Pandemie braucht Ordnung

Dr. Manuela Rottmann MdB, Ordentliches Mitglied und Obfrau im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, stellv. Mitglied im Gesundheitsausschuss, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Die Autoren des zwanzig Jahre alten Infektionsschutzgesetzes hatten keine Pandemie vor Augen. Die Regelungen waren dazu gedacht, lokale Masernausbrüche oder mal einen Salmonellenbefall zu bewältigen, nicht aber den Ausbruch eines gefährlichen, auch durch symptomlose Personen übertragbares Virus einzudämmen. Obwohl es eine Risikoanalyse für einen solchen Fall gab, wurde keine Schutzausrüstung eingelagert. Obwohl in der Fachliteratur schon Jahre vor der Pandemie darüber diskutiert wurde, dass etwa für den Zugang zu knappem Impfstoff eine gesetzliche Impfpriorisierung braucht, fehlten solche Regelungen bis Ende 2020.

Klar ist: Eine grundlegende Reform vor dem Hintergrund der Erfahrungen dieser Pandemie ist bis zum Ende der Legislaturperiode nicht mehr möglich. Viele der dafür notwendigen Fragen sind noch nicht einmal andiskutiert – etwa, wie in einem solchen Fall die Lasten innerhalb der Wirtschaft zu verteilen sind und welche Entschädigungsprinzipien dafür gelten müssen. Für eine solch grundlegende Reform müssen aber jetzt die Vorarbeiten beginnen. Erneut – entgegen den Risikoeinschätzungen der Wissenschaft – zu hoffen, dass es nicht noch einmal so schlimm kommen wird, wäre fatal. Sich auf Pandemien vorzubereiten, heißt auch, den dafür nötigen Rechtsrahmen zu schaffen.

 

Covid-Sonderrechtsregime kaum noch überschaubar

Die COVID-19-Pandemie ist jedoch nicht vorbei. Auch in den nächsten Monaten, vielleicht sogar in den nächsten Jahren brauchen wir Instrumente, um auf Gefährdungen reagieren zu können, etwa durch Mutanten. Selbst wenn das Virus durch Impfungen kontrollierbar ist, wird die Bewältigung der Folgen in ganz anderen Bereichen – bei den Leistungserbringern im Gesundheitswesen, bei sozialrechtlichen Ansprüchen oder bei den Unternehmen, noch viel länger dauern.

Seit Auftreten des COVID-19-Virus im Frühjahr 2020 in Deutschland ist der Rechtsrahmen immer wieder hektisch verändert und schnell nachgebessert worden. Das hat zu einem COVID-19-Sonderrechtsregime geführt, das kaum noch überschaubar ist. Betroffen sind so unterschiedliche Materien wie Regelungen zu Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften, zum Anspruch auf Witwen- und Waisenrente bis zu Verordnungsermächtigungen zum Arbeitsschutz. Auch im Infektionsschutzrecht selbst ist neben den vieldiskutieren Eingriffsermächtigungen zur Verhängung von Kontaktbeschränkungen oder Schulschließungen vieles andere mit Pandemiebezug geregelt: Leistungsansprüche für Eltern bei Ausfall der Kinderbetreuung oder die Ermächtigung in die Ausübung von Gesundheitsberufen einzugreifen.

Teilweise sind diese Regelungen verfassungsrechtlich problematisch. Art. 80 Abs. 1 Grundgesetz schreibt vor, dass das zugrunde liegende Parlamentsgesetz Inhalt, Zweck und Ausmaß der an die Regierung erteilten Verordnungsermächtigung selbst bestimmen muss. Dem genügen etliche Verordnungsermächtigungen im Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung nicht: Denn dort wird dem Bundesgesundheitsminister pauschal erlaubt, von gesetzlichen Regelungen abzuweichen.

 

Konkrete Vorgaben müssen an konkrete Gefahrenlage angebunden werden

Der zentrale Mangel des aktuellen Corona-Sonderrechts liegt jedoch darin, dass es weitgehend an der sogenannten epidemischen Lage von nationaler Tragweite anknüpft. Diese Lage liegt gemäß § 5 Abs. 1 S. 6 Infektionsschutzgesetz vor, wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland besteht. Grund für diese ernsthafte Gefahr kann entweder sein, dass die Weltgesundheitsorganisation eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausgerufen hat und die Einschleppung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit in die Bundesrepublik Deutschland droht oder dass eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland droht oder stattfindet. Sie muss vom Bundestag festgestellt werden.

Viele der für die Dauer einer epidemischen Lage geltenden Regelungen und Ermächtigungen werden jedoch auch dann gebraucht, wenn keine solche ernsthafte Gefahr mehr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik aktuell ist. Sei es, weil sich das Infektionsgeschehen wieder stark lokalisiert, sei es, weil zwar Ansteckungen stattfinden, die Gefährdung des Gesundheitswesens aber durch die Erfolge der Impfung abgewendet werden kann. Auch dann brauchen wir aber gegebenenfalls Vorgaben für Test- und Quarantänepflichten bei der Einreise aus Hochrisikogebieten, für sozialrechtliche Ansprüche oder für die Verteilung anderer Kosten.

Das geltende Corona-Sonderrecht muss also jetzt durchgekämmt werden, um die konkreten Vorgaben an die konkrete Gefahrenlage anzubinden. Vielleicht ergibt sich bei der Bewertung der Regelungen sogar, dass die eine oder andere Corona-Sonderregelung sogar jenseits von Pandemielagen vernünftig sein könnte: So ermöglicht § 5a Infektionsschutzgesetz für die Dauer der epidemischen Lage die Ausübung heilkundlicher Tätigkeiten auch für nichtärztliche Berufe. Die Stärkung der Kompetenzen nichtärztlicher Berufe ist aber eine auch jenseits einer pandemischen Lage diskussionswürdige Frage.

 

Lesen Sie auch zum Thema den Kommentar „Handlanger für den Notstandsstaat“ von Fina Geschonneck und Prof. Dr. Andreas Lehr, 12. Juni 2021.


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