olaf Scholz hingegen kündigt wenige Tage später bei einem Bürgergespräch in Thüringen an, die Regierung mache sich schnellstmöglich an die Arbeit. Warten wollte er nur noch auf ein Papier mit Empfehlungen für eine stabile und dauerhafte Finanzierung der Pflegeversicherung, das unter Leitung des Bundesgesundheitsministeriums bis Ende Mai ausgearbeitet sein sollte. Doch die Wochen vergehen und zumindest öffentlich ist von dem Papier keine Spur zu sehen.
Doch mit jeder Woche, die verstreicht, wird die Reform der Pflegeversicherung dringender. Weitere kurzfristige Finanzspritzen führen nur zu höheren Beiträgen für Versicherte und weniger Leistungen für Pflegebedürftige. Eine stabile Finanzierung ist nicht nur für eine bezahlbare Pflege wichtig, sondern auch der Grundstein für den dringend nötigen Umbau der Langzeitpflege. Vorhandene stationäre und ambulante Angebote reichen bereits heute nicht mehr aus. Aufgrund fehlenden Pflegepersonals scheut sich der Markt, neue Angebote aufzubauen. Gleichzeitig brechen vor allem im ambulanten Bereich unzählige Angebote weg. Die hohe Nachfrage führt dazu, dass Pflegebedürftigen die Unterversorgung droht oder sie sogar schon unterversorgt sind. Angehörige fangen das nicht nur auf, sondern stemmen die Pflege teils sogar allein und sind so extremen Belastungen ausgesetzt.
Pflegende Angehörige leisten immer mehr
Eine aktuelle Befragung der AOK macht deutlich, dass der Bedarf immer weiter steigt: Der Teil der Pflegenden, der sich mehr Unterstützung bei Körperpflege, Ernährung und Mobilität wünscht, ist zwischen 2019 und 2023 von 50 auf 63 Prozent angestiegen. Gleichzeitig müssen Angehörige immer mehr leisten: Lag der durchschnittliche wöchentliche Zeitaufwand in der häuslichen Pflege 2019 noch bei 43 Stunden, sind es jetzt bereits 49. Am stärksten von der hohen Arbeitsbelastung betroffen sind Haushalte, in denen Menschen mit Demenzerkrankung oder Menschen ab Pflegegrad 3 betreut werden. Die Hälfte aller Pflegenden, die in Teilzeit beziehungsweise stundenweise arbeiten, gibt an, ihre Arbeitszeit aufgrund der Übernahme der Pflege reduziert zu haben. Ein Drittel aller Pflegenden ist aus diesem Grund sogar gar nicht erwerbstätig. Das betrifft vor allem Frauen. Wie der VdK in einer Studie belegt, sind mehr als 70 Prozent der Pflegenden weiblich. Zudem pflegen 37 Prozent ihre Angehörigen länger als fünf Jahre und 80 Prozent sorgt sich dabei um den eigenen gesundheitlichen Zustand.
Vor allem in der häuslichen Pflege, wo die meisten Pflegebedürftigen betreut werden und die Kosten nur unzureichend durch staatliche Hilfen aufgefangen werden, fehlen finanzielle Mittel. Die Leistungen, auf die Pflegebedürftige einen Anspruch haben, reichen hinten und vorn nicht aus. Es fehlen einerseits die Angebote, andererseits sind die Anträge kompliziert und halten eher davon ab, dass Leistungen in Anspruch genommen werden. Die Anpassungen reichen bei Weitem nicht aus, die Anfang des Jahres beispielsweise bei den Leistungen der ambulanten Versorgung, also Unterstützungsleistungen von Pflegebedürftigen und Angehörigen, gemacht wurden – und die ohnehin viel zu spät kamen. Die letzte Anpassung des Pflegegelds war beispielsweise bereits sieben Jahre her.
Eine Pflegeversicherung für alle
Um umfangreiche Strukturreformen anzustoßen und so auch neue Versorgungsformen zu ermöglichen, bedarf es einer stabilen Finanzierung der Pflege. Die Regierung muss endlich dafür sorgen, dass die Last auf die gesamte Gesellschaft verteilt wird, die die Aufgabe zusammen meistern kann und muss. Nur über eine breite Basis an Beitragszahlenden kann die Pflege in Zeiten des demografischen Wandels für alle gewährleistet werden. Ein Nebeneinander von gesetzlicher und privater Pflegeversicherung ist in Anbetracht der Herausforderungen nicht vermittelbar. Wir brauchen eine Pflegeversicherung für alle, in die auch Beamtinnen und Beamte, Abgeordnete und Selbstständige einzahlen. Flankierend dazu müssen alle Einkunftsarten wie Vermögenseinkommen, Gewinne und Mieteinkünfte in die Beitragsrechnung einbezogen werden, damit Menschen mit viel Vermögen auch ausgewogen viel zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die Pflege in Zukunft zu sichern, beitragen. Zudem sollte die Beitragsbemessungsgrenze angehoben werden. Im Moment trägt die Pflegeversicherung viel zu viele versicherungsfremde Leistungen. Auch das muss sich dringend ändern. Leistungen wie Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige, Beiträge zur Arbeitslosenversicherung oder Kosten der beruflichen Pflegeausbildung sollten durch Steuermittel finanziert werden. Die Bundesländer müssen zudem endlich ihrer Finanzverantwortung bei der Investitionsförderung der Pflegeeinrichtungen nachkommen. Bis heute passiert das nur teilweise, was nicht nur die Pflegebedürftigen belastet, sondern auch den Ausbau und Erhalt von pflegerischer Infrastruktur blockiert.
Die Regierung muss noch in dieser Legislatur die Reform der Pflegeversicherung ganzheitlich angehen. Ansonsten droht nur weitere Flickschusterei, die die Situation immer weiter verschärft. Die Zeit drängt. Jede Woche, die verstreicht und in der keine Entscheidung über die grundsätzliche Ausrichtung einer Reform getroffen wird, macht die Umsetzung der Reform immer unwahrscheinlicher. Das Wegschauen einiger Politiker, den Reformprozess jetzt anzugehen, ist Bürgerinnen und Bürgern in Anbetracht der schon drohenden weiteren Erhöhung des Beitragssatzes nicht vermittelbar. Es wäre die zweite Beitragsanhebung in dieser Legislatur. Die Regierung muss endlich zeigen, dass sie sich dem Thema ernsthaft annimmt und die Menschen mit ihren Sorgen und der Angst vor einer Pflegebedürftigkeit nicht alleinlässt.
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