Regierungsfraktionen stoppen verbesserte Patientensteuerung in der Notfallversorgung

Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi)

Handstreichartig ist am 24. Mai im Gesundheitsausschuss des Bundestages im Rahmen der Änderungsanträge zum Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) auch über eine Änderung des gesetzlichen Auftrags an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) nach § 120 Abs. 3b SGB V abgestimmt worden. Damit wird das Ziel einer verbesserten Patientensteuerung in der Notfallversorgung zur Entlastung der Notaufnahmen überraschend geschwächt. 

Zum Hintergrund: Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) ist die Abrechnung ambulanter Behandlungen in Notaufnahmen der Krankenhäuser perspektivisch davon abhängig gemacht worden, dass Krankenhäuser auf Basis einer G-BA-Richtlinie Hilfesuchende, die sich selbständig in der Notaufnahme vorstellen, zuerst strukturiert medizinisch einschätzen, um die Voraussetzung für eine Behandlung durch die Notaufnahme zu prüfen.

Vertragsärztlich behandelbare Patienten sollten entsprechend in die vertragsärztliche Versorgung weitergeleitet werden. Der G-BA wurde mit dem GVWG in § 120 Abs 3b SGB V beauftragt bis zum 20. Juli 2022 Vorgaben zur Ersteinschätzung und ggf. Weiterleitung von Patienten ohne sofortigen Behandlungsbedarf in die vertragsärztliche Versorgung zu beschließen. Mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz ist die Frist im September 2022 bis zum 30. Juni 2023 verlängert und die Aufgabenstellung präzisiert worden. Dies wurde mit dem Fehlen eines geeigneten Ersteinschätzungsverfahrens begründet. Schon damals hatte aber die Deutsche Krankenhausgesellschaft in ihrer Stellungnahme zum wiederholten Male vorgeschlagen, Absatz 3b in Gänze zu streichen und stattdessen eine „große Reform“ der Notfallversorgung abzuwarten.

 

Massiver Eingriff in die Rechtsgrundlage

Kurz vor der absehbaren Beschlussfassung des G-BA erfolgt nun ein massiver Eingriff in die Rechtsgrundlage: Gestrichen wird die Weiterleitung vertragsärztlich behandelbarer Hilfesuchender in Vertragsarztpraxen oder Medizinische Versorgungszentren (MVZ). Weitergleitet werden kann nur noch an eine KV-Notdienstpraxis am jeweiligen Standort (auch nicht mehr an das MVZ am Krankenhaus). Die Richtlinie Ersteinschätzung erhält somit alleinige Wirkung für den Zeitraum, in dem eine KV-Notdienstpraxis am jeweiligen Standort besetzt ist. Hierfür brauchte es bisher keine Richtlinie.

Der eigentliche Auftrag bestand vielmehr darin, eine rechtssichere Möglichkeit für die Weiterleitung derjenigen Hilfesuchenden zu schaffen, die sich mit weniger dringlichen und in Praxen behandelbaren Anliegen tagsüber während der allgemeinen Praxisöffnungszeiten in Notaufnahmen vorstellen. Dabei geht es gar nicht um eine große Zahl von Patienten – bundesweit ist es ein Anteil der rund rund 4,4 Millionen ambulant zwischen 7 und 19 Uhr in Notaufnahmen behandelten Patienten. Pro Stunde sind das auch in großen Notaufnahmen im Schnitt nur ein bis zwei Patienten pro Stunde. Dennoch würden die Notaufnahmen deutlich entlastet, da auch die Selbsteinweiser nach Daten des AKTIN-Notaufnahmeregisters im Schnitt drei Stunden in der Notaufnahme verbringen.

 

Richtlinie Ersteinschätzung steht nicht in Konflikt mit Zielen der Notfallreform

Am frühen Nachmittag stauen sich dann in der Regel unzufriedene Patienten in der Notaufnahme, die in einer Arztpraxis besser aufgehoben wären. An vielen Stellen ist deshalb engagiert daran gearbeitet worden, die notwendigen empirischen Belege dafür zu generieren, dass eine solche Weiterleitung auf Basis einer geeigneten Ersteinschätzung sicher erfolgen kann. Mit der Rechtsänderung sind die Notaufnahmen nunmehr zur Behandlung verpflichtet und damit zurück in einer Situation, die seit 2015 beklagt wird: In einer vermeidbaren Belastung der Notfallversorgung, die zudem nicht ausreichend finanziert ist.

Begründet wird diese Änderung mit der Aussicht auf eine Notfallreform, die das Ziel haben soll, die Steuerung möglichst weit vor eine Selbstvorstellung im Krankenhaus zu legen. Etwa durch einen Anruf in künftigen integrierten Rettungsleitstellen bzw. durch die Einrichtung von integrierten Notfallzentren (INZ) gemäß dem Vorschlag der Regierungskommission. Warum die Richtlinie Ersteinschätzung in einem Konflikt mit den Zielen einer Notfallreform stehen soll, ist nicht ersichtlich. Vielmehr würde das Ziel der Steuerung der Patienten zur richtigen Zeit an den richtigen Ort die Versorgung nur sinnvoll ergänzt. Eine rechtssichere Weiterleitungsmöglichkeit wäre perspektivisch sogar ein notwendiges Element, mindestens eine hilfreiche Option, um die knappen Ressourcen der Notfallversorgung zu schützen, denn auch die geplanten Maßnahmen einer Notfallreform haben ihre Schwachstellen. Hierzu zwei Überlegungen:

  • Zweifellos wäre eine künftige Regelung zu begrüßen, die Versicherte dazu anhält, ihr Anliegen vor einer Selbstvorstellung in der Notaufnahme telefonisch oder digital durch eine Leitstelle prüfen zu lassen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mit einer deutlichen Steigerung des Beratungsaufkommens zu rechnen wäre, für das erst noch geeignete Kapazitäten geschaffen sowie die bilaterale digitale Fallweitergabe zwischen 112 und 116117 flächendeckend eingerichtet werden müssen. Zudem muss sich das Inanspruchnahmeverhalten erst noch ändern. Somit wird erst in einigen Jahren mit Effekten zu rechnen sein.
  • Was die Einrichtung von INZ angeht, so ist zu bedenken, dass eine Besetzung der INZ nach dem Konzept der Regierungskommission mit Vertragsärzten mit dem Effekt verbunden sein wird, dass zur Gewährleistung der Dienste während der Praxisöffnungszeiten und der Ruhezeiten erhebliche Personalkapazitäten aus der Regelversorgung genommen werden müssten. Dies wird das Angebot der Regelversorgung weiter schwächen. Vor dem Hintergrund, dass das Reservoir der potenziellen Akutfälle in der Regelversorgung rund das 10-Fache der bisher in Notaufnahmen und im Bereitschaftsdienst versorgten Fallzahlen beträgt, dürften die geplanten INZ aufgrund der zu erwartenden Sogeffekte letztlich nicht zu einer Entlastung, sondern einer zunehmenden Belastung der Notaufnahmen führen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Möglichkeit einer Weiterleitung von vertragsärztlich behandelbaren Fällen in die vertragsärztliche Versorgung grundsätzlich entfällt und damit sowohl der Entlastungs- wie der Lerneffekt für die Hilfesuchenden gänzlich wegfällt.

 

Fehlsteuerung wird verstetigt

Wie auch immer man die möglichen Erfolge der ausstehenden Notfallreform beurteilen mag, so scheint mit der Neuregelung zu § 120 Abs. 3b SGB V das „Kind mit dem Bade ausgeschüttet“, denn damit wird selbst die Option auf eine rechtssichere Weiterleitung abgeschnitten. Eigentlich müssten sich an dieser Stelle die Leiter der großen Notaufnahmen kritisch zu Wort melden. Aus Sicht der Vertragsärzte ist zu beklagen, dass damit eine Fehlsteuerung verstetigt wird, zu deren Lösung künftig auf die Arbeitszeit der Vertragsärzte als Verfügungsmasse zurückgegriffen werden soll, anstatt ressourcensparende Lösungen zu ermöglichen. Das passt eigentlich nicht mehr in ein Gesundheitswesen, das absehbar unter massiven Personalengpässen in allen Bereichen leidet.


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