06.01.2020
Market Access als neue digitale Leitwährung
Das Digitale-Versorgung-Gesetz im Faktencheck
Prof. Roger Jaeckel, Hochschule Neu-Ulm, Fakultät für Gesundheitsmanagement, Direktor Market Access DACH, Baxter Deutschland GmbH
„Patienten sollen sich darauf verlassen können, dass digitale Anwendungen und sinnvolle Apps schnell und sicher in die Versorgung kommen. Daher gibt es für die Patienten ab 2020 gesunde Apps auf Rezept.“ Mit diesen Worten lobte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sein Digitale-Versorgung-Gesetz, das seit Anfang des Jahres in Kraft ist. Doch der Weg von der Entwicklung einer App bis zur Anwendung beim GKV-Versicherten ist für Hersteller als auch Anwender ein langwieriger und steiniger. Notwendige gesetzliche Regelungen fehlen derzeit noch. Der Market-Access-Prozess ist mehrschichtig und komplex, wie im nachfolgenden Beitrag ersichtlich.
Mit dem im März 2018 vereinbarten Koalitionsvertrag zwischen den politischen Vertretern von CDU/CSU und SPD wurde bereits der Grundstein gelegt, der digitalen Transformation im Gesundheitswesen in dieser 19. Legislaturperiode zum entscheidenden Durchbruch zu verhelfen. So steht im aktuellen Koalitionsvertrag u.a. zu lesen, dass „neue Zulassungswege für digitale Anwendungen“ geschafften werden sollen sowie „die Interoperabilität“ hergestellt und „die digitale Sicherheit im Gesundheitswesen“ gestärkt werden soll (Koalitionsvertrag 2018, S. 101). Auf Grundlage dieser Koalitionsvereinbarung hat das Bundesgesundheitsministerium unter der politischen Leitung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn einen entsprechenden Referentenentwurf eines Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation, kurz Digitale Versorgung-Gesetz (DVG) genannt, vorbereitet und diesen am 15.05.2019 der Fachöffentlichkeit vorgestellt.
Nach der erfolgten Verbändeanhörung am 17.06.2019 hat die Bundesregierung den in der Folge erstellten Kabinettsentwurf bereits am 10.07.2019 förmlich verabschiedet und damit den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess offiziell eröffnet. Die erste Beratung im Bundesrat fand dann am 20.09.2019 statt, und der Bundestag befasste sich in erster Lesung am 27.09.2019 mit dem Gesetzesentwurf. Die öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages fand dann am 16. Oktober 2019 statt. Auf Grundlage noch zahlreich eingegangener Änderungsanträge wurde das DVG in zweiter und dritter Lesung mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und SPD am 7.11.2019 mehrheitlich verabschiedet. Der 2. Durchgang im Bundesrat Ende November war wegen der fehlenden Zustimmungspflicht nur noch reine Formsache, so dass dem beabsichtigten Inkrafttreten des DVG zum 1.01.2020 bzw. am Tag nach der Verkündung damit nichts mehr im Wege stand.
Der zeitliche Ablauf des DVG gleicht einem politischen Fast-Track Verfahren der besonderen Art, denn dieses Gesetz ist in rekordverdächtiger Zeit von lediglich sechs Monaten zustande gekommen. Eine solche reformpolitische Meisterleistung ist jedoch nur möglich, weil Jens Spahn die reformbelastende Thematik rund um die elektronische Patientenakte bereits im Kabinettsentwurf kurzfristig hat fallen lassen und diese eher nach und nach in das Gesundheitssystem einführen will. Die datenschutzrechtlichen Belange sind ganz offensichtlich eine zu große Hürde, um mit der aktuellen Reformgeschwindigkeit tatsächlich Schritt halten zu können.
Reformpolitische Zielsetzung des DVG
Dem Einführungsteil des Gesetzentwurfs ist zu entnehmen, dass die existierenden rechtlichen Rahmenbedingungen den Zugang zu digitalen Gesundheitsleistungen nicht befördern und damit verbundene Verbesserungspotenziale in der Patientenversorgung unausgeschöpft bleiben. Insofern stellen die jetzt neu geschaffenen gesetzlichen Vorgaben primär darauf ab, die bestehenden Regelungsinhalte der digitalen Entwicklungsdynamik anzupassen und den Zugang zu digitalen Innovationsprozessen den beteiligten Akteuren im Sinne eines interaktiven Gesetzgebungsprozesses zugänglich zu machen. Mit dieser Ankündigung wird deutlich, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen noch weitere Reformgesetze in der Folge nach sich ziehen wird, um der rasanten Entwicklungsdynamik der Digitalisierung gerecht werden zu können.
Das DVG enthält zahlreiche reformpolitische Maßnahmen, die den Zugang und die Überführung digitaler Innovationen in das SGB V und weiterer Gesetze regeln. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher nur auf den Leistungsbereich der digitalen Gesundheitsanwendungen und die selektivvertraglichen Förderoptionen digitaler Innovationen durch die gesetzlichen Krankenkassen.
Künftiger Leistungsanspruch auf digitale Gesundheitsanwendungen
Um es gleich vorweg zu nehmen: Dieser Passus stellt einen Paradigmenwechsel in der GKV dar. Mit dem generellen Leistungsanspruch auf digitale Gesundheitsanwendungen wird der Leistungskatalog der GKV künftig erweitert. Damit stehen diese digitalen Leistungen gleichberechtigt neben dem Anspruch beispielsweise auf Krankenhausbehandlung oder Arzneimittelversorgung. Etwas abstrakter formuliert, wird auf diese Weise der Zugang digitaler Gesundheitsanwendungen in die Regelversorgung definiert. Mit dieser Regelung geht parallel aber auch ein vorgegebener Erstattungsprozess einher, der sowohl für Anbieter als auch Nutzer von Gesundheits-Apps von grundsätzlichem Belang ist. Im ersten Schritt erfolgt zunächst die Darstellung des Erstattungsanspruchs aus Patientensicht (Schaubild 2).
Die Prozessstufen 1-3 liegen im Verantwortungsbereich des Herstellers eines digitalen Medizinproduktes von der Zulassung einer Gesundheits-App als Medizinprodukt über die Antragstellung beim BfArM auf Aufnahme in das Verzeichnis erstattungsfähiger digitaler Gesundheitsanwendungen und schließlich der formale Listungsprozess als Voraussetzung für die Nutzung und Erstattung einer digitalen Gesundheitsanwendung.
Prozessstufe 4 und 5 sind für die Nutzung und Erstattung einer digitalen Gesundheitsanwendung aus Patientensicht von zentraler Bedeutung. Durch die Aufnahme in das Verzeichnis erstattungsfähiger digitaler Gesundheitsanwendungen wird die grundsätzliche Erstattungsfähigkeit einer digitalen Gesundheitsanwendung angezeigt. Für die konkrete Nutzung und Erstattung der Nutzungskosten durch die gesetzliche Krankenkasse sieht der Gesetzgeber zwei gleichberechtigte Verfahrenswege vor: zum einen durch die herkömmliche Verordnung durch den behandelnden Arzt, zum anderen mittels Genehmigung durch die zuständige Krankenkasse. Ob dies jeweils auf Grundlage des Sachleistungsprinzips regelhaft erfolgt oder grundsätzlich im Wege der Kostenerstattung, lässt sich dem Gesetzeswortlaut allerdings nicht eindeutig entnehmen. Für die Akzeptanz in der Versorgungspraxis ist die Klärung dieser Fragestellung jedoch von zentraler Bedeutung.
Eine weitere wichtige Erstattungsvoraussetzung ist mittels eines Änderungsantrages am Ende des Gesetzgebungsprozesses von der Regierungskoalition noch in das Gesetz mit aufgenommen worden. Es handelt sich dabei um den Nachweis der medizinischen Indikation, für die die digitale Gesundheitsanwendung bestimmt ist. Der vorherige Gang zum behandelnden Arzt bzw. Psychotherapeuten wird dabei zum bestimmenden Erfolgsfaktor für die Genehmigung einer Gesundheits-App.
Die gesetzlichen Krankenkassen im digitalen Driver-Seat
Nach dem Willen des Gesetzgebers wurde besonders wert daraufgelegt, die Krankenkassen als digitalen Innovationstreiber zu installieren. Dies zeigt sich an mehreren Stellen des Gesetzestextes. Zum einen erhalten die gesetzlichen Krankenkassen die Möglichkeit, selektivvertraglich digitale Innovationen gezielt zu fördern (§ 68a SGB V). Um die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu verbessern, erhalten die Krankenkassen mit dem DVG die Möglichkeit, selbst den Förderprozess digitaler Gesundheitsleistungen mit zu gestalten. Die Fördermöglichkeit geht dabei weit über den Bereich digitaler Gesundheitsanwendungen nach § 33a SGB V hinaus und ist auch nicht auf bestimmte Medizinprodukte-Risikoklassen begrenzt. Selbst die finanzielle Beteiligung von Krankenkassen an der Entwicklung digitaler Innovationen ist nicht ausgeschlossen, bleibt allerdings auf maximal zwei Prozent ihrer Finanzreserven begrenzt. Diese Art der Innovationsförderung im Bereich der GKV ist neuartig. Angesichts der zahlreich beschlossenen Leistungsgesetze und den damit verbundenen Ausgabenentwicklungen bleibt aber erst mal abzuwarten, ob bzw. in welchem Umfang die GKV von dieser Fördermöglichkeit Gebrauch machen wird. Einen selektivvertraglichen Innovationswettbewerb in einem solidarischen Versicherungssystem zum Laufen zu bringen, ist nicht trivial und bedarf umfänglicher und weiter gehender Reformschritte. Die mit dem DVG angedachte Förderregelung wird für sich betrachtet jedenfalls nicht ausreichend sein, eine nachhaltige Förderwirkung für digitale Innovationen zu entfalten.
Zum anderen erhalten die gesetzlichen Krankenkassen die Möglichkeit, mit einem neuen 68b SGBV Versorgungsinnovationen gezielt zu fördern. Eine Kopplung an digitale Gesundheitstechnologien ist nicht zwingend vorgeschrieben und soll die Versorgung der Versicherten anhand des Bedarfs, der aufgrund von versichertenbezogenen Datenauswertungen ermittelt worden ist, weiterentwickeln. Diese Regelung birgt jedoch politischen Sprengstoff, zumal eine explizite Zustimmung von Seiten der GKV-Versicherten nicht vorgesehen ist. Ob dieser neue und kassenspezifische Versorgungsforschungsansatz überhaupt größere Bedeutung erlangen wird, bleibt zeitlich abzuwarten. Denn der am Ende des Gesetzgebungsprozesses eingefügte Passus, dass „ein Eingreifen in die ärztliche Therapiefreiheit oder eine Beschränkung der Wahlfreiheit der Versicherten“ durch solche Fördermaßnahmen unzulässig ist, lässt wenig Steuerungspotenzial erkennen, die Versorgung von Patienten ohne deren Zustimmung qualitativ verbessern zu können.
Erstattungshürden digitaler Gesundheitsanwendungen: die eigentlichen Herausforderungen
Der Market Access Weg digitaler Gesundheitsanwendungen folgt einer komplexen Logik und kann deshalb ohne Übertreibung als sehr steinig und aufwendig umschrieben werden. Die vom Gesetzgeber aufgegebenen Market Access Hürden folgen einem 4 Phasen- Schema (Schaubild 3), wobei jeder Phase eine eigene Komplexität innewohnt, die sowohl für Hersteller als auch Anwender digitaler Gesundheitsprodukte eine beachtliche Herausforderung darstellen können.
Die erste Zugangshürde stellt die Phase des CE-Zertifizierungsprozesses als Medizinprodukt dar und stellt alle Medizinprodukte wegen des In-Kraft-Tretens der neuen EU-Medizinprodukte Verordnung Ende Mai 2020 vor ganz neue inhaltliche und zeitliche Herausforderungen. Erst nach Vorliegen einer CE-Zertifizierung nach Risikoklasse 1 oder 2a folgt die zweite Market Access Hürde, nämlich die Antragstellung beim BfArM auf Aufnahme in das Verzeichnis erstattungsfähiger digitaler Gesundheitsanwendungen. Die Aufnahmekriterien liegen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vor und werden erst durch die noch folgende Rechtsverordnung des BMG konkretisiert. Das Vorliegen dieser notwendigen Rechtsverordnung wird bis Ende des ersten Quartals 2020 erwartet. Erst danach kann eine konkrete Antragstellung erfolgen.
Die dritte und sicherlich auch aufwendigste Phase stellt die sogenannte Evaluationsphase dar. Inhaltlich geht es vornehmlich um den Nachweis eines positiven Versorgungseffektes, der mit dem Einsatz einer digitalen Gesundheitsanwendung einhergeht. Dabei kann es sich um einen medizinischen Nutzen oder eine patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserung in der Versorgung handeln. Die konkreten Evidenzanforderungen sind auch Bestandteil der vom BMG noch zu erlassenden Rechtsverordnung. Zeitlich folgt die Evaluationsphase nicht zwingend der ersten und zweiten Phase, sondern kann bereits vor Antragstellung beim BfArM vorgenommen worden sein oder ist nach positiver Listung beim BfArM innerhalb eines Jahres durchzuführen. Im Ausnahmefall kann diese Erprobungsphase nochmals um weitere zwölf Monate verlängert werden.
Die vierte und abschließende Phase wird als Preisfindungsphase bezeichnet und beinhaltet unterschiedliche Prozessschritte. Während im ersten Jahr nach erfolgter BfArM-Listung eine freie Preisgestaltung durch den Hersteller möglich ist, gilt nach Ablauf von zwölf Monaten ein verhandelter Erstattungspreis, der zuvor zwischen Medizinproduktehersteller und dem GKV-Spitzenverband ausgehandelt und vereinbart wurde. Im Fall einer Nichteinigung wird der neue Erstattungspreis durch eine Schiedsstelle innerhalb von drei Monaten festgelegt. Der nach Ablauf von zwölf Monaten neue Erstattungspreis hat dann eine Mindestlaufzeit von zwölf Monaten.
Ausblick
Mit dem DVG hat die Gesundheitspolitik ohne Zweifel Fahrt in Richtung digitale Gesundheitsversorgung aufgenommen. Als einen Paradigmenwechsel kann der Sachverhalt bezeichnet werden, dass digitale Gesundheitsanwendungen ab 2020 definitorisch zum Leistungskatalog der GKV gehören. Dies erfolgt jedoch nicht automatisch, sondern ist durch einen mehrschichtigen und komplexen Market Access-Prozess hinterlegt, in deren Mittelpunkt der Nachweis eines positiven Versorgungseffektes steht. Wie dieser Nachweis unter Berücksichtigung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin konkret zu erfolgen hat, wird letztlich die Praxis zeigen. Die digitale Zukunft des deutschen Gesundheitswesens wird schließlich auch davon bestimmt, ob pragmatische Nachweiskriterien Einzug halten oder eher dogmatische Evidenzmaßstäbe diesen Prozess bestimmen werden. Eine schnelle Marktdurchdringung von Gesundheits-Apps lässt sich auf Grundlage der bisher schon geltenden formalrechtlichen Vorgaben des DVG nicht erkennen. Es ist in diesem Zusammenhang daher nicht übertrieben zu behaupten, den gesamten Market Access Prozess als neue digitale Leitwährung zu bezeichnen. Start Ups und Medizinproduktehersteller werden aber nicht umhinkommen, sich diesen Herausforderungen annehmen zu müssen, will man mit der digitalen Evolution Schritt halten.
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