Pharma 2023: Dornige Chancen

Sebastian Hofmann, Redakteur Observer Datenbank, Observer Gesundheit

Die Rahmenbedingungen für den Absatz von Arzneimitteln in Deutschland ändern sich. Für neue Wirkstoffe gibt es verschärfte gesetzliche Vorgaben zur Preisbildung. Für Generika ist eine Reform in Planung: Karl Lauterbach will für höhere Preise sorgen. In beiden Marktsegmenten bricht die Politik mit Grundsätzen.

Die Anbieter von Arzneimitteln müssen prüfen, ob ihre Geschäftsmodelle für den Absatz in Deutschland zu den neuen Rahmenbedingungen passen. Das könnte Auswirkungen auf das Angebot und damit auf die Versorgung mit Arzneimitteln haben. Weitere Entwicklungen erhöhen die Unwägbarkeiten. Die Industrie startet 2023 in eine ungewisse Zukunft.

 

Zeitenwende für Generika

Unerwartet kommt der – bisher nur angekündigte – Wandel im Markt für Generika. Bisher galt der ordnungspolitische Rahmen für patentfreie Arzneimittel wegen seiner traumhaften Sparerfolge als sakrosankt. Seit Jahrzehnten nutzt die Politik den Wettbewerb der Hersteller, um die Kosten für die Versorgung mit Generika auf das betriebswirtschaftliche Minimum zu drücken. Bei Ausschreibungen der Krankenkassen („Rabattverträge“) kommt i.d.R. nur der weltweit billigste Anbieter zum Zuge. Alle anderen sind für zwei Jahre außen vor. Abseits der Ausschreibungen erstatten die Krankenkassen nur einen Durchschnittspreis, der „Festbetrag“ heißt. Hier sorgt der Anreiz „Bei Preisnachlass entfällt die Zuzahlung“ für eine stetige Preisspirale nach unten. Rabattverträge und Festbeträge sorgen so für eine spektakulär günstige Generikaversorgung in der GKV. Die Mehrzahl der Packungen verlässt das Werk für weniger als einen Euro. Diese weltweit einmalige Versorgung zum Schnäppchenpreis läuft mit wenigen Ausnahmen hervorragend. Es gibt Hersteller, die das Geschäftsmodell „Produktion zu weltweiten Niedrigstpreisen“ sehr gut beherrschen.

Diese industrielle Meisterleistung droht nun in Verruf zu geraten. Karl Lauterbach zeigte sich Ende 2022 empört, dass Krankenkassen immer nur bei den allerbilligsten Herstellern einkaufen würden. Aus aktuellem Anlass beklagte der Minister, die Reserven an Fiebersäften gingen nach Holland, weil dort bessere Preise gezahlt würden; Deutschland sei kein attraktiver Markt. Diese Erkenntnis ist bei ruhiger Betrachtung wenig überraschend. Jedem muss klar sein, dass bei einer auf Effizienz getrimmten Beschaffung keine Reserven bestehen. Exogene Faktoren, wie eine Infektionswelle bei Kindern, führen dann unweigerlich zur Knappheit. Auf dem Weltmarkt folgen die Reserven dem Preis. Deutschland hat das Nachsehen. Geradezu spektakulär ist jedoch das implizite Eingeständnis des Ministers, dass Deutschland (hier: die GKV) ein attraktiver Markt sein muss, um eine gewohnt sichere Versorgung mit Arzneimitteln zu gewährleisten. Das ist neu. Dem beliebten Klischee, Deutschland sei und bleibe auf ewig ein Pharmaparadies, trat noch kein Minister öffentlich entgegen. Nun fragt man sich: Führt die Fiebersaft-Krise zur neuen Ehrlichkeit? Kommt es gar zur generischen Zeitenwende und die Industrie wird zum umworbenen Handelspartner? Dazu lohnt sich der Blick auf die Eckpunkte zur Reform des Generikamarktes. Zwei Schwerpunkte scheinen besonders relevant.

 

Neue Geschäftsmodelle mit Fragezeichen

Das Eckpunktepapier, das am Höhepunkt der Fiebersaft-Krise präsentiert wurde, stellt Arzneimittel für Kinder in den Mittelpunkt. Begünstigt werden sollen „Arzneimittel, die für die Sicherstellung der Versorgung von Kindern erforderlich sind“. Für diese Arzneimittel soll der Preisdruck abgeschwächt werden, u.a. durch ein Verbot von Rabattverträgen. Das Problem: Es gibt für Kinder-Arzneimittel kein rechtssicheres Kriterium. Kinder werden seit jeher Off-Label versorgt. Da niemand Zulassungsstudien an Kindern (zusätzlich) honorieren will, sind die meisten Arzneimittel nicht für Kinder zugelassen, was bedeutet: Es gibt keine vom Hersteller in Studien erforschte Dosierungsempfehlung. Haus-, Fach- und Kinderärzte müssen sich anderweitig behelfen, z.B. mit Empfehlungen der Fachgesellschaften oder eigenen Schätzungen (kleiner Mensch – kleine Dosis). Das bedeutet für die Pläne des Ministers: Eine Begünstigung anhand des Kriteriums „für Kinder zugelassen“ ist nicht sinnvoll, da dies nur einen kleinen Teil der notwendigen Arzneimittel erfassen würde.

Was also tun? Naheliegend wäre es, die pädiatrischen Fachgesellschaften um eine Aufstellung von erforderlichen Arzneimitteln zu bitten. Falls eine solche Definition überhaupt möglich ist, dürfte deren Empfehlung kaum schnell vorliegen. Wissenschaftlicher Diskurs braucht Zeit, und die Frage scheint heikel (welche Indikationen will man denn bei Kindern als „nicht erforderlich“ weglassen?). Kommt es zu einer rechtssicheren und praktisch umsetzbaren Definition der begünstigten Kinder-Arzneimittel, ergäbe sich für Hersteller auf diesem Teilmarkt die Chance auf höhere Erträge. Vorerst scheint das politisch gewollte „Geschäftsmodell Pädiatrische Wirkstoffe“ aber noch auf wackligen Beinen zu stehen.

Industriepolitisch ambitioniert wartet das Eckpunktepapier auf mit einem neuen Kriterium für Rabattverträge. Bei Ausschreibungen für Onkologika und Antibiotika soll ein gesonderter Zuschlag erteilt werden – für den höchsten Anteil an Wirkstoffproduktion in Europa. Nachdem der weltweite Preisdruck die aufwändige Produktion von Wirkstoffen weitgehend nach Asien abwandern ließ, soll nun die Industrie zurück auf europäischen Boden gelockt werden. „Wirkstoff made in EU“ wäre ein neues bzw. reanimiertes Geschäftsmodell für die Hersteller der begünstigten Arzneimittel.

Dies scheint grundsätzlich möglich, erklärte doch kürzlich Kai Rossen, Chef der Wirkstoffproduktion des Herstellers Sanofi, das notwendige Know-how sei in Europa noch vorhanden; Sanofi produziert selbst an mehreren Standorten in der EU Wirkstoffe. Ob die Industrie das Angebot „mehr Geld für Wirkstoffe made in EU“ tatsächlich aufgreift, dürfte jedoch davon abhängen, ob und wie die Preise in diesem gesonderten Zuschlag begrenzt werden. Die Gretchenfrage: Wieviel mehr Geld soll es dafür geben? Selbst bei einer Verdoppelung des Preises (z.B. von 6 Cent auf 12 Cent je Tagesdosis) dürften sich neue Produktionsanlagen auf europäischem Boden nicht lohnen. Ganz ohne Regulierung wird dieses Konstrukt aber auch nicht bleiben. Gibt es bei einer Ausschreibung nur einen Hersteller, der den Wirkstoff made in EU anbieten kann, hätte dieser ansonsten Preisfreiheit in dem neuen Los – ein Schrecken für jeden Gesundheitspolitiker. Man darf also gespannt sein, wie der Gesetzentwurf ausgestaltet wird. Im BMG ist plötzlich industriepolitische Expertise gefragt – nach Jahrzehnten reiner Sparpolitik. Das könnte der Grund sein, warum der Minister ein „wirklich kompliziertes Gesetz“ angekündigte. Das Ausdenken attraktiver Geschäftsmodelle für die Pharma-Industrie gehörte bislang nicht zu den Kernkompetenzen seines Ministeriums.

 

Privileg auf dem Prüfstand

Während für Generika bislang nur ein Grobkonzept vorliegt, wurde der Rahmen für neue Wirkstoffe mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz bereits rechtsverbindlich geändert. Die bestechende Logik der Reform aus 2011 (AMNOG) wurde auf Sprung-Innovationen beschränkt. Für die häufigeren Schritt-Innovationen wurden gesetzliche Vorgaben zur Preisbildung eingeführt. Der Preis orientiert sich hier nicht mehr am therapeutischen Vorteil (Zusatznutzen), sondern am Preis der vorgegebenen Vergleichstherapie. Zusätzlich sind Kürzungen von 10 bis 20 % vorgesehen. Damit verschlechtern sich die Absatzerwartungen für neue Wirkstoffe deutlich. Das könnte Auswirkungen auf das Angebot in Deutschland haben. Fraglich ist, ob und wann neue Wirkstoffe hierzulande auf den Markt kommen werden. Bisher galt der deutsche Markt für Neueinführungen als attraktiv. Sofort nach der Zulassung ist ein Arzneimittel in GKV und PKV erstattungsfähig; dieser Vorteil bleibt bestehen. Für die ersten 12 Monate galt der Preis des Herstellers; dies wurde nun auf sechs Monate verkürzt. Nach der Einführung folgt ein strenges und international anerkanntes Verfahren der Nutzenbewertung; auch hieran hat sich nichts geändert. Das Ergebnis der Bewertung (Zusatznutzen) war anschließend Grundlage für freie Verhandlungen über den Preis; dieses Prinzip wurde stark eingeschränkt und teilweise durch starre Spar-Vorgaben ersetzt. Welche Auswirkungen sind nun zu erwarten?

Die bis 2022 herrschenden Konditionen hatten dazu geführt, dass Innovationen aus aller Welt in Deutschland sofort eingeführt wurden. Deutschland war eines der „First Launch Countries“. Der sofort erzielbare Preis in Deutschland wurde von den Herstellern gerne genutzt als Referenz für die Preisverhandlungen in anderen Ländern – bisher. Die internationale Ausstrahlung des deutschen Preises überträgt die Auswirkungen des Spargesetzes auf die Umsätze in anderen Ländern. Das stellt das gewohnte Privileg des sofortigen Zugangs zu Innovationen in Frage. Minister Lauterbach betonte zwar mehrfach, die Kürzungen stellten keine Leistungskürzung dar. Er vergaß aber zu erwähnen, dass jede Leistung ein Angebot voraussetzt. Ein Hersteller, der befürchtet, sich in Deutschland die Preise für andere Länder kaputt zu machen, könnte auf eine frühe Einführung und den damit verbundenen frühen Umsatz verzichten wollen. Wohlgemerkt: könnte. Das Kalkül der internationalen Headquarter dürfte auch in Zukunft ein gut gehütetes Geheimnis bleiben. Sicher ist nur, dass der deutsche Markt in den Unternehmen einer Neubewertung unterzogen werden muss. Vielleicht bringt das Jahr 2023 hierzu erste Erkenntnisse, ob das Geschäftsmodell „First Launch Germany“ Bestand haben wird.

 

Analytische Vielfalt: Welcher Nutzen darf´s denn sein?

Bisher war zur Bewertung von neuen Wirkstoffen der Vergleich mit einer vom G-BA gesetzten Vergleichstherapie das Maß aller Dinge. Dies ändert sich nun durch die Spruchpraxis des G-BA. Bereits seit 2011 hat der G-BA die Möglichkeit, einen neuen Wirkstoff einer Festbetragsgruppe zuzuordnen. Diese Option ruhte bislang; der G-BA machte vor wenigen Monaten erstmals davon Gebrauch. Das hat Folgen. Nach den Regeln des Festbetragssystems kann sich ein Hersteller gegen die Vergütung mit dem Festbetrag nur dann wehren, wenn er eine „therapeutische Verbesserung“ belegen kann. Das wirkt auf den ersten Blick unproblematisch. Wer gute Daten für den Beleg eines „Zusatznutzens“ (nach AMNOG-Regime) hat, dürfte auch eine „therapeutische Verbesserung“ (nach Festbetrags-Regime) belegen können. Das Problem: In einer Festbetragsgruppe können Arzneimittel mehrerer Wirkstoffklassen zusammengefasst werden, und eine therapeutische Verbesserung muss gegenüber allen Wirkstoffklassen belegt werden. Das bedeutet: Die Studie für das AMNOG-Verfahren (Vergleich mit einer Vergleichstherapie) wird wertlos, und der Beleg des Zusatznutzens führt nicht zur Preisverhandlung. Als Preis gilt dann der Festbetrag (der als Durchschnittpreis aller Arzneimittel der Gruppe berechnet wird). Gerade Hersteller mit guten wissenschaftlichen Daten könnten ein solches Ergebnis als „Bruchlandung nach Erstattungs-Sabotage“ empfinden. Der G-BA nimmt dem Hersteller über eine Verfahrens-Option den verdienten Erfolg – völlig korrekt. Willkommen in Deutschland?

Das Festbetrags-Regime scheint aber auch Vorteile für Hersteller neuer Wirkstoffe zu bieten. Dem Vortrag von Josef Hecken im Rahmen der ersten G-BA-Plenumssitzung in 2023 war zu entnehmen, dass eine „therapeutische Verbesserung“ leichter belegt werden kann als ein „Zusatznutzen“. Wenn dem tatsächlich so ist, könnte der neu eröffnete (Festbetrags-) Verfahrensstrang auch zur Entlastung von Herstellern führen. Dieser Vorteil läge allerdings im Ermessen des G-BA, der ganz nach eigenem Gusto entscheidet, ob er die Option Festbetrag zieht, oder nicht. Das Problem: Diese Verästelungen deutscher Erstattungssystematik versteht nun wirklich niemand mehr, schon gar nicht Entscheider in internationalen Headquarters. Das „Geschäftsmodell Neuer Wirkstoff“ scheint in Deutschland langsam zum Abenteuer zu werden. Und Abenteuer mag nicht jeder.

Für bekannte Wirkstoffe hat der Gesetzgeber nun auch ein Fortschritts-Label eingeführt: Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz bringt die „Verbesserung der Versorgung“. Dies betrifft v.a. Arzneimittel aus dem Bestandsmarkt, die – als Neuheit – eine zusätzliche therapeutische Option bieten, z.B. ein neues Anwendungsgebiet. In diesem Fall dürfen die Hersteller mit dem GKV-Spitzenverband einen höheren Preis vereinbaren und sich damit aus dem Preismoratorium befreien.  Dieses unerwartete Entgegenkommen an die Industrie hat allerdings einen scharfen Haken: Der Hersteller muss das Preisangebot des GKV-Spitzenverbandes faktisch akzeptieren. Es gibt keine Konfliktlösung über die Schiedsstelle. Scheitern die Verhandlungen bleibt dem Hersteller nur ein vollständiges Verfahren zur Nutzenbewertung (mit Dossierpflicht und allen Unwägbarkeiten). Auf den pharmazeutischen Mittelstand, dessen Domäne die Forschung an bekannten Wirkstoffen ist, dürfte diese Option daher wenig inspirierend wirken. Antje Haas vom GKV-Spitzenverband bemüht sich bereits um Erwartungs-Management; als Hüterin des Preismoratoriums hält sie die Ausnahme nur bei 2 bis 5 Arzneimitteln für relevant. Das dürfte zu wenig sein für ein neues Geschäftsmodell.

 

Ausblick

Das Jahr 2023 birgt für die Arzneimittelversorgung erhebliche Unwägbarkeiten. Die AMNOG-Reform wurde beschlossen unter der Annahme „wir kürzen die Preise und trotzdem bleibt alles gleich“. Ob diese These sich bewahrheitet, entscheiden private Unternehmen in ihren Zentralen. Deren Kalkül ist unbekannt. Die Generika-Reform wurde eilig konzipiert, um die Empörung über fehlende Fiebersäfte zu glätten. Karl Lauterbach hat eine schnelle Lösung versprochen. Das Konzept wirft jedoch Fragen auf.

Hinzu kommt: Die Rahmenbedingungen sind denkbar problembeladen. In 2023 müssen die milliardenschweren Defizite in der Kranken- und Pflegeversicherung einer Lösung zugeführt werden. Die „Entökonomisierung“ im Krankenhaus muss mit Milliarden abgefedert werden. Die niedergelassenen Ärzte treten mit eigenen Forderungen auf den Plan. Christian Lindners Bekenntnis zur Schuldenbremse versperrt den Weg zu mehr Geld aus dem Bundeshaushalt. Der Bundesgesundheitsminister steuert auf eine Pleite zu und wird in absehbarer Zeit unter massiven Druck geraten.

Ob Lauterbach dann noch zu seiner Ankündigung steht, für Generika „mehr Geld in die Hand zu nehmen“, scheint zumindest fraglich. Auch die Anbieter neuer Wirkstoffe können sich – trotz der AMNOG-Reform – nicht wirklich sicher fühlen. Im Oktober 2022 hatte Lauterbach erstmals den Begriff der „Übergewinne“ für Marktneuheiten eingeführt. Wird die Luft erst dünn, lässt sich dieser Kampfbegriff schnell wieder aktivieren, v.a. wenn man „ohne jede Leistungskürzung“ sparen will. Damit steht dem Arzneimittelmarkt ein unruhiges Jahr bevor – mit möglichen Auswirkungen auf die Versorgung. Da hilft nur noch liberaler Trost. Christian Lindner (FDP) hatte schon als Schüler eine wegweisende Erkenntnis: „Probleme sind nur dornige Chancen.“ An Dornen wird es 2023 wahrlich nicht mangeln.

 

Lesen Sie weitere Beiträge vom Autor zu diesem Themenbereich:

„AMNOG ade – Pharma ante Portas?“, Observer Gesundheit, 4. November 2022

„AMNOG ade?“, Observer Gesundheit, 19. September 2022

„Patentfreie Arzneimittel: Die Aussichten ändern sich – von unfreundlich auf nebulös“, Observer Gesundheit, 12. Januar 2022


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