03.07.2023
Notfallreform – Ressourcenverschwendung durch Parallelstrukturen
Dr. Markus Beier, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes
Mit seinem Ziel, die Krankenhausstrukturen sowie die Notfallversorgung zu reformieren, hat sich Professor Karl Lauterbach eine der notwendigsten, aber sicherlich auch eine der schwierigsten gesundheitspolitischen Aufgaben auf die Agenda gesetzt. Die Problemlage ist allen bekannt, seit Monaten kann man das Hin und Her zwischen Bund und Ländern, den Kampf um jeden Zentimeter Land verfolgen. Querschießer, wie der unvorhergesehene Änderungsantrag ins Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG), der in einer Nacht-und-Nebel Aktion reingeschrieben wurde, geben der sowieso schon kochenden Suppe noch zusätzliche Würze.
Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen zukünftig Patientinnen und Patienten, die in den Notaufnahmen auftauchen, ohne ein echter Notfall zu sein, nicht mehr in die ambulante, vertragsärztliche Versorgung weitergeleitet werden. Stattdessen hat man die Wahl zwischen der Notaufnahme oder der Notdienstpraxis in oder an dem Krankenhaus. Es sollte jedem einleuchten, dass dies die Notfallstrukturen noch mehr belasten würde, als ohnehin schon. Die Ressourcen, die das verschlingen würde, wären immens. Das Ziel der Notdienstreform wird so komplett konterkariert!
Der Protest, der folgte, war entsprechend groß: Verbände, Selbstverwaltung und Teile der Politik kritisierten unisono sowohl den Ablauf, als auch den Inhalt der Änderung. Als klares Signal warnte letztlich sogar der Bundesrat und forderte die Streichung. Erstaunlich war dann auch die Diskussion, die sich an diesen Protest anschloss. Offenbar überrascht von ihrem eigenen Beschluss, machten sich die politischen Befürworter der Änderung auf zu erklären, dass den Patientinnen und Patienten der Weg in die ambulante Versorgung trotz der Änderung der Richtlinie eigentlich ja gar nicht versperrt sein soll. Im Grunde bleibe alles wie bisher. Hier scheint man eher Schadensbegrenzung betreiben zu wollen, denn natürlich hätte diese Änderung auch eine konkrete Folge. Wenn man die ambulante Ebene raushaben will, dann sollte man das zumindest auch so sagen.
Neu sind diese Top-down-Entscheidungen, die die umsetzende Ebene nicht einbinden, leider nicht – eher charakteristisch für den bisherigen Prozess. Am Beispiel der Notdienstreform wird sehr deutlich, wie wichtig die frühzeitige Einbindung aller beteiligten Akteure wäre! Die einseitige Auswahl der Regierungskommission spiegelt sich leider auch im Konzept wider. Notfallversorgung lässt sich ohne die ambulante Versorgungsebene aber weder denken noch machen. Um es kurz voranzustellen: Keine der wesentlichen Säulen der Notdienstreform werden ohne uns ambulant tätige Ärztinnen und Ärzte funktionieren – weder die Integrierten Leitstellen noch die Integrierten Notfallzentren oder die Ausweitung des aufsuchenden Bereitschaftsdienstes.
Personelle Ressourcen fehlen
Einige Beispiele: Natürlich ist eine telefonische Leitstelle mit einer integrierten Ersteinschätzung sinnvoll – das wird sicherlich kaum jemand bestreiten. Aber als wäre dieses Projekt nicht schon groß genug, soll diese Ersteinschätzung noch um eine „leistungsfähige, rund um die Uhr erreichbare allgemeinärztliche und kinderärztliche telemedizinische Beratung bzw. Videosprechstunde“ ergänzt werden. Klingt gut, doch wer soll diese Aufgabe übernehmen? Ich schaue auf unsere bereits hochbelasteten Praxen und kann nur sagen: Wir können keine einzige Fachkraft entbehren!
Auch die Integrierten Notfallzentren (INZ) würden ohne umfassende Personalausweitung aus dem ambulanten Sektor nicht auskommen. So sollen die KV-Notdienstpraxen vielerorts ja quasi zu einem Rund-um-die-Uhr-Service ausgebaut werden. Weder die Hausärztinnen und Hausärzte noch ihre Mitarbeitenden können das Pflaster auf den Wunden der stationären Versorgung sein. Wir haben doch selbst genug zu stemmen und keine Zeit für Dauerschichten am Krankenhaus oder im aufsuchenden Bereitschaftsdienst, der bekanntlich laut Regierungskommission ebenfalls zu einem 24/7-Angebot ausgebaut werden soll. Jeder, der sich ein bisschen mit den ambulanten Strukturen und ihrem Arbeitspensum auskennt, wird sehen, dass das nicht funktionieren kann! Wer die Zeichen der Zeit erkennt, muss sehen: Wir müssen uns genau überlegen, in welche Strukturen (personelle) Ressourcen investiert werden – und in welche nicht.
Mit Blick auf die Pläne für einen „Rund-um-die Ihr-Bereitschaftsdienst“ ist überdeutlich, dass das inhaltlich nicht zu rechtfertigen ist! Statt die feste Bindung an eine vertraute Hausarztpraxis zu fördern, würde es dazu führen, dass die Menschen motiviert werden, das eigentlich nur für Notfälle gedachte System des Bereitschaftsdienstes zu frequentieren. Das ist deutlich ineffektiver als die bewährten hausärztlichen Strukturen – allein schon, weil sich Arzt und Patient nicht kennen und daher eine persönliche Versorgung, unter Berücksichtigung der Gesamtsituation der Patientin oder des Patienten, nicht möglich ist. Wenn man jedoch das Gesundheitswesen nur aus der Brille der Kliniken betrachtet, dann das die logische Folge. Eine Krankenhausreform auf dem Rücken der ambulanten Versorgung wird unser Gesundheitswesen früher oder später kollabieren lassen! Das Papier entlarvt sich an dieser Stelle selbst als ein aus dem Elfenbeinturm verfasster Wunschzettel.
Klare Eingangstore ins Gesundheitssystem notwendig
Reflexartig auf die Fehlinanspruchnahme unseres Gesundheitssystems neue Anlaufstellen aufzubauen, wird uns nicht weiterbringen. Die Politik muss endlich die Augen öffnen und sich trauen, das Chaos in unserem Gesundheitssystem zu organisieren und zu überwinden. Nicht immer mehr, sondern klarere Eingangstore ins System sind das Gebot der Stunde. In Ansätzen erkennt man diesen Vorsatz auch im Papier der Regierungskommission in der Ausweitung der telefonischen Steuerung von Notfallpatientinnen und -patienten. Aber Steuerung kann nicht erst auf den letzten Metern stattfinden, sie muss viel früher ansetzen – auch, weil unsere Rettungsstellen nicht der einzige überlastete Bereich in unserem Gesundheitssystem sind.
Wir sollten den Mut haben, vom Anfang her zu denken, aus der Primärversorgungsebene. Denn in einem völlig chaotischen, unorganisierten System, in dem es unzählige mögliche Anlaufstellen für die Patientinnen und Patienten gibt, wird es immer eine Fehlinanspruchnahme geben, die dringend benötigte Ressourcen verbraucht. Nur ein durch die Hausärztinnen und Hausärzte hochwertig gesteuertes System, wie es bereits 8,5 Millionen Patientinnen und Patienten in unseren Verträgen zur Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) leben, wird dafür sorgen, dass die ärztlichen Ressourcen dauerhaft effizient genutzt werden ohne Einbußen bei der Versorgungsqualität! Davon profitieren dann auch die Notaufnahmen.
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