Notfallgesetz noch mit erheblichen Lücken

Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi)

Die Reform der Notfallversorgung befindet sich nach der Krankenhausreform auf der parlamentarischen Zielgeraden. Am kommenden Mittwoch beschäftigt sich der Gesundheitsausschuss des Bundestages während einer Anhörung mit dem Gesetzentwurf. Kritik gibt es zahlreich – vor allem, seitdem klar ist, dass auch die Reform des Rettungsdienstes dort integriert werden soll. Für unseren Autor Dr. Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), Anlass, das Wesentliche der Reform zu beleuchten und wo nachgeschärft werden muss.

Der Entwurf des Gesetzes zur Reform der Notfallversorgung zielt auf eine bessere Steuerung von Hilfesuchenden in die richtige Versorgungsebene. Die Notfallversorgung soll mittelfristig an einer geringeren Zahl von Krankenhausstandorten konzentriert und um jene Fälle entlastet werden, die einer unmittelbaren Behandlung durch eine Notaufnahme nicht bedürfen. Damit ist die Erwartung einer verbesserten Qualität und Effizienz der Notfallversorgung verbunden.

Um diese Ziele zu erreichen, müssen Hilfesuchende mit weniger dringlichen, d.h. in Arztpraxen oder telemedizinisch behandelbaren Anliegen beim Kontakt mit der Notfallversorgung identifiziert und geeigneten Versorgungsangeboten zugeleitet werden. Diese sind nach Art und Dringlichkeit des jeweiligen Behandlungsanlasses auszuwählen.

Je früher die Lenkung im Prozess der Inanspruchnahme geschieht, desto besser. Zur Entlastung von Rettungsdienst und Notaufnahmen setzt der Gesetzgeber auf eine Stärkung der Akutversorgung. Er will dafür die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) verpflichten, die Erreichbarkeit der 116117 zu verbessern sowie ein zusätzliches 24/7-Telemedizin-Angebot und einen 24/7-Besuchsdienst einzurichten.

Zwar liegen die Versorgungsaufgaben, um die es hierbei geht, vielfach an der Grenze zu oder subsidiär zur ärztlichen Regelversorgung und dem Bereitschaftsdienst. Die Begründung für die Erweiterung zeigt jedoch, dass hier ein gesellschaftlicher Nutzen erwartet wird, den die Krankenkassen zu finanzieren hätten. Die Kosten dafür hälftig aus Mitgliedsbeiträgen der Vertragsärztinnen und -ärzte decken zu wollen, ist systematisch falsch und kontraproduktiv.

Soll damit aber tatsächlich eine verbesserte Steuerung erreicht werden, bedarf es einer Nachschärfung: Die Einführung dieser neuen Angebote muss durch die KVen bedarfsabhängig gestaltet werden können. Sie muss der Steuerung durch die 116117 unterstellt sein und in den Kontext der beabsichtigten Abstimmungsprozesse mit der 112 gestellt werden. Nur dort, wo die gewünschte Kooperation zwischen Rettungsdienstbereich und KV zum Tragen kommt, kann vermieden werden, dass ein ungesteuertes Nebeneinander der unterschiedlichen zusätzlichen Angebote für die Versicherten in der Akut- und Notfallversorgung entsteht. Letzteres wäre weder personell noch finanziell zu leisten und liefe den ausdrücklichen Zielen des Gesetzes zuwider.

 

Integrierte Notfallzentren effizient ausrichten

Der Gesetzgeber muss auch bei den geplanten Integrierten Notfallzentren (INZ) das Prinzip der Inanspruchnahmesteuerung konsequent verfolgen. Richtig und wichtig ist, dass die Zahl der INZ begrenzt bleibt. INZ-Standorte sollten aufgrund ihrer personellen und apparativen Ausstattung in der Notfallversorgung eine herausragende Rolle übernehmen können. Geht man von aktuell rund 1.100 Krankenhäusern mit einer Notfallstufe und rund 420 Häusern der Stufen 2 und 3 aus, so dürfte die Zahl der INZ im Zuge der Konsolidierung der Krankenhausstrukturen künftig zwischen ca. 500 und 700 liegen. Damit hätte mehr als jedes zweite Krankenhaus in der Notfallversorgung INZ-Status. Eine wirksame Begrenzung der INZ-Zahl fehlt noch im Gesetz.

Wenn sich die INZ als primäre Standorte der Akut- und Notfallversorgung etablieren, hätte dies für die Bereitschaftspraxen an diesen Standorten den Vorteil, dass diese auch entsprechend ausgelastet und somit qualifiziert besetzt werden können, um die Notaufnahme am Standort verlässlich zu entlasten. Zur wirksamen Entlastung der Notaufnahmen an INZ-Standorten ist laut Gesetzentwurf eine zentrale Anlaufstelle für Hilfesuchende einzurichten. Dort wird durch sichere Ersteinschätzungsverfahren geprüft, welche Dringlichkeit und welcher Behandlungsbedarf im Einzelfall besteht. Hilfesuchende, die einer unmittelbaren Behandlung in der Notaufnahme nicht bedürfen, werden in die Bereitschaftspraxis am Standort oder in eine nahegelegene Kooperationspraxis geleitet.

Auch wenn ein gewisser Sogeffekt an INZ-Standorte anzunehmen ist, bleiben die gesetzlichen Vorgaben zur Steuerung unvollständig, solange nicht auch für die übrigen Notaufnahmen gilt, dass dort nur Notfälle behandelt werden, die nach Ersteinschätzung eine sofortige Behandlung in der Notaufnahme benötigen. Alle übrigen Anliegen sollten an INZ-Standorte oder in die Regelversorgung gesteuert werden, wobei für die Ersteinschätzung die gleichen Kriterien gelten wie für INZ-Standorte. Blieben die bisherigen „Trampelpfade“ in die Notaufnahmen bestehen, würde insbesondere in den Ballungsräumen weiterhin ein relevanter Anteil der Akutfälle fehlgeleitet bleiben. Dies zeigt die Berechnung des Fallzahlanteils aller 2023 ambulant an Notaufnahmen behandelten Fälle an Standorten mit Bereitschaftspraxis und Standorten ohne eine solche. In Ballungsräumen wie Hamburg und Berlin werden rund 59 bzw. 58 Prozent aller ambulanten Notfälle an Standorten ohne Bereitschaftspraxis behandelt. In der Region Nordrhein (Regierungsbezirke Köln und Düsseldorf) liegt der Anteil bei 38 Prozent, in Bayern bei knapp 29 Prozent. In Ballungsräumen resultiert das Problem aus dem breiten Angebot von Notaufnahmen auch in Häusern der Notfallstufen 2 und 3 auf engem Raum. Keinesfalls wäre es aber sinnvoll, dort jeweils ein INZ einzurichten, schon gar nicht an den Häusern der Stufe 1.

 

Zugang zur Notfallversorgung steuern

Warum ist es so wichtig, den Gesetzentwurf an den genannten Stellen zur Stärkung der intendierten Steuerungsfunktion nachzuschärfen? Aus der Versorgungsforschung ist bekannt, dass jede Erleichterung des Zugangs zur Notfallversorgung einen deutlichen Anstieg der Inanspruchnahme nach sich zieht. Das ist so, weil – wie z.B. repräsentative Versichertenbefragungen zeigen – rund 50 Prozent der Arztkontakte stattfinden, weil Hilfesuchende ein konkretes akutes Anliegen haben. In Hausarztpraxen können nach einer aktuellen noch unveröffentlichten Studie des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Lübeck rund zwei Drittel der Fälle einem akuten Anliegen zugeordnet werden. Insgesamt schätzt das Zi die Zahl der Abrechnungsfälle in der vertragsärztlichen Versorgung, die aufgrund eines akuten Anliegens entstehen, auf ca. ein Drittel der jährlichen Abrechnungsfälle, also rund 200 Millionen pro Jahr, darunter allein 120 Millionen AU-Fälle. Im Bereitschaftsdienst werden dagegen rund 7,5 Millionen Fälle behandelt, rund 10 Millionen ambulant in den Notaufnahmen der Krankenhäuser, weitere 8 Millionen werden ungeplant stationär aufgenommen. Bundesweit kommen rund 6 Millionen Rettungswageneinsätze zusammen.

Im Interesse der Leistungsfähigkeit der besonderen Angebote der Akut- und Notfallversorgung muss daher strikt vermieden werden, dass aus der Regelversorgung mehr Akutfälle angezogen werden. Bereits geringfügige Verschiebungen akuter Inanspruchnahmeanlässe aus der Regelversorgung können die Akut- und Notfallversorgung lahmlegen. Deshalb dürfen keine zusätzlichen Angebote geschaffen werden, die Versicherten nahelegen, sich an die Akut- oder Notfallversorgung zu wenden, wenn dies nicht unbedingt erforderlich ist.

Zur besseren Steuerung gehört zwingend auch die Abstimmung der Ersteinschätzung und der nachfolgenden Disposition zwischen den künftigen Akutleitstellen der KVen und den Integrierten Leitstellen des Rettungsdiensts. Diese Möglichkeit ist im Gesetzentwurf unter dem Begriff Gesundheitsleitsystem zwar angelegt. Es fehlen aber finanzielle Anreize, die Rettungsdienstbereiche veranlassen, sich aktiv eine solche Kooperation einzubringen. Eine solche Anreizwirkung ist auch in den bis zum 30. Oktober 2024 bekannt gewordenen Änderungsanträgen nicht zu finden. Es diente der Zielsetzung des Gesetzes, wenn die noch vorgesehenen leistungsrechtlichen Erweiterungen sowie neue Finanzierungsregeln für den Rettungsdienst an den Aufbau funktionsfähiger Gesundheitsleitsysteme gebunden würden, da ansonsten von einer weiterhin ungebrochenen Eigendynamik dieses Versorgungsbereichs, von einer Verschärfung der Personalengpässe sowie grundsätzlich von einer erheblichen Unwirtschaftlichkeit auszugehen ist.


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