Organspende: „kleine“ Widerspruchslösung für Hornhautgewebespenden als Zukunftsoption

Prof. Dr. med. habil. Thomas F. Neuhann, Gründer MVZ Prof. Neuhann GmbH und Gründer der Hornhautbank München, Mitglied im OcuNet Verbund

Die Nachfrage nach Organspendeausweisen ist Anfang des Jahres enorm gestiegen. Ob sie zahlreich ausgefüllt werden und zwar zustimmend? Oder ob der Großteil irgendwann im Papierkorb landet? Keiner kann dies vorhersagen. 2019 sank die Zahl der gespendeten Organe in Deutschland auf knapp 3.000. Die Zahl der Gewebespenden lag 2016 einem Bericht der Bundesregierung zufolge hingegen bei fast 57.000. Allein 7.300 Hornhäute wurden transplantiert. Die offenbar höhere Akzeptanz von Gewebespenden in der Bevölkerung könnte man nutzen, um nur dafür eine Widerspruchslösung einzuführen. Die gerade überarbeitete Entscheidungslösung wird nicht die Effekte haben, die sich ihre Befürworter erhoffen. Eine „kleine“ Widerspruchslösung für den Bereich der Gewebespenden würde es erlauben, Erfahrungen damit zu sammeln und Ängste abzubauen. Dies könnte die Basis für eine spätere „große“ Widerspruchslösung sein.

Die mangelnde Bereitschaft der Bundesbürger, Organe zu spenden beziehungsweise die Organe von Angehörigen zur Spende freizugeben, wird seit Jahren thematisiert. 2019 sank die Zahl der Spender von 955 auf 932, die der gespendeten Organe von 3.113 auf 2.995. Diese Zahlen hat die Deutsche Stiftung Organtransplantation Anfang des Jahres vorgelegt. Derzeit hoffen viele, dass sich daran bald etwas ändern wird.

 

Suche nach mehrheitsfähigen Spendenlösungen erforderlich

Allein die Diskussionen im Vorfeld der gesetzlichen Neuregelung scheinen etwas bewirkt haben: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat im Januar mehr als doppelt so viele Organspendeausweise verschickt wie sonst in einem Monat, nämlich rund 740.000. Mit dem „Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft der Organspende“ will die Politik forcieren, dass Menschen eine Entscheidung treffen; Mitte Februar hat der Bundesrat dem Vorhaben zugestimmt. Zum 1. April 2019 ist bereits das „Zweite Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes – Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende“ in Kraft getreten. Es sieht unter anderem strukturelle und finanzielle Verbesserungen für Entnahme- und Transplantationskliniken vor und soll mit dazu beitragen, dass bestehende Mängel auf dieser Ebene behoben werden.

Gründe genug also, sich optimistisch zurückzulehnen? Nein. Es wird Jahre dauern, bis sich zuverlässig abzeichnet, ob die Gesetzesänderungen genug bewirken konnten. Deshalb wäre es sinnvoll, weiter nach Spendenlösungen zu suchen, die in der Gesellschaft mehrheitsfähig sind. Und bei denen man nicht auf dauerhafte Verhaltensänderungen der Bürger hoffen muss, sondern positive Erkenntnisse im Umgang mit Gewebespenden nutzt. Zumindest Hornhautspenden sind für die Bevölkerung offenbar weniger problembehaftet als Organspenden, so die Erfahrung von Augenärzten. „Die Bereitschaft der Menschen, nach ihrem Tod Augenhornhäute oder anderes Gewebe wie bestimmte Blutgefäße zu spenden, ist ungleich höher als die von ganzen Organen“, hat die Universitätsklinik Dresden kürzlich anlässlich einer Ausstellung über Hornhauttransplantationen berichtet. Deshalb wäre es eine Zukunftsoption, umgehend über eine Art „kleine“ Widerspruchslösung für Gewebespenden nachzudenken. Man könnte in einem begrenzten Bereich Erfahrungen mit der Widerspruchslösung sammeln und, darauf aufbauend, in späteren Jahren eine „große“ Lösung vorsehen, das heißt, die Widerspruchslösung für den gesamten Bereich der Organ- und Gewebespende einführen.

 

Besonderheit bei Hornhauttransplantaten

Dieser Vorschlag beruht auf jahrelangen guten Erfahrungen mit Hornhauttransplantationen in Deutschland. Die Eingriffe mit den Spenden Verstorbener werden rund 7.300 Mal pro Jahr durchgeführt; sie sind die häufigste Übertragung von Gewebe am Menschen und viel häufiger als alle Organtransplantationen zusammen. Organisiert wird dies über mehrere gemeinnützige Hornhautbanken. Hornhauttransplantate stammen immer von verstorbenen Menschen. Eine Besonderheit ist aber, dass sie noch bis zu 24 Stunden nach der endgültigen Feststellung des Todes entnommen werden können. Das bedeutet: Aus medizinischen Gründen ist für eine Hornhauttransplantation die Hirntod-Diagnostik nicht erforderlich, ebenso wenig sind es Maßnahmen wie künstliche Beatmung oder Durchblutung.

Für die Gewebespende werden nur die vorderen Hornhautkappen entnommen, also ein wenig Gewebe von der Größe eines 2-Cent-Stücks. Nach der Entnahme werden Schutzkappen eingesetzt, zu sehen ist nichts. Das ist für viele Angehörige ein wichtiges Detail. Was ebenfalls eine Rolle spielt: Die Abstoßungsreaktionen sind viel kleiner als bei ganzen Organen und können im Bereich der Hornhauttransplantation durch moderne Operationsverfahren immer noch reduziert werden.

Eine Herausforderung im Hinblick auf eine „kleine“ Widerspruchslösung ist allerdings, dass Organ- und Gewebespende aktuell inhaltlich und gesetzestechnisch eng verknüpft sind. Dabei spricht nichts dagegen, aber viel dafür, die beiden Bereiche regulatorisch zu trennen, weil sie sachlich so unterschiedlich sind.

Die Akzeptanz von Organ- und Gewebespenden ist an sich in der Bevölkerung nicht schlecht – und offenbar sogar besser als bei den Bundestagsabgeordneten, wie sich aus wiederholten Umfragen ergibt. Nur fehlt es in der konkreten Entscheidungssituation häufig an Klarheit über die Einwilligung oder auch an Sicherheit, um der Spende zuzustimmen. Das neue Gesetz wird daran wahrscheinlich kaum etwas ändern. Auch, weil das sogenannte Hirntod-Kriterium für die Organspende und die damit verbundenen Untersuchungen nach wie vor für Skepsis und Ängste sorgen. Gewebespenden können aber auch noch Stunden nach dem Tod, nach endgültigem Herz- und Atemstillstand, entnommen werden. Dieses kleine Feld wäre deshalb gut geeignet, um die Bevölkerung schrittweise an die Widerspruchslösung heranzuführen und Selbstbestimmung und Gemeinwohl in Einklang zu bringen. Wenn dann zusätzlich belegbar ist, dass kein Missbrauch stattgefunden hat und die vorgesehenen Regelungen greifen, fänden sich sicher mehr Befürworter einer umfassenden Widerspruchslösung als heute.

Organisatorisch ließe sich die „kleine“ Widerspruchslösung für Gewebespenden durch folgende Regelungen umsetzen, die sehr geringen Aufwand mit maximaler Sicherheit und Nachprüfbarkeit verbinden:

  • Bürgerinnen und Bürger enthalten zu einem definierten Anlass (Beispiel: Volljährigkeit) eine standardisierte Information durch eine staatliche Stelle mit einem Hinweis, wo und wie der Widerspruch erklärt werden kann. Dies muss kostenfrei und einfach möglich sein.
  • Alle Widersprüche werden in einem elektronischen bundesweiten Zentralregister erfasst. Bei Eingang eines Widerspruchs wird eine Bestätigung an den Absender versandt.
  • Im Todesfall dürfen Berechtigte (wie behandelnde Ärzte) im Zentralregister abrufen, ob ein Widerspruch vorliegt. Der Kreis der Zugangsberechtigten wird gesetzlich definiert. Sie müssen sich für ihr Anliegen ausweisen können. Der Zugang zum Register muss rund um die Uhr möglich sein.
  • Liegt kein Widerspruch vor und wird eine Gewebetransplantation beabsichtigt, dann werden der Name des Nachfragenden und die Art der Auskunft, die er erhalten hat, im Register vermerkt. Der Abfrageprozess ist somit nachvollziehbar.

Dass man der Bevölkerung differenzierte Regelungen bei der Organ- und Gewebespende nicht zumuten kann, ist eine Ausrede. Die zunehmende Zahl an Vorsorgeerklärungen und Patiententestamenten belegt, dass immer mehr Menschen gewillt und fähig sind, sich mit Fragen rund um ihr Lebensende auseinanderzusetzen und Entscheidungen zu treffen. Und selbst der nur scheckkartengroße Organspendeausweis sieht heute schon Differenzierungen vor. Man kann die Entnahme bestimmter Organe und Gewebe ausschließen oder nur für einzelne eine Einwilligung erteilen.


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