Lieferengpässe bei Arzneimitteln: Versorgungssicherheit hat Vorrang

Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg

Lieferengpässe haben sich in den letzten Jahren zu einem großen Ärgernis in der Versorgung mit Arzneimitteln entwickelt. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) listet Mitte Januar 391 Arzneimittel, die vorübergehend nicht lieferbar sind. Diese Zahl erscheint zunächst etwas hoch: Sie enthält (auch) mehrere Arzneimittel mit unterschiedlichen Mengen und Darreichungsformen desselben Wirkstoffs.

Die meisten der gelisteten Arzneimittel werden zudem ausschließlich in Kliniken eingesetzt. Das schließt den Zusammenhang mit Rabattverträgen der Krankenkassen aus: Klinken kaufen ihre Arzneimittel selbst und zu Preisen ein, die die pharmazeutischen Unternehmer mit den Kliniken vereinbaren. Hinzu kommt: Lieferengpässe sind nicht gleichbedeutend mit Versorgungsengpässen, da oftmals alternative Arzneimittel zur Sicherstellung der Versorgung für die Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen. Gleichwohl sollte das Problem ernstgenommen werden.

Lieferengpässe treten nicht nur in Deutschland mit einem Anteil von vier Prozent des weltweiten Generikamarkts auf, sondern lassen sich weltweit beobachten. Die Ursachen sind bekanntermaßen komplex. Lieferengpässe sind allerdings nicht vom Preisniveau abhängig – in der Schweiz beispielsweise liegen die Netto-Preise für Generika um ein Vielfaches höher als in Deutschland. Dennoch hat das Land stärker als Deutschland mit Lieferengpässen zu kämpfen. Gleiches gilt etwa für die USA als weltweit größten Generikamarkt.

 

Rabattverträge sind echte Versorgungsverträge

Entgegen allen Unkenrufen der Pharmaverbände sind die Rabattverträge der gesetzlichen Krankenkassen daher auch nicht für Lieferengpässe verantwortlich. Im Gegenteil: Arzneimittelrabattverträge sind ein bewährtes Instrument für eine wirtschaftliche und qualitativ hochwertige Versorgung der Versicherten mit Arzneimitteln. Sie stärken die Liefersicherheit, indem sie für Planungssicherheit bei den Herstellern sorgen und die Bevorratung mit Arzneimitteln als Voraussetzung für den Abschluss eines Vertrages machen können. Abrechnungsdaten der GKV für das Jahr 2021 zeigen, dass Lieferdefekte bei Rabattarzneimitteln seltener auftreten als bei nicht rabattierten Arzneimitteln. Die dokumentierten Lieferausfälle bei der Versorgung mit Rabattverträgen lagen bei nur 1,2 Prozent, während im patentfreien „Nichtvertragsmarkt“ die Ausfälle mit 4 Prozent mehr als dreimal so hoch waren. Und von den genannten 391 beim BfArM gelisteten Arzneimitteln mit Lieferengpass sind nur vier Medikamente Rabattvertragsarzneimittel der AOK-Gemeinschaft.

Vor dem Hintergrund der weltweit zunehmenden Lieferengpässe haben wir als AOK Baden-Württemberg gemeinsam mit den anderen AOKs 2020 die Vorgaben zur Bevorratung deutlich verschärft. Vertragspartner sind danach verpflichtet, als Absicherung gegen Produktions- oder Lieferausfälle dauerhaft Arzneimittelreserven für drei Monate anzulegen. Darüber hinaus hat die AOK-Gemeinschaft als erste Krankenkassenart in Deutschland bereits im Jahr 2020 bei unseren Ausschreibungen das Preisargument bei Antibiotika zurückgestellt. So sind wir bereit, mehr zu bezahlen, wenn die Rabattvertragspartner garantieren, dass ihre Wirkstoffhersteller sich strengen Umweltschutzanforderungen unterwerfen und Kontrollen vor Ort zulassen. Damit werden auch etwaige Wettbewerbsvorteile zu Lasten der Umwelt angegangen.

Daneben gehörte ursprünglich auch ein Kriterium für robuste Lieferketten zu unserer Ausschreibung von Antibiotika: Als AOKs erklärten wir uns bereit, einen höheren Preis zu zahlen, wenn wichtige Teile der Lieferkette in der EU oder deren Freihandelszone liegen. Dieses wurde jedoch seitens pharmazeutischer Hersteller angegriffen und vom Oberlandesgericht Düsseldorf in letzter Instanz gestoppt. Das Gericht hat jede Art der Privilegierung aufgrund geographischer Kriterien in der Lieferkette leider für nicht mit dem EU-Vergaberecht vereinbar erklärt. Damit wurde uns die Nutzung eines wirkungsvollen Steuerungsinstrumentes verwehrt.

 

BMG-Eckpunkte: gute Ansätze, aber zu kurz gedacht

Grundsätzlich begrüßen wir die aktuellen Überlegungen seitens des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG), die Rahmenbedingungen für Versorgung mit generischen Arzneimitteln so anzupassen, dass Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Zur Vermeidung von Versorgungsproblemen braucht es zuallererst Transparenz entlang der gesamten Lieferkette und verpflichtende Meldungen über Lieferengpässe. Erfreulicherweise geht das BMG einen weiteren Schritt in diese Richtung und möchte dem BfArM zusätzliche Informationsrechte gegenüber pharmazeutischen Unternehmen und Großhändlern einräumen. Allerdings wäre darüber hinaus auch die Einbeziehung der Bestände der Apotheken ohne jede Bürokratie machbar. Ebenfalls sinnvoll ist die vom BMG geplante mehrmonatige versorgungsnahe Lagerhaltung bei Rabattverträgen. Als AOK praktizieren wir diese, wie oben angeführt, bereits seit 2020. Eine generelle Umsetzungspflicht in den Verträgen aller gesetzlichen Krankenkassen erhöht die insgesamt im Markt verfügbaren Arzneimittelmengen und ist angesichts des Marktanteils Deutschlands von nur 4 Prozent am globalen Generikamarkt eine sicher und schnell wirksame Maßnahme.

Darüber hinaus sind die BMG-Eckpunkte allerdings zu kurz gedacht: Einfach nur die Preise anzuheben, ist keine nachhaltige Lösung. Auch die pharmazeutischen Unternehmen müssen stärker in die Pflicht genommen werden, um für eine sichere und zugleich nachhaltige Produktion zu sorgen. Die Einführung einer Standortberücksichtigung im Rahmen der Rabattvertragsausschreibungen mit dem Zuschlagskriterium „Anteil der Wirkstoffproduktion in der EU“ ist zwar gut gemeint, scheitert jedoch absehbar an den bestehenden Vorgaben des EU-Vergaberechts. Das zeigen unsere Erfahrungen mit dem Lieferkettenkriterium.

Der Versuch, entsprechende Defizite der EU-vergaberechtlichen Rahmenbedingungen durch spezielle Regelungen des 5. Sozialgesetzbuchs zu kompensieren, hat aus vergaberechtlicher Sicht kaum Erfolgschancen, kostet aber viel wertvolle Zeit. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass in dieser Zeit Rabattverträge unmöglich werden könnten. Das kann die Politik aber mit Blick auf eine effektive und effiziente Versorgung mit Arzneimitteln nicht ernsthaft in Betracht ziehen. Damit die Krankenkassen in vergaberechtskonformen Ausschreibungen entsprechende Anreize für robuste Lieferketten setzen können, braucht es Änderungen im EU-Vergaberecht.

 

Diversifizierung der Lieferkette

Damit Versorgungssicherheit Vorrang hat, bedarf es gezielter struktureller Maßnahmen zur Bekämpfung von Lieferengpässen. Dazu gehört die Diversifizierung der Lieferkette vor allem an der Wirkstoffquelle und bei den wesentlichen Hilfsstoffen, um die Risiken von Lieferausfällen oder dem Abriss der Lieferkette und die Abhängigkeiten von einzelnen Staaten in Fernost oder gar einzelner Hersteller zu reduzieren. Nach Angaben der EU-Kommission stammen 74 Prozent aller Wirkstoffe und Synthesevorstufen für die eigene Wirkstoffproduktion aus Asien (gemessen in Kilogramm). Davon entfällt der Löwenanteil (70 Prozent) auf China. Und bei den wichtigen Vorprodukten und Hilfsstoffen der bisher stark in Deutschland ansässigen Feinchemie ist China bestrebt, diese umfänglich ins Land zu holen. Hier ist die nationale und europäische Politik aufgefordert, die Diversifizierung durch den Aufbau und die Stärkung der Wirkstoffproduktion über wirtschaftspolitische Fördermaßnahmen zu unterstützen, damit ein Wirkstoff nicht nur in einem Land oder einer Weltregion hergestellt wird.

Diversifikation nur am Ende der Lieferkette – also bei den pharmazeutischen Unternehmen z. B. durch Verpflichtung der gesetzlichen Krankenkassen zur Mehrfachvergabe von Versorgungs- und Rabattverträgen – bringt dagegen keinerlei Verbesserung der Liefersicherheit. In diesem Zusammenhang sollte die Politik auch der Abwanderung von Chemieunternehmen nach China etwas entgegensetzen, um Einflussmöglichkeiten auf Lieferketten nicht zu verlieren. Auch hier gilt es, verantwortungsbewusst und zügig zu handeln.

 

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Martina Stamm-Fibich: „Kampf gegen Arzneimittellieferengpässe steht und fällt auch mit der Qualität der Daten“, Observer Gesundheit, 1. Februar 2023.


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