Pflegereform muss telefonische Pflegebegutachtung ermöglichen

Carola Engler, stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Medizinischen Dienstes Bund

Die Einführung des erweiterten Begriffs der Pflegebedürftigkeit 2017 und die demografische Entwicklung haben dazu geführt, dass mehr Menschen Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung haben. In der Folge ist die Zahl der Pflegebedürftigen in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Und sie wird weiter steigen. Damit einhergehend nimmt auch die Zahl der jährlichen Pflegebegutachtungen durch die Medizinischen Dienste weiter zu. Für die Versicherten und den Medizinischen Dienst wird sich damit die ohnehin schon angespannte Situation in der Pflegebegutachtung weiter verschärfen.

Um sicherzustellen, dass die Versicherten zeitnah begutachtet werden und rechtzeitig Zugang zu den Leistungen erhalten, fordern die Medizinischen Dienste die sofortige Wiedereinführung der Telefonbegutachtung. Diese hat sich in der Corona-Pandemie bewährt und kann vor allem bei Höherstufungsbegutachtungen eine Begutachtung im Hausbesuch ersetzen. Durch das Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) hat der Gesetzgeber jetzt die Chance zur rechtssicheren Einführung von weiteren Begutachtungsformaten. Diese darf im Sinne der Versicherten nicht verpasst oder verzögert werden.

Wenn Versicherte Leistungen aus der Pflegeversicherung beantragen, beauftragen die Pflegekassen den Medizinischen Dienst mit einer Begutachtung. Der Medizinische Dienst prüft dabei, ob Pflegebedürftigkeit vorliegt und empfiehlt einen der fünf Pflegegrade. Das Sozialgesetzbuch XI sieht vor, dass die Pflegebegutachtung im Hausbesuch zu erfolgen hat.

 

Mehr Pflegebegutachtungen, weniger Pflegefachkräfte

Allein zwischen 2016 und 2021 ist die Zahl der Pflegebedürftigen von 3,1 Millionen auf fünf Millionen gestiegen (61 Prozent). Das Statistische Bundesamt prognostiziert in seiner aktuellen Vorausberechnung einen weiteren Anstieg an pflegebedürftigen Menschen auf bis zu 6,3 Millionen bereits im Jahr 2035 (27 Prozent). Die jährlichen Begutachtungszahlen der Medizinischen Dienste sind von 1,8 Millionen in 2016 auf 2,6 Millionen in 2022 gestiegen. In den ersten beiden Monaten 2023 lagen die Begutachtungsaufträge um 20 Prozent höher als im Vorjahr.

Die Pflegebegutachtungen führen qualifizierte Pflegefachkräfte durch. Auf die steigenden Begutachtungszahlen in den vergangenen Jahren haben die Medizinischen Dienste mit erheblichen Personalverstärkungen und Optimierungen in den Abläufen reagiert. Die Anzahl der Vollzeitstellen für Pflegefachkräfte in den Medizinischen Diensten ist zwischen 2016 und 2021 bundesweit um 43 Prozent gestiegen. Doch reichen diese Anstrengungen nicht aus, um zukünftig alle Begutachtungen zeitnah im Hausbesuch durchführen zu können. Und angesichts des Mangels an Pflegefachkräften sind weitere Neueinstellungen schwierig. Zudem stehen die Medizinischen Dienste dabei in Konkurrenz zu Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern. Der Fachkräftemangel in der Pflege wird sich durch die demografische Entwicklung weiter verschärfen. Ein schonender Umgang mit der kostbaren Ressource Pflegekraft ist deshalb dringend geboten.

 

Flexible Begutachtungsformate für schnelleren Zugang zu Leistungen

Um der steigenden Zahl von Anträgen auf Pflegeleistungen gerecht zu werden und sicherzustellen, dass Betroffene zeitnah begutachtet werden und Leistungen erhalten, fordern die Medizinischen Dienste die Einführung flexibler Begutachtungsformate. Dabei geht es in erster Linie um die telefonische Begutachtung, die bereits in der Corona-Pandemie erfolgreich eingesetzt wurde. Perspektivisch ist auch eine Begutachtung per Video denkbar, wobei dafür ein flächendeckendes W-LAN notwendig ist.

Für den Schutz der besonders verletzlichen Gruppe der Pflegebedürftigen vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus haben die Medizinischen Dienste während der Pandemie die Begutachtung mithilfe vorliegender Unterlagen und eines strukturierten Telefoninterviews durchgeführt. Es hat sich gezeigt, dass die telefonische Begutachtung eine gleichwertige Alternative zum Hausbesuch sein kann: Die Pflegegradverteilung blieb bei der Anwendung des strukturierten Telefoninterviews bundesweit stabil, und die Zufriedenheit der Versicherten mit diesem Begutachtungsformat war genauso hoch wie bei den Hausbesuchen.

Das Telefoninterview eignet sich vor allem für die Begutachtung von Höherstufungsanträgen. Die Zahl der Höhestufungsbegutachtungen hat sich zwischen 2016 und 2022 von 0,6 Millionen auf 1,2 Millionen verdoppelt. Höherstufungen beantragen Pflegebedürftige, deren Unterstützungsbedarf zugenommen hat und die zu einem früheren Zeitpunkt bereits im Hausbesuch begutachtet wurden. Häufig betroffen sind Personen, die an fortgeschrittenen Krebserkrankungen oder fortschreitender Demenz leiden. In solchen Situationen geht es darum, eine zügige Begutachtung ohne Belastung für die Betroffenen zu ermöglichen, damit sie schnellstmöglich Leistungen erhalten. Die Vorteile des Telefoninterviews überwiegen hier die des Hausbesuches.

Während der Pandemie haben die Medizinischen Dienste außerdem Videobegutachtungen bei Versicherten in Pflegeeinrichtungen getestet: auch dies mit positivem Ergebnis. Aktuell läuft eine große Forschungsstudie des Medizinischen Dienstes Bund in Zusammenarbeit mit der Universität Bremen, in der die Eignung, Güte und Einsatzmöglichkeit der Videobegutachtung wissenschaftlich untersucht werden.

 


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