Kostenspirale der Pflegeausgaben bremsen

Dr. Burkhard John, ehemaliger Vorsitzender der KV Sachsen-Anhalt

Die Ausgaben der Pflegeversicherung steigen permanent an. Vor dem Hintergrund der steigenden Zahl an Pflegebedürftigen und der älter werdenden Generation der Babyboomer wird diese Entwicklung nicht aufzuhalten sein, wenn nicht gegengesteuert wird. Derzeit ist die stetige Steigerung der Beiträge die einzige politische Antwort, um das entstehende Defizit zu decken.

Schon heute führt diese Entwicklung zu weiter steigenden Lohnnebenkosten, die den Wirtschaftsstandort Deutschland zunehmend unattraktiv machen. Ein Umdenken und neue Wege zur Minderung dieser Aufwärtsspirale sind daher dringend notwendig.

 

Ausgangssituation

Für die Entstehung von Pflegebedürftigkeit gibt es grundsätzlich zwei Hauptursachen:

  • Akute Ereignisse wie beispielsweise Unfälle, Herzinfarkt oder Schlaganfall, die zu einer Minderung der Alltagskompetenz führen.
  • Chronische Erkrankungen, die im Laufe der Zeit oder durch die Summe verschiedener chronischer Erkrankungen zur Minderung der Alltagskompetenz führen.

Die lebenslange Vermittlung von gesundheitsbewusstem Verhalten besonders in Bezug auf Ernährung und Bewegung ist ein wesentlicher Aspekt zur Vermeidung von chronischen Erkrankungen und damit auch von hohem Pflegebedarf. Insbesondere wegen des im Alterungsprozess stark zunehmenden Muskelabbaus kommt der regelmäßigen Bewegung eine besondere Bedeutung zu. Dieses sollte beginnend in der Schule und später in allen Lebensbereichen über alle vorhandenen Kommunikationsmöglichkeiten gefördert werden.

Besondere Berücksichtigung muss aber die Situation finden, bei der ein Pflegebedarf droht bzw. eine Verschlechterung zu erwarten ist. Um bei entsprechenden Patientinnen und Patienten zunehmende Einschränkungen zu erkennen, steht im vertragsärztlichen Bereich für Patienten, die in der Regel über 70 Jahre alt sind, das sogenannte geriatrische Basisassessment zur Verfügung. Dieses Assessment kann sowohl im häuslichen Umfeld der Patientin/des Patienten, wie auch vor Ort in der hausärztlichen Praxis durchgeführt werden. Im Ergebnis können zunehmende Defizite im Bereich der Mobilität, der Selbstversorgung und der Kognition frühzeitig erkannt werden, die zu Pflegebedürftigkeit führen bzw. diese verstärken können.

Um die erkannten Defizite zu vermindern und damit die mögliche Pflegebedürftigkeit zu reduzieren, können ambulante Heilmittelverordnungen veranlasst werden. Sollte eine weiterführende Diagnostik erforderlich sein, stehen in einigen Regionen der Bundesrepublik geriatrische Schwerpunktpraxen oder geriatrische Institutsambulanzen zur Verfügung. Um ggf. geriatrische Komplexbehandlungen durchführen zu lassen, können vom behandelnden Vertragsarzt ambulante oder stationäre geriatrische Rehamaßnahmen veranlasst werden.

Durch eine Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen im § 40 Abs. 3 SGB V im Rahmen des Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetzes können solche Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen von den Krankenkassen nicht mehr abgelehnt werden, so dass de facto bei entsprechender medizinischer Notwendigkeit ein Rechtsanspruch auf die Durchführung solcher Maßnahmen für die Betroffenen besteht. Zusätzlich stehen für komplexe Maßnahmen im therapeutischen Team in einigen Regionen an Krankenhäusern mit geriatrischer Spezialisierung Tageskliniken zur Verfügung.

Trotz dieser möglichen Therapieoptionen muss jedoch leider festgestellt werden, dass derzeit

  • die Kapazitäten der Heilmittelerbringer in vielen Regionen nicht ausreichen,
  • die Anzahl der geriatrischen Schwerpunktpraxen bzw. geriatrischen Institutsambulanzen sehr gering ist
  • die Möglichkeiten der geriatrischen Rehabilitation in vielen Regionen nicht vorhanden sind oder zumindest nur sehr begrenzt zur Verfügung stehen
  • wohnortnahe ambulante Angebote fast gar nicht zur Verfügung stehen und tagesklinische Angebote, wenn überhaupt, nur an entsprechenden Kliniken im städtischen Bereich vorhanden sind.

Während die Zahl der Betroffenen immer weiter wächst, sind im hausärztlichen Bereich die Möglichkeiten, Defizite der Patientinnen und Patienten zu erfassen optimierbar und notwendige wohnortnahe therapeutische Kapazitäten zur Verhinderung oder Verminderung eines sich abzeichnenden Pflegedarfs vollkommen unzureichend.

 

Lösungsansätze

Um Pflegebedürftigkeit zu vermindern oder sogar zu verhindern, ist ein möglichst früher Ansatz für alle Maßnahmen erforderlich. Denn umso früher die Probleme erkannt werden, desto größer sind die Möglichkeiten, diese zu vermindern.

Defizite frühzeitig erkennen: Zunächst müssen die Möglichkeiten des frühzeitigen Erkennens von entsprechenden Veränderungen optimiert werden. Hierzu könnte die Einführung eines „Senioren Checks“ z.B. ab dem 65. Lebensjahr ein Ansatz sein, um frühzeitig in der Hausarztpraxis Kompetenzeinschränkungen zu erkennen. Dazu könnte die heute schon bestehende Gesundheitsuntersuchung durch altersspezifische Elemente und Testverfahren weiterentwickelt werden. Um auch Menschen zu erreichen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht regelmäßig wegen chronischer Erkrankungen eine Hausarztpraxis konsultieren, sollten die Krankenkassen für die Teilnahme an solchen Untersuchungen entsprechende Bonuspunkte o.ä. vergeben. Ggf. könnte so ein aufwendiges Einladungsverfahren oder die Einführung von kostenintensiven präventiven Hausbesuchen, wie sie immer wieder diskutiert werde, vermieden werden. Für Menschen, die in die hausarztzentrierte Versorgung eingeschrieben sind, sollte das entsprechende Einladungsverfahren über die verantwortliche Hausarztpraxis erfolgen.

Optimierte Therapiemöglichkeiten schaffen: Die bisher bestehenden Therapiemöglichkeiten nach der Feststellung von Defiziten in der Alltagskompetenz, die zu erhöhtem Pflegebedarf führen, sind vollkommen unzureichend. Eine sehr häufige Ursache für die auftretenden Probleme ist der Muskelabbau, der dann ggf. zur sozialen Insolation führt (beispielsweise, weil die Treppe nicht mehr geschafft wird) und zu zunehmenden Einschränkungen bei den Aktivitäten des täglichen Lebens. Auch beginnende kognitive Einschränkungen spielen häufiger eine Rolle bei den festgestellten Defiziten. Insofern sind komplexe und im Team abgestimmte therapeutische Maßnahmen notwendig, die aus Physio- und Ergotherapie und ggf. Logopädie bestehen, um die Defizite zu mindern. Solche Maßnahmen können zentralisiert oder ggf. auch mobil in der Häuslichkeit des Patienten angeboten werden.

Diese sollten zeitlich befristetet und komprimiert durchgeführt werden, weil dieses Vorgehen wesentlich effektiver ist als relativ kostenintensive, zeitlich stark gestreckte und untereinander unabgestimmte Einzelmaßnahmen der Heilmittelerbringer. Wie die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, ist es nicht zu erwarten, dass zeitnah flächendeckend ausreichende Möglichkeiten der geriatrischen Rehabilitation, insbesondere im ambulanten Bereich, geschaffen werden oder tagesklinische Angebote deutlich zunehmen. Um wohnortnah, flächendeckend und kostengünstig effektive Maßnahmen zur Verminderung eines sich entwickelnden Pflegebedarfs anbieten zu können, sollten Zentren für eine spezialisierte ambulante geriatrische Versorgung (SAGV) aufgebaut werden. Bei dieser Versorgungsform handelt es sich um eine zeitlich befristete, in der Regel zentralisierte, komplexe Therapie im therapeutischen Team unter Leitung von besonders qualifizierten (Haus)Ärzten, die sowohl im ambulanten wie auch im stationären Sektor angeboten werden kann. Eine solche Leistung sollte sektorenunabhängig abrechnungsfähig sein. Um den Pflegebedarf effektiv zu vermindern, müssen solche Angebote flächendeckend (auch in ländlich geprägten Bereichen) und wohnortnah zur Verfügung stehen, was durch die Einbeziehung aller Versorgungsbereiche auch relativ zeitnah realisierbar wäre.

Die stationäre Pflege ist für die Pflegekassen besonders kostenintensiv und für die Betroffenen besonders unattraktiv. Insofern sollte in der Regel vor der Aufnahme in eine stationäre Pflegeeinrichtung eine geriatrische Komplexbehandlung z.B. in einer SAGV erfolgen. Ziel sollte der Verbleib in der häuslichen Umgebung, ggf. mit entsprechender Wohnraumanpassung und Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst sein. Durch ein solches Vorgehen, dass beispielsweise auch im Rahmen einer Kurzzeitpflege erfolgen kann, wäre die Zahl der stationär Pflegebedürftigen reduzierbar.

Änderung der Finanzierung: Das seit Jahren bestehende Problem der fundamentalen Trennung der Finanzierung von Maßnahmen durch die Kranken- und die Pflegeversicherung muss an dieser Stelle zeitnah beseitigt werden. Während die oben beschriebenen komplexen präventiven/ rehabilitativen Maßnahmen bzw. Maßnahmen zur Reduktion der Pflegebedürftigkeit i.d.R. aus Mitteln der Krankenversicherung bezahlt werden und dort entsprechend kostensteigernd wirken, reduzieren sie langfristig und nachhaltig die Kosten der Pflegeversicherung. Aus Sicht der Krankenkassen ist die Finanzierung der oben beschriebenen Maßnahmen insbesondere angesichts der angespannten Finanzlage ausgesprochen unattraktiv. Dies führt seit Jahren dazu, dass hier keine Entwicklungen stattfinden, was zu den eingangs genannten Problemen im Bereich der Pflegeversicherung führt. Deshalb ist es notwendig, dass eine Beteiligung der Pflegeversicherung an den entstehenden Kosten im Bereich der Krankenversicherung ermöglicht wird bzw. die Kosten für die spezialisierte ambulante geriatrische Versorgung (SAGV) direkt von der Pflegeversicherung übernommen werden.

 

Fazit

Die Antwort auf stetig steigende Leistungsbedarfe in der Pflegeversicherung kann dauerhaft nicht die weitere Erhöhung der Beiträge sein. Hier ist schnellstmöglich ein Umdenken notwendig, mit dem Ziel Möglichkeiten zu schaffen die Pflegbedarfe zu verhindern oder zu vermindern. Hierzu sind einerseits die Möglichkeiten der frühen Erkennung von entstehenden Defiziten zu optimieren und andererseits wohnortnah, flächendeckend und kostengünstig sektorübergreifende Angebote zu schaffen, die eine geriatrische Komplexbehandlung ermöglichen. Zur Finanzierung solcher Angebote sollte vom Gesetzgeber eine Beteiligung der Pflegeversicherung ermöglicht werden.


Observer Gesundheit Copyright
Alle politischen Analysen ansehen