Orphan Drug Regelung: Erfolge bewahren

Die Industrie braucht verlässliche Anreize, keine neuen Kategorien

Dipl.-Kfm. Martin Völkl, Director Market Access & Corporate Affairs, Celgene GmbH

Die Kritik an der Orphan Drug Regelung des AMNOG[1] ist so alt wie die Regelung selber. Das erstaunt, denn sie ist – im Verbund mit der europäischen Regelung – ein großer Erfolg für die Patienten: Wurden vor dem Jahr 2000 kaum Arzneimittel für seltene Leiden in Europa entwickelt und zugelassen, so hat sich dies durch die auf europäischer Ebene geschaffenen Anreize grundlegend geändert. Inzwischen stehen fast 150 Präparate gegen seltene Erkrankungen zur Verfügung. Bei geschätzt bis zu 8.000 seltenen Erkrankungen kann dies aber nur der Anfang sein. Eine aktuelle Studie zur Verfügbarkeit von Arzneimitteln für seltene Leiden stellte fest, dass bei den Aspekten “Verfügbarkeit” (über 90%) und der “Zeit bis zur Verfügbarkeit” (3 Monate) Deutschland das führende Land in Europa ist.[2]

 

Kritische Haltung des G-BA

Trotz oder vielleicht auch wegen dieser Erfolge forderte der Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA): „Für Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen, […] brauchen wir strengere Bewertungsstufen, damit das Orphan-Privileg des Gesetzgebers, der einen Zusatznutzen bis zu einem Umsatz von 50 Millionen Euro garantiert, nicht zum Fehlanreiz für die Industrie wird, weniger Daten bereitzustellen.[3] Einige Monate danach ist in den G-BA-Beschlüssen für den ein oder anderen Wirkstoff zu lesen, dass das Ausmaß des Zusatznutzens „allein aus rechtlicher Sicht“ als nicht quantifizierbar eingeschätzt wird.

 

Strenge Anforderungen an Orphan Drugs

Gibt es ohne strengere Bewertungsstufen wirklich den Anreiz der Industrie, weniger Daten bereitzustellen? Dazu lohnt sich ein Blick in das Kleingedruckte: Zunächst gibt es für Orphan Drugs per se keine vereinfachten Zulassungsbedingungen. Um beschleunigt, unter Bedingungen oder besonderen Umständen zugelassen zu werden, muss es dieselben Kriterien erfüllen, wie alle anderen Arzneimittel auch. Bei der Vergabe des Orphan Drug Status prüft die europäische Zulassungsbehörde EMA nicht nur, ob die Erkrankung selten ist und ob sie tödlich oder sehr schwer ist, sondern bereits auch den Zusatznutzen des Präparates. Dabei fragt sie, ob es sich um die erste Therapie handelt oder – wenn es bereits eine Behandlungsmöglichkeit gibt –, ob das Präparat einen erheblichen Zusatznutzen für die Patienten hat. Da der G-BA europarechtlich an diese Zusatznutzen-Bewertung der EMA gebunden ist, erkennt der deutsche Gesetzgeber den belegten Zusatznutzen an. Hierdurch wird zudem die Förderung von Orphan Drugs auf nationaler Ebene fortgesetzt und eine Doppelregulierung vermieden.

 

Die Methodik im Zielkonflikt

Der Kern der Diskussion geht demnach um die Methodik zur Bewertung von Orphan Drugs. Der G-BA scheint der Auffassung zu sein, dass diese im Wesentlichen nicht anders sein soll als bei „normalen“ Arzneimittel. Aus dieser Perspektive ist es verständlich, dass man glaubt, die Hersteller würden bei Arzneimitteln für seltene Leiden zu wenig Daten bereitstellen.

Entscheidungen über den Zusatznutzen von Orphan Drugs können in einer anderen Perspektive – die sich in den Entscheidungen der EMA wiederfindet – als ein Zielkonflikt zwischen zwei Risiken („risk-risk-trade-off“) aufgefasst werden. Das Risiko, eine Erkrankung nicht oder mit unzureichenden Therapien zu behandeln, muss gegen die Risiken einer falsch positiven oder falsch negativen Bewertung abgewogen werden: Mehr und bessere Daten verringern zwar einerseits das Risiko falsch positiver Entscheidungen (man würde eine Therapie positiv bewerten, obwohl sie tatsächlich keinen (Zusatz)-Nutzen hat). Andererseits kann diese Forderung die Zeit verlängern, bis Innovationen die Patienten erreichen, und damit die Anreize zur Innovation senken und das Risiko falsch negativer Bewertungen (man würde eine Therapie negativ bewerten, obwohl sie tatsächlich einen (Zusatz)-Nutzen hat) erhöhen. Im AMNOG geht dies einher mit niedrigeren Preisen und mehr Marktrücknahmen bzw. nicht erfolgten Ausbietungen trotz Zulassung.

 

Förderung ist sinnvoll und notwendig

Bei der Abwägung zwischen diesen beiden Risiken spricht bei seltenen Erkrankungen viel dafür, das Krankheitsrisiko hoch zu gewichten: Die Erkrankungen sind tödlich oder schwer und selten. Dadurch ist ihre Erforschung schwierig: wenig Patienten, wenig Zentren, wenig Wissen, ethische Grenzen. Ohne Förderung und Anreize würde sich Forschung betriebswirtschaftlich meist nicht lohnen. Es liegt deshalb in der Natur der Sache, dass es zu Orphan Drugs oft weniger Daten gibt. Aus der „Zielkonflikt-Perspektive“ sollte diesen Besonderheiten auch in der Zusatznutzenbewertung Rechnung getragen werden.

 

Europäische Maßstäbe für den ersten Schritt

EMA und G-BA scheinen aufgrund unterschiedlicher Perspektiven uneinig zu sein über das notwendige Ausmaß an Daten, um einen Zusatznutzen bei Orphan Drugs zu gewähren. Die Industrie kann jedoch nicht beiden Perspektiven gleichzeitig gerecht werden und wird sich im ersten Schritt immer an die in ganz Europa geltenden EMA-Vorgaben orientieren müssen. Dies führt dann unvermeidlich zu Problemen im AMNOG.

 

Anreize erhalten, um weitere Therapien möglich zu machen

Inwieweit nun die Einführung der Zusatznutzen-Kategorie „Zusatznutzen allein aus rechtlicher Sicht“ die Verfügbarkeitsquote von Oprhan Drugs in Deutschland negativ beeinflusst, darüber lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt natürlich noch keine Aussage treffen. Gerade bei Orphan Drugs sollten jedoch alle Veränderungen der Rahmenbedingungen – ob durch untergesetzliche Normen wie hier erfolgt oder durch den Gesetzgeber – stets berücksichtigen, dass es ausreichend verlässliche Anreize benötigt, um weiter in die Erforschung von seltenen Erkankungen zu investieren. Die bisherigen Regelungen haben den betroffenen Patienten einen schnellen und umfassenden Zugang zu neuen Arzneimitteln für seltene Leiden ermöglicht. Allerdings fehlen für die meisten der etwa 8.000 seltenen Leiden immer noch Therapien. Es spricht deshalb viel dafür, diese Erfolge zu bewahren, denn wir stehen erst am Anfang.

 

[1] „Orphan Drugs“ sind Arzneimittel, die zur Diagnose, Prävention oder Behandlung von lebensbedrohlichen oder sehr schweren Krankheiten, die selten sind, bestimmt sind. Selten ist eine Erkrankung, wenn weniger als 5 von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Die Orphan Drug Regelung des AMNOG besagt, dass für diese Arzneimittel der Zusatznutzen bis zu einer Umsatzgrenze von 50 Mio. € als belegt gilt.

[2] Detiček et al., Patient Access to Medicines for Rare Diseases in European Countries, Value in Health 2018, https://doi.org/10.1016/j.jval.2018.01.007

[3] G-BA aktuell, Nr. 1 / Januar 2018, https://www.g-ba.de/institution/service/publikationen/newsletter/154/


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