Kompendium der Governance des deutschen Gesundheitswesens

Wie sich eine neue Governance festigt – aber warum, und ist sie auch die richtige?

Prof. Dr. Andreas Lehr

Dr. Ines Niehaus

Die Regentschaft von SPD-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist beendet. Sein Alleinstellungsmerkmal als Minister scheint gewesen zu sein, dass er nicht nur, wie schon davor, die Medien an sich gezogen hat, sondern zusätzlich auch noch Kompetenzen und damit Macht an das BMG bzw. sich selbst.

Erste Belege dafür sind augenscheinlich die gesamte Krankenhausgesetzgebung ausgehend von ihrer Vorbereitungsphase bis hin zur spektakulären Umfirmierung der Bundeszentrale für gesundheitspolitische Aufklärung (BZgA) in das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) per Ministererlass ohne die dafür eigentlich notwendige Gesetzgebung. Aber war das wirklich Karl Lauterbachs Alleinstellungsmerkmal als Gesundheitsminister: seine spezifische neue Governance? [1] Wäre diese Governance wirklich neu? Und was folgt daraus für künftiges gesundheitspolitisches Handeln?

Die Autoren sind diesen Fragen in zwei Schritten nachgegangen: Zunächst durch eine Analyse der Gesetzgebung der beiden vergangenen Legislaturperioden unter besonderer Berücksichtigung der Amtsführung der beiden Gesundheitsminister Jens Spahn und Karl Lauterbach. Diese Analyse endet mit einer These. Dann folgt eine vertrauliche Umfrage mit Autoren des Observer Gesundheit, die eine einschlägige Expertise auf diesem Themengebiet besitzen. Gefragt wurde: Was halten sie von unserer These, und wie sollte mit diesem Thema politisch praktisch und wissenschaftlich zielführend umgegangen werden.

 

I. Mehr Kompetenzen für das BMG unter Gesundheitsminister Jens Spahn bis zum Corona-Lockdown

Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Universität zu Köln hat systematisch die Amtsperiode des Minister-Vorgängers Jens Spahn (CDU) unter diesem Gesichtspunkt analysiert – und zwar exakt bis zum Beginn der Corona-Krise, sodass die Ergebnisse nicht von typisch krisenhafter exekutiver Regulierungstätigkeit verfälscht sind. [2]

Schon zwei herausragende Maßnahmen in der Ära Spahn deuten darauf hin, dass auch er einen Kompetenzzuwachs des BMG bzw. der von diesem abhängigen Regierungsinstitutionen im Blick hatte: zum einen die Umwandlung der gematik von einer GmbH der gemeinsamen Selbstverwaltung in eine GmbH, die zu 51 Prozent dem BMG gehört; zum anderen die Nutzenbewertung Digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA), die nicht der Selbstverwaltung in G-BA und IQWiG übertragen wurde, sondern – eher systemfremd – bei der nachgeordneten und weisungsgebundenen Zulassungsbehörde BfArM angesiedelt wurde.

Die Studie [2] untersucht dies systematisch, indem sie die Maßnahmen von 29 Gesetzen und 15 Verordnungen kategorisiert, analysiert und u.a. Kompetenzverschiebungen zwischen Regierungs- und Nicht-Regierungsinstitutionen identifiziert. Dabei geht der Bereich der Nicht-Regierungsinstitutionen über das hinaus, was unter gemeinsamer Selbstverwaltung verstanden wird; gemeint sind damit z. B. auch gesetzliche Krankenkassen oder einzelne Leistungserbringerorganisationen.

Veränderungen bei Entscheidungskompetenzen können vertikal oder horizontal sein. Die horizontale Kompetenzveränderung wird in dieser Studie ausschließlich auf Bundesebene zwischen Regierungsinstitutionen (z. B. BMG, BfArM, RKI) und/oder Nicht-Regierungsinstitutionen (z. B. G-BA, GKV-SV, DKG) erfasst. Die vertikale Kompetenzveränderung beschreibt Veränderungen bei Entscheidungskompetenzen zwischen Bundes- und Landesebene.

Das mit diesem begrifflichen Instrumentarium und methodischen Vorgehen erzielte Ergebnis [3]: Von 964 Regulierungsmaßnahmen stehen 149 (16 %) auch für eine Änderung der Kompetenzen; davon wiederum fällt der Löwenanteil an Regierungsinstitutionen (63 %, 94 von 149 Maßnahmen).

 

Abbildung 1: Übersicht horizontale und vertikale Kompetenzveränderungen

 

Quelle: Abbildung aus der Studie von Niehaus et al. 2024 [2] [Deutsche Übersetzung]

 

Abbildung 2: Liste der Institutionen mit Kompetenzveränderungen

 

Quelle: Tabelle aus der Studie von Niehaus et al. 2024 [2] [Deutsche Übersetzung]

 

Die Studie belegt, dass innerhalb der Regierungsinstitutionen das BMG die meisten Kompetenzen zusätzlich erhält (46%, 69 von 149 Maßnahmen) und wie sich dies auf verschiedene Politikfelder verteilt. Im Zentrum stehen die Leistungsbereiche stationäre und ambulante Versorgung sowie Arzneimittel. Die Politikfelder öffentliche Gesundheit und Langzeitpflege spielen bei dem Entscheidungskompetenzzuwachs für Regierungsinstitutionen eine untergeordnete Rolle.

 

Abbildung 3: Verteilung von Kompetenzen auf BMG und andere Regierungsinstitutionen

 

Quelle: Abbildung aus der Studie von Niehaus et al. 2024 [2] [Deutsche Übersetzung]

 

Damit ist der Nachweis erbracht, dass Jens Spahn und bereits vor der Corona-Krise systematisch die Kompetenzen des BMG erweiterte.

 

II. Nicht nur Corona-Regulierung bei Jens Spahn bis zum Ende seiner Amtszeit – Lauterbach folgt Spahns neuer Governance

Ausnahmesituationen sind „Stunden der Exekutive“. Das gilt paradigmatisch für die Corona-Krise. 18 Gesetze und 95 Verordnungen hatten einen ausschließlichen, zumindest ganz überwiegenden Corona-Bezug und scheiden damit für den Zweck dieser politischen Analyse aus [4]. Die Corona-Regulierung zeichnet sich sehr viel stärker durch vertikale Kompetenzverschiebungen aus als Ergebnis des Bund-Länder-Ringens um geeignete Antworten auf die pandemischen Herausforderungen.

 

Abbildung 4: Vergleich der Regulierungsdichte in der 18. und 19. Legislaturperiode

 

 

Neben dieser Corona-Regulierung in der zweiten Hälfte von Spahns Amtsperiode gab es aber ebenso, wie die Abbildung 4 zeigt, eine umfangreiche Gesetzgebung, die keinen oder nur einen geringen Corona-Bezug aufweist und in der Spahn zumindest teilweise das Programm der Stärkung der Exekutive bzw. der sukzessiven Entmachtung der Nicht-Regierungsinstitutionen konsequent weiterverfolgt. Christopher Hermann, Autor des Observer Gesundheit, hat dazu folgende Maßnahmen in dieser Phase identifiziert und zu dieser Analyse hier beigesteuert:

 

Aus dem Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG):

  • Pflicht-Absenkung der Rücklagen-Obergrenze auf das 0,8fache einer Kassen-Monatsausgabe, Verpflichtung zur Abschmelzung der Rücklagen innerhalb max. 3 Jahren ansonsten Zwangsabführung (§ 260 SGB V)
  • Zwangskollektivierung kassenindividueller Rücklagen über 40 % einer Monatsausgabe (§ 272 I SGB V) [5]

 

Aus dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG):

  • K(Z)BV haben in Satzung Art und Höhe der Entschädigung der Organmitglieder unmittelbar festzulegen; Satzung ist durch Aufsicht (hier BMG selbst) genehmigungspflichtig (§ 81 I Nr. 8 SGB V)
  • Pflicht der Kassen zum Abschluss von sog. Qualitätsverträgen mit Krankenhäusern, Vorgabe von Mindestausgabevolumen, Sanktion (Zwangsabführung) bei Unterschreitung, verbindliche Rahmenvorgaben der Bundesebene (SpiBu/DKG) (§ 110a SGB V)
  • Weisungsrecht des BMG gegenüber G-BA zur „Prüfung“ der Festlegung Mindestmenge für bestimmte Krankenhausleistungen (§ 136b III 5 SGB V).

 

Ergänzungen liefert zudem das Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (DVPMG):

  • die umfängliche Verankerung auch der Digitalen Pflegeanwendungen (DiPA) beim BfArM
  • eine Verordnungsermächtigung des BMG zur Weiterentwicklung des Interoperabilitätsverzeichnisses der gematik.

Insgesamt ist die Digitalisierung bei Jens Spahn besonders von ministeriellem Aktionismus geprägt, wie eine Legislaturperiode später die Krankenhausreform bei Karl Lauterbach.

Dieser hat die Spahn-spezifische Governance in der 20. Legislaturperiode konsequent fortgeführt, wie Christopher Hermann in seiner Analyse „Zur gesundheits- und pflegepolitischen Bilanz der Ampelkoalition“ im Detail nachweist [6]. Und zwar durchaus eigenständig neben der auch von ihm praktizierten corona-spezifischen Regulierung zu Beginn seiner Amtsperiode.

Besonders auffällig ist der Machtzuwachs der Exekutive in Lauterbachs Prestigeprojekt Krankenhausreform, insbesondere mit folgenden Maßnahmen:

  • Berufung einer Regierungskommission zur Erarbeitung von verbindlichen Reform-Empfehlungen (ohne Selbstverwaltung / “Lobbyisten“)
  • Krankenhaustransparenzgesetz: Veröffentlichung eines Klinik-Atlas als „Ersatz“ für andere etablierte Krankenhausinformationsplattformen von Nicht-Regierungsinstitutionen
  • KHVVG mit drei zentralen Verordnungsermächtigungen zugunsten des BMG (Leistungsgruppen, Mindestvorhaltezahlen, Transformationsfonds)
  • G-BA-Bedeutungsverlust im KHVVG (z.B. Kompetenzentzug zu Vorgaben der Qualitätssicherung im Krankenhausplanungsrecht).

Weitere Höhepunkte seines ministeriellen Machtanspruchs waren die Gesetzgebungen zum „Gesundes-Herz-Gesetz (GHG)“ und zum „Gesetz zur Stärkung der öffentlichen Gesundheit“ – beide dem vorzeitigen Ampel-Aus zum Opfer gefallen. Beim GHG wollte Lauterbach ursprünglich die näheren Vorgaben für die Früherkennungsuntersuchungen durch Rechtsverordnung selbst vornehmen – eine schwere Systemverletzung, weil dies Aufgabe des G-BA ist. Und als Ersatz für das „Gesetz zur Stärkung der öffentlichen Gesundheit“ benannte er per Ministererlass die BZgA in BIÖG um und diktierte eine Kooperationsvereinbarung zwischen dem Robert Koch-Institut (RKI) und dem BIÖG.

 

III. Exekutiver Dirigismus: Definition und Abgrenzung zur korporatistischen Governance

Christopher Hermann war es, der diese neue Governance für das Gesundheitswesen politikwissenschaftlich definierte und in ihren Begründungszusammenhängen darlegte: den exekutiven Dirigismus (exDi). Kurz zusammengefasst im Observer Gesundheit:

„Das traditionell korporatistisch angelegte GKV- und SPV-System ist in den Jahren der GroKo III (mit Gesundheitsminister Jens Spahn) weg von den unmittelbar Beteiligten in der ‚(gemeinsamen) Selbstverwaltung‘ und weg vom bisherigen ‚System abgestufter Regulierung‘ in Richtung auf zentralstaatliche Dominanz und Detailregulierung verschoben worden (exekutiver Dirigismus). Mit dem exekutiven Dirigismus wurde ein verändertes Entscheidungs- und Machtgefüge etabliert. Der schleichende Umbau des GKV- und des SPV-Systems vollzieht sich dabei nicht im Rahmen einer neuartigen gesundheits- und pflegepolitischen Agenda. Der exekutive Dirigismus fußt nicht auf einem programmatisch klar unterlegten Fundament veränderter Systemsteuerung. Er ist rein technokratisch gekennzeichnet durch gesetzgeberischen Hyperaktionismus und zunehmenden exekutiven Machtzuwachs. Er ist die Folge einer politischen Entwicklung, in der seit Jahren die Kraft fehlt, die sich verschärfenden Strukturprobleme angemessen durch konsequente Strukturreformen zu beseitigen.“ (Vgl. [6] und [7])

Besonders wichtig für diese Analyse ist der Hinweis auf das fehlende programmatisch klar unterlegte Fundament der veränderten Systemsteuerung in Verbindung mit gesetzgeberischem Hyperaktionismus.

Der exekutive Dirigismus lässt sich u.a. von der korporatistischen Governance abgrenzen. Ihr herausragender Protagonist Rainer Hess (zuerst an prominenter Stelle für die KBV, dann für den G-BA tätig) hat diesem Thema seine kürzlich veröffentlichte Habilitationsschrift gewidmet: „Rechtliche Systematik der Gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen“; diese wurde von Robert Paquet im Observer Gesundheit besprochen ([8] und [9]. Konzeptionell grundlegend und besonders lesenswert ist in diesem Buch der Abschnitt zur Einordnung der gemeinsamen Selbstverwaltung als mittelbare Staatsverwaltung. [10])

Rainer Hess beschreibe, so Paquet, „die Funktionsbedingungen dieses Systems, seine widersprüchliche Entwicklung und den aktuellen Reformbedarf“. Das Buch komme zur rechten Zeit, „um sich mit der erratischen Governance der Minister Spahn und Lauterbach auseinanderzusetzen und eine bessere Perspektive zu entwickeln.“ [8] Für Rainer Hess sei der „Korporatismus … wesentliches Strukturmerkmal“ für ein Gesundheitssystem, das den „mittleren Weg“ verfolge. Verbindlichkeit und Einheitlichkeit auf beiden Seiten der kollektiven Vertragspartner seien dafür Funktionsbedingungen, die durch die neueren Entwicklungen allerdings Risse bekommen hätten. Letztlich sieht Paquet die korporatistische Governance in der Krise: „Dass die von Hess favorisierte Rückkehr zu den klassischen korporatistischen Regelungen aber eine Lösung für die Steuerungs-Probleme unseres Gesundheitssystems sei, will sich dem Rezensenten nicht erschließen. Der gesellschaftliche Wandel untergräbt allmählich die Voraussetzungen des Korporatismus (Einheitlichkeit der Gruppeninteressen, stabile Milieus etc.). Damit sieht sich die Politik selbst – zum großen Teil mit Recht – immer stärker gefordert, in die Regulierung einzugreifen. Leider fehlt bei Hess eine entsprechende Auseinandersetzung mit den (heutigen) Grenzen korporatistischer Regulierung.“ [11]

Hier ist nicht der Platz für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der korporatistischen Governance, zumal diese schon in den 1980igern und 1990zigern des letzten Jahrhunderts bis in letzte Details geführt wurde. Ein Ergebnis war damals das Governance-Konzept der „Solidarischen Wettbewerbsordnung“, die sich jedoch nicht durchsetzen konnte. Der exekutive Dirigismus hingegen ist bislang noch nicht Gegenstand eines offenen, systematischen Diskurses; er wird wohl einfach nur praktiziert.

Die in den Teilen I. bis III. begründete These ist somit, dass sich beginnend mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eine neue Governance im Sinne des exekutiven Dirigismus verfestigt hat.

 

IV. Umfrage unter Autoren des Observer Gesundheit / Kompendium zur Governance des deutschen Gesundheitswesens

Die Governance entscheidet mehr als einzelne inhaltliche Ziele oder Maßnahmen über den Erfolg von Regierungstätigkeit bzw. die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens. Eine sich verfestigende neue Governance wäre kein Problem, wenn sie faktisch gute Ergebnisse für das Gesundheitswesen und die Gesundheitspolitik brächte. Doch ernste Zweifel sind angebracht, etwa an der Amtsführung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach [12]. Der exekutive Dirigismus hat bislang den Nachweis seiner Überlegenheit augenscheinlich nicht erbracht. Wie könnte ein methodischer Ausweg aussehen?

Nils C. Bandelow und Johanna Hornung haben sich im Jahr 2019 im Observer Gesundheit grundsätzlich mit diesem struktur- und diskurspolitischen Problem befasst [13]. Sie kommen zu dem Schluss: „Anders als in der Medizin hat sich das Konzept der Evidenzbasierung bei der Entscheidung über Governance-Strukturen also noch nicht durchgesetzt. Dies liegt unter anderem daran, dass die wissenschaftlichen Empfehlungen teilweise widersprüchlich und kompliziert sind. Trotzdem findet sich zu recht vermehrt die Forderung danach, auch bei Governance-Strukturen wissenschaftliche Evidenz zumindest zur Kenntnis zu nehmen. In der Fachsprache heißt das ‚evidenz-informierte Governance‘. (…) Ständige Evaluation zu den Auswirkungen etwa einer Veränderung des Verhältnisses zwischen G-BA und BMG ist ebenso unverzichtbar wie die systematische Auswertung von Erfahrungen anderer Länder (etwa Frankreich), wenn man in dieser wichtigen Frage nicht allein auf Machtpolitik und anekdotische Evidenz vertrauen will. Das deutsche Gesundheitswesen braucht also eine evidenz-informierte Governance ähnlich dringend wie die erfolgreich implementierte evidenz-basierte Medizin.“

Mit diesem Impuls sind Autoren [14] des Observer Gesundheit, die eine einschlägige Expertise auf diesem Themengebiet besitzen, um eine Einschätzung gebeten worden zur These – der sich verfestigenden Governance des exekutiven Dirigismus. Zudem war ihre Meinung gefragt, wie mit diesem Themenkomplex politisch praktisch und wissenschaftlich weiter umgegangen werden sollte.

18 Autoren sind der Bitte nachgekommen und haben Textbausteine mit Aspekten, Argumenten und Vorschlägen geliefert, die im Folgenden grob systematisiert veröffentlicht werden. Den Autoren ist Anonymität zugesagt worden: Die Kraft der Argumente soll zählen und nicht der Autoritäten oder Eminenzen. Einige wenige, thematisch unvermeidbare Ausnahmen gibt es dennoch, damit Bezüge nicht verloren gehen – sie sind mit den genannten Autoren abgestimmt worden.

Außerdem ist den Autoren ein zwischenzeitlicher Sachstand der Bausteine übermittelt worden, damit sie ihre Aussagen validieren und – auch in Bezug auf Aussagen anderer Autoren – ergänzen konnten. Entstanden ist dadurch ein, teilweise sogar dialogisch-bezugnehmendes Kompendium zur Governance des deutschen Gesundheitswesens.

Großer Dank den Autoren an dieser Stelle!

Um den künftigen Diskurs zu erleichtern, sind die Textbausteine durchnummeriert.

 

Das Kompendium:

 

A. Ursachenforschung

1. Die in der Analyse herausgearbeiteten Kompetenzverschiebungen sind unter den Autoren eher unstrittig: Ich finde, dass der Text extrem gut die Verschiebung von Selbstverwaltung zu Staat analysiert und das auch sehr gut politikwissenschaftlich einordnet.“ Oder: „Insbesondere den empirisch angelegten Teil 1 des Beitrags fand ich höchst interessant, zeigt er doch klar die Verschiebungen auf die zentralstaatliche Ebene.“ Ergänzend dazu weist ein Autor darauf hin, dass innerhalb des BMG auch eine Entmachtung der Fachebene in Richtung Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach festzustellen ist.

2. Die Autoren interessiert eher, wie es dazu kam, und hier zeigt sich eine deutliche Konvergenz, die Schwäche der korporatistischen Governance als Ursache der Krise herauszustellen: „Der exekutive Dirigismus hat sich bei ihnen (erg. Jens Spahn und Karl Lauterbach) von den persönlichkeitsbedingten Selbstherrlichkeiten abgesehen objektiv immer mehr Bahn gebrochen, da man mit den (tradierten) Instrumenten des Korporatismus den überbordenden Problemhaushalt eines den heutigen patientenbezogenen Versorgungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten immer weniger gerecht werdenden fragmentierten Gesundheitssystems nicht mehr adäquat bearbeiten zu können glaubte.“ Oder: „Hinzu kam ein seit der 19. Legislaturperiode immer deutlicheres Zutagetreten des Versagens der kooperativen Strukturen der Selbstverwaltung. Krassestes Beispiel ist die bewusst von einigen Bänken herbeigeführte jahrzehntelange Verzögerung digitaler Strukturen. (…) Veränderungen in der Umsetzungsverantwortung basieren also nicht auf einer willkürlichen ‚eminenzbasierten Governance‘ oder einen ‚exekutiven Dirigismus‘, sondern sind Ausdruck der Frustration, dass eine ‚korporatistische Governance‘ zu oft veränderungsverhindernd agierte.“ Und noch vertiefend dazu: „Damit will ich sagen: Man mag ja Fan der Selbstverwaltung sein und es nicht schön finden, dass man nicht mehr mitspielen darf. Aber hat es die Selbstverwaltung vorher besser hinbekommen (gematik; Qualitätsindikatoren)? Die ‚Partner‘ der gemeinsamen Selbstverwaltung haben sich viel eher aus der gemeinsamen Gestaltung verabschiedet, als es den Ministern eingefallen ist, dass sie das doch auch machen könnten – Gestaltungsvakuum sozusagen. Es wäre übrigens eine interessante Analyse wert, wie es zu diesem Einflussverlust gekommen ist; meine These: durch die Einbeziehung der sektoralen Unterschiede in den G-BA.“

3. Ähnlich argumentiert ein weiterer Autor: „Als eine Art ‚Retter in der Not‘ und neue korporatistische ‚Wollmilchsau‘ ist der G-BA ‚neu erfunden‘ und in seinen Kompetenzen und Aufgaben immer weiter ermächtigt worden, Stichwort ‚kleiner Gesetzgeber‘. Aber auch diese institutionelle Erweiterung kann auf Dauer nicht die Defizite ansonsten überkommener Systemaufstellung (Ferdinand Gerlach sprach von der ‚organisierten Unverantwortlichkeit‘) kompensieren. Hier setzt dann der exekutive Dirigismus an – ohne je ein eigenes programmatisches Narrativ entwickelt zu haben (!) – und versucht Steuerung durch Detailvorgabe, da es eben angeblich der G-BA nicht hinkriegt etc.“

4. Ein Autor weist, durchaus in diesem Sinne, auf das von Jens Spahn immer wieder vorgebrachte, vor allem auf die Digitalisierung bezogene Argument hin: „Der Gesundheitsminister hat immer die Torte im Gesicht – egal, was die Selbstverwaltung macht.“ Dann könne es der Gesundheitsminister auch gleich selbst machen, und habe damit sein Governance-Konzept begründet. Eigentlich sei der G-BA als „Tortenfänger“ konzipiert worden: „Ulla Schmidt hat den Gemeinsamen Bundesausschuss nicht aus Liebe zur Selbstverwaltung, sondern als Selbstschutz stark gemacht: Er sollte unangenehme Sparmaßnahmen verantworten. Nach dem Jahrzehnt der Fülle kommt jetzt die Zeit, in der er das machen soll, für was ihn Ulla Schmidt konzipiert hatte: als Tortenfänger.“ Dazu passt auch folgendes Zitat: Die Reste der ‚alten‘ Selbstverwaltung taugen oft nur noch als Sündenbock.“

5. „In der Analyse kommt mir zu kurz, dass noch vor den Zentralisten Spahn und Lauterbach die Kassenseite zentralisiert und mit dem GKV-SV eine mächtige Institution geschaffen wurde, die zentrale Machtbefugnisse bündelt und festhält. Einzelne Krankenkassen haben immer weniger eigene Entscheidungsfreiheiten durch Stärkung der Zentrale. Und dieses starke Gegenüber hat vielleicht auch die Entmachtung der Selbstverwaltung durch Zentralisierung der Politik befördert.“

6. Eher persönliche Motive sieht folgender Autor: „Summa summarum sind die Aussagen der zitierten Autoren für die 19. Legislaturperiode durch den eigenen persönlichen Hintergrund geprägt und eben nicht durch eine böse klandestine Strategie des Gesetzgebers oder eines Gesundheitsministers abgelöst worden. Ursache und Wirkung sollten nur zusammen betrachtet werden.“ 

7. „Unabhängig von Karl Lauterbachs Selbstverständnis als Wissenschaftler lassen sich länger zurückreichende Bestrebungen des BMG erkennen, Entscheidungen häufiger selbst zu treffen und nicht über die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen zu gehen. Beispiele gibt es im Großen, z. B. die Umstrukturierung der gematik, wie im Kleinen, z. B. den Versuch Spahns, Fettabsaugung am G-BA vorbei im TSVG als Kassenleistung festzulegen, oder den Versuch Lauterbachs, beim Herzgesetz medizinische Verfahren unmittelbar vorzugeben. Letztlich sind auch einige Entscheidungen in der Coronakrise hier einzuordnen, ohne damit verschwörungstheoretische Unkereien über Machtergreifungspläne eines ‚tiefen Staats‘ befördern zu wollen.

Dass dabei manchmal Frust über Selbstblockaden des Systems eine Rolle spielt, ist unbestritten, aber die ministerielle Selbstermächtigung ist ein süßes Gift, das schnell auch da genommen wird, wo es nicht sinnvoll und zielführend ist, das Herzgesetz war dafür ein Paradebeispiel.

Kurioserweise hat man den Öffentlichen Gesundheitsdienst als unmittelbaren Arm staatlichen Handelns im Gesundheitswesen lange Zeit kurzgehalten. Aus Sicht des BMG aber vermutlich eine Nebensache, weil es hier um Länderzuständigkeiten geht.“

8. „1. ‚die von Hess favorisierte Rückkehr zu den klassischen korporatistischen Regelungen‘. Damit verbinde ich die Erinnerung an Gespräche der obersten Führungsebene von Ärzte- und Kassenverbänden am Flughafen kurz vor dem Abflug, bei denen unter Peers auf dem kleinen Dienstweg die grundlegenden Entscheidungen in der Arzneimittelpolitik binnen weniger Minuten getroffen wurden, zu denen vorher Arbeitsgruppen der Selbstverwaltung über Stunden, Tage oder Wochen getagt hatten. In besonders schwierigen Fällen wurde die Entscheidung beim gemeinsamen Segeltörn am Wochenende gefällt. Diese Netzwerkgovernance – geprägt von einer institutionalisierten Selektivität – ist sicherlich eine mögliche Ausprägung korporatistischer Modelle. Eine qualitative Bewertung ist jedoch ohne eine systematische wissenschaftliche Analyse nicht möglich.

2. ‚beginnend mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eine neue Governance im Sinne des exekutiven Dirigismus‘. Diesen vermeintlich ‚späten Start‘ kann ich aus Sicht der Arznei- und Heilmittelversorgung nicht nachvollziehen. Meine eigene Tätigkeit war insbesondere durch Ulla Schmidt geprägt. In diese Zeit fielen zentrale Maßnahmen wie das OTC-Verordnungsverbot, die Einführung des Arzneimittelbudgets, der Zwangsrabatt, die verpflichtende Aut-idem-Regelung sowie die erweiterte Substitutionspflicht für Apotheken. Hinzu kamen die Informationspflicht gemäß § 73 Abs. 8 SGB V und – damit eng verknüpft – die Direktive zur Umsetzung gezielter Aktionsprogramme. Letztere wurde flankiert durch mehrfache kurzfristige Einbestellungen ins BMG, bei denen innerhalb weniger Tage rechtssichere, umsetzungsreife Konzepte zur flächendeckenden Information der Ärzteschaft vorzulegen waren. Als politisches Druckmittel schwebte die Einführung eines Arzneimittelbudgets über den Köpfen. Die von der KBV geäußerten Bedenken zur rechtlichen Tragfähigkeit der Aktionsprogramme wurden dabei ignoriert. Selbst die juristisch fundierten Bedenken von Dr. Hess – der auf eigene Entscheidung hin zur Abwehr einer möglichen Klagewelle an den Gesprächen in letzter Instanz teilnahm, fanden kein Gehör.

Auch die Vorgaben zur inhaltlichen Ausgestaltung waren ungewöhnlich präzise. Die KBV-Juristen und ich hatten noch lange mit der Bearbeitung der darauffolgenden Klagen der Industrie zu tun. Ein weiteres Beispiel ist die Richtlinie zur enteralen Ernährung, bei der das BMG ebenfalls die Federführung übernahm und ein Pharmaunternehmen mit einer groß angelegten Faxaktion zur Verhinderung der vermeintlich drohenden Euthanasie gepaart mit persönlichen Abendessen unter Duzfreunden maßgeblich zur Meinungsbildung im BMG beitrug.

In beiden Fällen war der Hintergrund des ministeriellen Aktivismus das bewusste Ausbleiben der gewünschten Steuerung durch die Selbstverwaltung – eine Mischung aus strategischer Passivität und dem Wunsch, die eigene Klientel nicht zu irritieren oder etablierte Strukturen nicht zu gefährden.“

9. „Der exekutive Dirigismus findet seine Ursache in der Grundkonstruktion der (gemeinsamen) Selbstverwaltung, deren primäre Aufgabe es ist, die gesetzlich vorgegebenen Finanzmittel adäquat im Sinne einer bestmöglichen Patientenversorgung zur Verfügung zu stellen. Investitionen in die Zukunft finden bei diesem Steuerungsansatz deshalb keine Berücksichtigung.“ 

10. „Die herausgearbeiteten Kompetenzverschiebungen hin zum zuständigen Bundesministerium für Gesundheit bzw. seinem Minister würde ich ebenfalls als ein Phänomen des letzten Jahrzehntes bestätigen. Dazu kommt in meiner Wahrnehmung eine zunehmende Entmachtung der Parlamentarier. Gefühlt ist die Durchsetzung der Interessen des jeweiligen Ministers wichtiger sind als die breite parlamentarische Akzeptanz. Vielleicht fehlt es zunehmend an einem überparteilichen Vertrauensverhältnis oder die Profilierung der eigenen Partei ist wichtiger als der parteiübergreifende Konsens.“

 

B. Weitere Elemente einer Governance-Analyse

 Die befragten Autoren haben weitere Elemente zur Problemanalyse beigetragen:

1. „Die zeitliche Perspektive eines Ministeriums ist die Legislatur, und das Handeln birgt die Tendenz zu ‚ad hocery‘ und Planwirtschaft in sich – die Perspektive der Institutionen der Selbstverwaltung ist längerfristiger.“

 2. „Karl Lauterbach war – nach derzeitigem Stand – mit seiner Governance nicht sehr erfolgreich, aber das ist für mich kein Plädoyer für die Selbstverwaltung. Wenn ‚exekutiver Dirigismus‘ dafür steht, dass einer alles weiß und es mit der Brechstange durchsetzt, dann würde dagegen ‚kooperativer Dirigismus‘ stehen, in dem von einem (Achtung Buzzword) ‚Runden Tisch‘ analysiert wird, wo wir stehen und wo wir hinwollen, unter Beteiligung relevanter Akteure Maßnahmen erarbeitet werden, möglichst viele ‚mitgenommen‘ werden, aber die Pläne mit Nachdruck verfolgt und dirigiert werden.“ 

3. „Die beiden Wege, Selbstverwaltung einerseits und exekutiver Dirigismus andererseits, unterscheiden sich durch etwas ganz Fundamentales: Vertrauen. Beim Weg der Selbstverwaltung hat der Gesetzgeber das Vertrauen, dass die betroffenen Institutionen, denen er die Verwaltung überträgt, das auch können. Beim Weg in den exekutiven Dirigismus fehlt dem Gesetzgeber dieses Vertrauen – er misstraut der Selbstverwaltung und regelt die Dinge, die es aus seiner Sicht zu tun gilt, immer detaillistischer und selbst.“ 

4. „Wenn Hess als Lösung meint, es brauche nur mehr ‚Vertrauen‘ in die Selbstverwaltung, dann könne man die „§§-Dichte gesetzlicher Regelungen … erheblich reduzieren, will er nochmals ein Pferd reiten, das lange tot ist!“ 

5. „Die Regulierungsdichte wird in der politikwissenschaftlichen Forschung mittlerweile unter dem Phänomen der Policy Accumulation – der Akkumulierung von Regelungen – untersucht. Und hier zeigt sich durchaus auch die Herausforderung in der Implementation, wenn Behörden mit den Neuregelungen so überfordert sind, dass sie sie weder umsetzen noch vor lauter Arbeit eigene Akzente setzen können. Gleichzeitig gab es auch früher in Deutschland schon Beispiele von Nicht-Umsetzen von Regulierungen (Bsp. Positivliste), die die Selbstverwaltungsakteure und auch die Länder aktiv abgelehnt und dann einfach nicht umgesetzt haben. Eventuell wäre also dieses partizipative Element von ‚Bottom-Up Implementation‘ und Politikformulierung durch Partizipation und Rückspiegelung der Herausforderungen durch die Umsetzungsakteure ein ‚methodischer Ausweg‘.“ 

6. „Eine spannende Frage ist , ob die Politik dem System ‚to dos‘ auferlegt, die nicht zum System passen, beispielsweise versicherungsfremde Dinge, so dass die Selbstverwaltung in der Umsetzung schlecht ist oder ganz scheitert.“ 

7. „Interessant ist, dass Christopher Hermann schreibt: ‚Er ist die Folge einer politischen Entwicklung, in der seit Jahren die Kraft fehlt, die sich verschärfenden Strukturprobleme angemessen durch konsequente Strukturreformen zu beseitigen.‘ Ja, wer hat denn die Kraft nicht aufgebracht? Offenbar doch die Politik. Und nun agiert die kräftig, aber nicht so, wie ‚man‘ möchte.“ 

8. „An einer Stelle werde ich ja auch von einem der Befragten explizit zitiert und meine grundlegende Definition des exDi, die bei Dir schon zuvor ausführlich zitiert wird, wohl in der finalen Konsequenz eher skeptisch beurteilt (Vgl. A2 und B7). Allerdings unterliegt der Autor hier m.E. einem Irrtum. Der exDi ist nach meinem Dafürhalten eben zentral durch technokratisches Handeln gekennzeichnet, das sich konkret durch gesetzgeberischen Hyperaktionismus und exekutiven Machtzuwachs manifestiert. ExDi ist deshalb für mich letztlich mitnichten ein ‚kräftiges‘ Agieren ‚der Politik‘, wie der Autor meint, sondern im Gegenteil gerade Ausdruck eklatanter politisch-konzeptioneller Schwäche – das Versagen bei überfälligen Strukturreformen, die von den jeweiligen politischen Entscheidungsträgern vorangetrieben und selbstverständlich nur von politischen Mehrheiten durchgesetzt werden könnten bzw. parlamentarisch (letzt-)verantwortet werden müssen – bei gleichzeitigem Allmachts- und Allregelungsanspruch der herrschenden Politikgestalter gerade auch in ihrer eigenen Außendarstellung gegenüber der Bevölkerung. Ob damit wirklich eine breit vorhandene Erwartungshaltung der Menschen bedient wird, sei dahingestellt.“  

9. „Man könnte sich angesichts dessen, dass Karl Lauterbach gezielt die Gesundheitsdaten als Rohstoff für die Industrie erschließen will, Gedanken darüber machen, ob man hier die staatliche Förderung des ‚digitalen Kapitalismus‘ im Gesundheitswesen beobachten kann. ‚Digitaler Kapitalismus‘ verstanden als private Kontrolle von Segmenten des Gesundheitsmarktes selbst. Durch die firmenspezifischen digitalen Angebote werden Nutzer an die Plattformen gebunden, Umstiege werden sehr teuer. Man hätte dann hier im Sinne von Philipp Staab (Soziologe) eine Transformation von der bisherigen neoliberalen Gesundheitsökonomie in eine Gesundheitsökonomie des digitalen Kapitalismus. Das wäre ein neues Element von Governance durch den Staat jenseits des alten Korporatismus.“ 

10. „1. Funktionale Umnutzung von Selbstverwaltungsinstituten – Verschiebung institutioneller Steuerungslogik. Die zunehmende Instrumentalisierung von Instituten der Selbstverwaltung wie IQWiG, IQTIG und InEK ist ein Schlüsselphänomen der neuen Governance-Praxis. Diese Institute, ursprünglich als wissenschaftlich-technische Dienstleister innerhalb der korporatistischen Selbstverwaltungsstruktur konzipiert, werden zunehmend direkt durch das BMG beauftragt – und damit funktional in die exekutive Steuerung eingebunden, ohne dass dies institutionell oder gesetzgeberisch systematisch reflektiert würde.

Ein zentrales Beispiel ist das Krankenhaustransparenzgesetz, in dem das IQTIG direkt vom BMG mit der Erstellung des Bundes-Klinik-Atlas beauftragt wurde – ohne Einbindung des G-BA, obwohl das IQTIG institutionell diesem zugeordnet ist. Hier zeigt sich exemplarisch, wie ministerielle Governance durch Verlagerung der Steuerung auf den Auftraggeber erfolgt – nicht durch institutionelle Umstrukturierung, sondern durch funktionale Umnutzung innerhalb bestehender Hüllen.

Im Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) wurde das IQWiG durch das BMG mit methodischen Vorarbeiten zur Festlegung von Mindestvorhaltezahlen beauftragt – obwohl nach § 139a SGB V grundsätzlich der G-BA Auftraggeber ist. Die Beauftragung durch das Ministerium bedeutet einen Bruch mit der bisherigen Governance-Logik: Statt eines deliberativen, methodisch rückgekoppelten Selbstverwaltungsprozesses erfolgt die Wissensproduktion nun top-down im direkten Regierungsauftrag.

Auch das InEK spielt eine zentrale Rolle bei der technischen Umsetzung des KHVVG: Es wurde mit der Entwicklung des Leistungsgruppen-Groupers beauftragt, also eines Instruments zur systematischen Zuweisung stationärer Leistungen zu vordefinierten Leistungsgruppen. Außerdem ermittelt das InEK auf Bundeslandebene die Vorhaltevergütung für diese Gruppen.

2. Strategische Überforderung der Selbstverwaltung – kalkuliertes Governance-Versagen. Neben der institutionellen Umcodierung ist ein weiteres zentrales Governance-Muster erkennbar: das der strategischen Überforderung der Selbstverwaltung mit dem Ziel, exekutive Eingriffe nachträglich zu legitimieren. Dieses ‚gesteuerte Versagen‘ ist kein unbeabsichtigter Nebeneffekt, sondern Teil einer politisch kalkulierten Steuerungsstrategie.

Bei der Einführung der Hybrid-DRG etwa wurde der Selbstverwaltung eine extrem kurze Frist gesetzt, um sektorenübergreifende Vergütungsregelungen zu erarbeiten. Das erwartbare Scheitern führte dazu, dass das BMG die Regelung selbst per Rechtsverordnung durchsetzen konnte. Die Selbstverwaltung wurde hier nicht abgelöst – sie wurde formal beteiligt, aber inhaltlich entmachtet.

Noch deutlicher zeigt sich das Muster im Entwurf zum Notfallgesetz: Die dort vorgesehenen erweiterten Landesausschüsse (eLAs) – deren Hauptfunktion bislang in der administrativen Bearbeitung von Anzeigeverfahren für ASV-Teams liegt – sollten plötzlich die Standortplanung für Integrierte Notfallzentren (INZ) übernehmen. Für diese komplexe, strukturpolitisch sensible Aufgabe sind die eLAs nicht vorgesehen und nicht ausgestattet. Die gesetzlich vorgesehene Frist lief zudem auf eine Übertragung der Entscheidungskompetenz an die Länder hinaus, falls die eLAs ‚nicht liefern‘. Auch hier wurde ein Planungsauftrag delegiert, dessen Umsetzung unter den gegebenen Bedingungen praktisch ausgeschlossen war – mit dem politischen Ziel, die anschließende Exekutiventscheidung als ‚alternativlos‘ darzustellen.

Beide Mechanismen – die funktionale Vereinnahmung institutsgebundener Expertise sowie die gezielte Überforderung der Selbstverwaltung – gehören zum aktuellen Instrumentarium exekutiver Gesundheitsgovernance. Sie vollziehen sich nicht durch offenen Machtentzug, sondern durch prozessuale Umlenkung, neue Beauftragungswege und asymmetrische Rollenzuschreibungen. Damit verschiebt sich Governance im Gesundheitswesen tiefgreifend: von der abgestuften, kooperativen Entscheidungsfindung hin zu einer situationsgetriebenen, ministeriell dominierten Steuerungspraxis – technokratisch effizient, aber demokratisch entkoppelt.“

11. „Korporatistische Systeme sind nur bedingt innovationsfähig, die alten Stakeholder wollen unter sich bleiben, sich nicht ändern und den Kuchen allein essen. Die Einbindung (digitaler, prozessualer, struktureller oder effizienzfördernder) Innovationen oder auch nur junger respektive neuer Player ist – wenn es überhaupt funktioniert – eine schwere Geburt. Das war in den letzten Jahren vielfach zu beobachten. Unser System funktioniert grundsätzlich (auch wenn der Problemdruck steigt), aber es ist nicht in der Lage, sich aus sich selbst heraus nennenswert zu optimieren.

Hier setzt der staatliche Auftrag an: Raum für Innovationen, Weiterentwicklung und neue Akteure zu schaffen, um damit perspektivisch die Leistungsfähigkeit und Effizienz des Systems zu erhalten. Um das zu erreichen, ist sicher auch exekutiver Dirigismus notwendig. In der Zeit von Jens Spahn ist das mit Blick auf die Digitalisierung und in der von Karl Lauterbach mit Blick auf die Krankenhausstrukturen (ob’s erfolgreich ist, wird man noch sehen) passiert.

Beide haben sich jedoch auch im Kleinklein verzettelt und damit die eigene übergeordnete Funktion geschwächt. Außerdem haben beide die für strukturelle und prozessuale Innovationen eigentlich vorgesehenen Instrumente – die wichtigsten davon wohl Innovationsfonds und Selektivverträge – als zahnlose Tiger ‚mitlaufen‘ lassen.“

 

C. Agierte Karl Lauterbach nach einer Governance?

1. Große Zweifel gibt es übereinstimmend bei einigen Autoren daran, ob Karl Lauterbach als quasi Governance-fähig anzusehen ist. Zum Beispiel: „In der 20. Legislaturperiode sehe ich keine nachvollziehbare Governance. Governance steht für eine strategische Ausrichtung eines Steuerungs- und Regelungssystems. Ein Gesundheitsminister, der sich der Evidenz verschreibt, aber letztendlich in der Realpolitik PR-gesteuert und willkürlich unterwegs ist, dabei viele taktische und persönliche Fehler macht, ohne sie jemals einzugestehen, praktiziert keine Governance, die einem strategischen Hintergrund erkennen lässt.“

2. „Ich bin mir sicher, dass in dem zitierten Passus (siehe C1) schon grundsätzlich ein deutlich zu eng gefasstes Verständnis von Governance hinterlegt ist, wenn Governance als notwendigerweise bewusst herbeigeführte strategische Ausrichtung politisch verantwortlich Handelnder aufgefasst wird. Governance als Kategorie systemischen Handelns lässt sich objektiv fassen. Gerade der exDi ‚zeichnet‘ sich ja dadurch wesentlich ‚aus‘, dass er keinem irgendwie rational hinterlegten Entschluss politischer Entscheidungsträger folgt, konkret keine programmatisch unterfütterte Abkehr von der bisheriger Steuerungslogik gemäß korporatistischem Narrativ proklamiert, sondern im Gegenteil sich als allgemeines Steuerungsphänomen zwar historisch im Gesundheitssystem schon längere Zeit subkutan zeigt, aber erst in der Spahn- und Lauterbach-Ära zunehmend als Handlungsmuster verselbständigt und einen grundständig originären Drive aufgenommen hat. Der exDi ist, da abseits von allenfalls ein paar inhaltsleeren Schlagworten ein ordnungs- und steuerungspolitischer Kompass fehlt, die ‚paternalistische Antwort‘ auf die überbordende Komplexität des Systems, das sich mit den Instrumenten der Vergangenheit nicht mehr (adäquat) steuern lässt.“

3. Ein anderer Autor dazu in kurzen Stichworten: „völlig konfuse Regierung, Stückwerk, Chaos, keine bewusste Governance.“ Und: „Was auf die Agenda kommt und was letztlich umgesetzt wird, wird nicht von Dringlichkeit oder Problemen bestimmt, sondern von situativen Konstellationen.“ 

4. „Wie schon Spahn verfolgt auch Lauterbach in der Gesundheitspolitik industriepolitische Ziele. Viele seiner Vorhaben, vom Gesundheitsdatennutzungsgesetz über das Herzgesetz bis zur ePA sollen die Pharmaindustrie in Deutschland stärken. ‚Evidenz‘ wird hier wirtschaftlich, nicht medizinisch ausbuchstabiert. Bei manchen Vorhaben, wie dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz, hat Lauterbach die Unterstützung der Industrie sogar explizit als Ziel genannt.

Solche industriepolitischen Ziele erfordern eine Zentralisierung von Entscheidungen im BMG – die Selbstverwaltung aus Kassen und Ärzteschaft ist hier kein Zugpferd, sie haben andere Interessen, die Patientenvertreter ohnehin.

Auch manche Zielsetzung der ‚Entbürokratisierung‘ sind aus dem BMG direkt eher umzusetzen als über die Selbstverwaltung. Allerdings wiederum mit der Gefahr, dass im Interesse der Industrie ‚nebenbei‘ auch ‚Bürokratie‘ beseitigt wird, die medizinisch sinnvoll ist, z.B. wenn die Patientensicherheit durch schnellere und einfachere Zulassungsverfahren bei Arzneimitteln abgesenkt wird oder Datenschutz bei Gesundheitsdaten in Gefahr ist. Spahn hat Wagemut beim Datenschutz mit dem Spruch ‚Datenschutz ist etwas für Gesunde‘ hinter den Patienteninteressen versteckt, Lauterbach folgt in der Sache dieser Linie.“ 

5. „1. Lauterbach ist Fachmann. Er ist nicht nur promovierter Mediziner und Epidemiologe, sondern verfügt auch über eine starke wissenschaftliche Reputation. Diese Kombination hat es ihm erlaubt, während der COVID-19-Pandemie, sowohl als Experte als auch als Abgeordneter und später Minister aufzutreten – eine Doppelfunktion, die so bisher kaum ein deutscher Gesundheitsminister innehatte.

2. Seine mediale Sichtbarkeit und seine Positionierung als ‚Gesundheitsaufklärer der Nation‘ sind in diesem Ausmaß ein Novum. Die gezielte Nutzung von Talkshows, sozialen Medien und Interviews zur Steuerung öffentlicher Meinungsbildung ist ein Teil seines Politikstils. Seinen kauzigen Ruf, den er sich durch Aussehen, den per se schon freundlich und lustig klingenden rheinischen Dialekt und das frühere Markenzeichen ‚Fliege‘ erworben hat, hat er bewusst gepflegt und vertieft – bis hin zu regelmäßigen Auftritten in der ´heute Show`. Damit hat er nicht nur die politischen Bühnen bespielt, sondern auch die Öffentlichkeit auf allen Bildungsstufen und unabhängig von deren TV- und Medien-Präferenzen.

3. Durch diese beiden Alleinstellungsmerkmale hat Lauterbach den politischen Diskurs stärker personalisiert als seine Vorgänger.“

6. „Das Regierungshandeln von Karl Lauterbach war sehr von seiner eigenen ideologischen Sicht auf unser Gesundheitswesen getrieben. Absoluter Macht- und Durchsetzungswille wird mit vermeintlicher wissenschaftlicher Evidenz gerechtfertigt und wirkte doch an vielen Stellen fragwürdig. Die wissenschaftliche Erkenntnis sollte die fehlende Diskussionsbereitschaft kaschieren und das Ergebnis der Reformen rechtfertigen. Während die Einsetzung einer Regierungskommission für Krankenhäuser eine durchaus kluge Idee gewesen ist, hat Minister Lauterbach danach alle Energie darauf verwendet, die Ergebnisse des zentralistischen und planwirtschaftlichen Handelns zu verteidigen, statt sich einer kritischen Diskussion zu stellen und am Ende vielleicht sogar bessere Ergebnisse erzielen zu können. Schade für die vergebene Chance.“

 

D. Evidenzbasierung der Governance als Ausweg?

1. Viele Autoren nehmen auch explizit zum Impuls von Nils Bandelow und Johanna Hornung Stellung („Anders als in der Medizin hat sich das Konzept der Evidenzbasierung bei der Entscheidung über Governance-Strukturen also noch nicht durchgesetzt“), zum Beispiel hier sehr pointiert: „So etwas freut Wissenschaftler, nicht die praktische Politik. Welche Governance in welchem Politikfeld richtig gewesen wäre, weiß man hinterher. Wir brauchen innovative Politikansätze, das sind definitionsgemäß keine evidenzbasierten.“ 

2. Man kann es aber auch etwas anders sehen: „Das Kernproblem liegt aber nicht zwingend in der Verlagerung von Kompetenzen per se, sondern vielmehr in der fehlenden strategischen und evidenzbasierten Steuerung dieses Prozesses – weder für die Krankenhausreform noch für die digitale Transformation oder die Finanzreformen im Gesundheitswesen gibt es eine umfassende wissenschaftlich fundierte Evaluation, die die Wirksamkeit und Effizienz dieser Maßnahmen nachweist. Stattdessen dominieren Narrative, politische Rhetorik und kurzfristiger gesetzgeberischer Aktionismus, ohne dass eine nachhaltige Governance-Struktur etabliert wird, die langfristige Verbesserungen für das Gesundheitssystem garantiert.“ 

3. „Mir scheint es ohne Zweifel richtig und hoch-defizitär, dass die Folgen von Entscheidungen (inhaltlich und meinetwegen auch bzgl. Governance) bewertet und daraus Konsequenzen gezogen werden (auch im G-BA; Stichwort Hautkrebs-Screening); aber würde ich das schon evidenz-basiert nennen? Und ‚Erfahrungen aus anderen Ländern‘ ist immer flott gesagt, aber kein anderes Land hat die ausgeprägt korporatistischen Strukturen, und was man aus dem zentralistisch regierten Frankreich für den Föderalstaat lernen soll, ist mir ziemlich unklar.

Sicher wäre es interessant zu erfahren, was denn bzgl. Governance ‚evidenz-basiert‘ ist oder besser, in welchen Aspekten sich derzeitige Governance von einer ‚Evidenz-informierten‘ unterscheidet. Aber ich bin nicht sicher, dass das unser Problem ist. (…)

Die Frage ist doch: Sind die Gesetze deshalb schlecht, weil Karl Lauterbach diese Form von Governance betreibt, oder sind sie nicht vor allem deshalb schlecht, weil sie absehbar die Probleme nicht lösen. Das eine mag gewisse Verbindungen zum anderen haben, aber identisch sind diese beiden Dinge jedenfalls nicht – und daher löst ‚Evidenz-informierte Governance‘ auch nicht viel. Die Probleme sind vollkommen fehlende Programmatik, fehlendes politisches Interesse und Hilf- und Mutlosigkeit sowie extrem verkrustete Strukturen und zu viele Machtzentren.“ 

4. „Die von Bandelow vorgeschlagene ‚evidenzbasierte‘ Auswertung von gesetzlichen Regelungen gibt es geradezu inflationär: Entweder das Ministerium macht die ‚Evaluation‘ selbst (mit ‚Berichtspflicht an den Bundestag‘ – was ein Quatsch!). Und dann wundert man sich nicht mehr, was dabei herauskommt. Oder es vergibt einen Auftrag und erklärt den Auftragnehmern, was sie zu schreiben haben, bzw. mindestens, was sie keinesfalls schreiben dürfen, welche Annahmen sie bei Prognosen zu Grunde zu legen haben etc.“ 

5. Die Kritik der Autoren (D1 und D4) an dem alten Argument von Johanna und mir trifft das Argument selbst ja nur zum Teil. Wir wollten ja weniger Policies als Governance evaluieren lassen. Vor allem wollten wir, dass man sich überhaupt systematisch damit befasst, idealerweise ziemlich genau so, wie es jetzt in dieser Analyse gemacht wird.

Ob jetzt die umfassende Evaluationspflicht im Kontext von RIA (Regulatory Impact Assessment) oder ähnlichem super oder furchtbar ist, darüber kann man in der Tat gut streiten. Ich tendiere bei diesen Debatten sogar eher in die Richtung des Autors (D4) und würde vermuten, dass eine kritische Prüfung der Governance auch genau das ergeben würde: RIA ist in der Praxis oft wenig effizient und führt zu überbordender Bürokratie. Ich bin auch sonst nicht für Mikrosteuerung.“

6. „Ich teile die Skepsis einiger Kommentatoren gegenüber einer ‚evidenzbasierten oder evidenz-infomierten Governance‘. Die Annahme, dass Wissenschaftler per se ganz frei, unabhängig und unvoreingenommen sich nur für die gesellschaftliche Wohlfahrt einsetzen würden und keiner eigenen Blase und ihren Voreingenommenheiten unterliegen, sollte doch wohl eher aufgegeben werden … oder so, wie ein Autor erwähnt hat: ‚So etwas freut Wissenschaftler, nicht die praktische Politik. Welche Governance in welchem Politikfeld richtig gewesen wäre, weiß man hinterher. Wir brauchen innovative Politikansätze, das sind definitionsgemäß keine evidenzbasierten.‘ „

7. „Mit dem Begriff ‚evidenzbasierte Governance‘ ist das so eine Sache. In den 1970er Jahren verband sich in manchen Köpfen mit der Sozialindikatorenbewegung die Vorstellung, dass man Sozial- und Gesundheitspolitik über Daten steuern und so die politische Debatte versachlichen könne. In manchen Einleitungstexten zur Gesundheitsberichterstattung klingt diese Utopie – oder ist es eine Dystopie – immer noch durch. Gesundheitspolitik ist aber in einem hohen Maße abhängig von Kontextfaktoren und auch von normativen Setzungen, die eine Reduktion auf Evidenz‘ unmöglich machen. Der vorsichtigere Begriff ‚evidenzinformierte Governance‘ trägt dem Rechnung. Ganz parallel verläuft übrigens die Diskussion um ‚evidenzbasierte Public Health‘, auch da ist man zurückhaltender geworden, was die Hoffnung auf Steuerung durch Daten angeht.

An Karl Lauterbach ist diese Entwicklung weitgehend vorbeigegangen. Das hat auch mit seiner Persönlichkeit zu tun. Er gibt sich gern als ‚Wissenschaftler‘, dessen Entscheidungen sich an Studien orientieren. Der österreichische Soziologe Alexander Bogner hat vor dieser ‚Epistemisierung des Politischen‘ gewarnt – sie versteckt politische Interessen hinter scheinbar alternativloser Wissenschaftlichkeit. Bei Karl Lauterbach kommt noch dazu, dass er paradoxerweise in vielen Fällen auch relevante wissenschaftliche Befunde ignoriert, manche bezeichnen ihn als regelrecht beratungsresistent. Das war z.B. beim Gesundes-Herz-Gesetz so und ebenso auch beim Gesetz zur Stärkung der öffentlichen Gesundheit. Beide sind dem Ampel-Ende zum Opfer gefallen, nicht unbedingt zum Nachteil der Gesundheit der Bevölkerung.

Bei grundlegenden Strukturentscheidungen hat Evidenz zudem erst dann eine Chance, wenn die politischen Interessen ausbalanciert sind. So gibt es beispielsweise keine medizinischen oder gesundheitsökonomischen Argumente für die Aufrechterhaltung des dualen Versicherungssystems in Deutschland. Vergleichbares gibt es sonst nirgendwo in Europa. Aber ‚Evidenz‘ wird hier durch privatwirtschaftliche Interessen ausgehebelt, man kann von ‚Ideologiekosten‘ im System sprechen. Karl Lauterbach, der sich bei öffentlichen Auftritten immer wieder für die Bürgerversicherung ausgesprochen hat, hat sie da, wo er politisch konkret darauf hätte hinarbeiten müssen, in der Schublade abgelegt.

Auch hier gibt es ‚kleine Geschwister‘: Lauterbach hatte ursprünglich im GVSG die Homöopathie als Kassenleistung abschaffen wollen, weil es keine Evidenz dafür gibt. Auf Vorbehalte des Koalitionspartners hin hat er das Vorhaben, Evidenz hin oder her, umstandslos wieder aufgegeben.

Ein gängiges Instrument, um Evidenz verfügbar zu machen, ebenso wie sie zu simulieren, sind Expertenräte. Es gibt sie zu allen möglichen Themen, und manchmal liefern sie fachlich sehr gut unterlegten Rat, etwa was die STIKO angeht, manchmal immerhin so etwas wie einen ‚educates guess‘, und oft genug leider auch nur Legitimationspapiere für das, was man in der Politik ohnehin tun wollte oder sie dienen als Ersatzhandlung dafür, dass man nichts tun will.

Wie bei der Evidenz ist auch der Expertenrat umso wirksamer, je ausbalancierter die Interessen der relevanten Akteure sind und je größer der Handlungsdruck, unter dem sie stehen. Die Public Health-Stellungnahme der Leopoldina 2015 beispielsweise wurde vom BMG schlicht ausgesessen, zumindest bis zur Coronakrise.“

8. „Strukturen und Institutionen zur Generierung von Evidenz gibt es folglich zur Genüge. Zudem werden massenhaft Gutachten an externe Berater vergeben. Warum aber fühlt es sich – rein subjektiv betrachtet – oft nicht nach evidenzbasierter Politik an? Die Gründe dieses ‚Bridging-the-gap‘-Problems werden seit Jahrzehnten untersucht und sind nicht Deutschland- oder Lauterbach-spezifisch. Ein wichtiger Grund ist sicherlich der politische Wille. Ein anderer ist aber, dass die Methodik vieler Evaluationen schlicht nicht darauf ausgelegt ist, klare Schlüsse zu ermöglichen. Es bleibt Interpretationsspielraum – und der wird genutzt. Nicht selten führen unterschiedliche Auftraggeber zu unterschiedlichen Ergebnissen, obwohl die gleiche Fragestellung untersucht wird. Die für Public Health geforderte Methodenpluralität ist dabei als Ausrede untauglich, denn Sinn wissenschaftlicher Studien ist es ja gerade, reproduzierbare Erkenntnisse zu gewinnen.“

9. „ ‚Oh je‘, mag ein Kritiker sagen, ‚Jetzt sollen wohl auch noch für politische Entscheidungen randomisierte kontrollierte Studien zugrunde gelegt werden?‘ Ja, nach Möglichkeit schon. Die US-amerikanische Regierung stellte schon 2002 im Education Sciences Reform Act fest, dass ‚making claims of causal relationships‘ nur möglich ist ‚in random assignment experiments or other designs (to the extent such designs substantially eliminate plausible competing explanations for the obtained results)‘. Und das im Bildungswesen, also fernab von Arzneimittelstudien, die in Reihe seit Jahrzehnten in Massen durchgeführt werden (sic!). Das Gesetz ist im Übrigen nach wie vor in Kraft. Und auch an der Yale University, Institution for Social and Policy Studies, werden gezielt randomisierte Studien in den Sozial- und Politikwissenschaften unterstützt. Dies nur zwei Beispiele. Alternative Studiendesigns werden zwar diskutiert, haben aber Einschränkungen.

Grundsätzlich ist zudem eine Ex-ante-Evaluation zu fordern. Diese findet mit wenigen Ausnahmen wie den Innovationsfondsprojekten jedoch in der Regel nicht statt. Im besten Fall plant der Gesetzgeber eine Post-hoc-Evaluierung – wie jüngst bei den Leitplanken für die Arzneimittelpreisbildung. Dies ist maximal ineffizient. Der Prozess von der Gesetzesidee hin zur Implementierung des Gesetzes bindet mehr Ressourcen und Kapazitäten in und außerhalb der Ministerien als eine umfassende Ex-ante-Evaluation auf der Grundlage von systematischen Literaturrecherchen zu hochrangiger Evidenz, Pilotprojekten oder ggf. auch Modellierungen. Und wie auch auf EU-Ebene würde dann vielleicht jedes vierte bis dritte Gesetzesvorhaben nicht weiterverfolgt werden (müssen).“ 

10. „‚Anders als in der Medizin hat sich das Konzept der Evidenzbasierung bei der Entscheidung über Governance-Strukturen also noch nicht durchgesetzt.‘

Das ist logisch, denn in der Medizin geht es vielfach um kleinteilige, patientenindividuelle Entscheidungen, die Ärzte in großer Zahl täglich und wiederholt treffen müssen und zu denen es in der Regel auch von Experten erstellte und zunehmend bessere Leitlinien gibt – die im Übrigen aus haftungsrechtlichen Gründen grundsätzlich auch zu berücksichtigen sind. Eine S3-Leitlinie zu Governance im deutschen Gesundheitswesen? Da bin ich gern dabei.“ 

11. „‚Ständige Evaluation zu den Auswirkungen etwa einer Veränderung des Verhältnisses zwischen G-BA und BMG ist ebenso unverzichtbar wie die systematische Auswertung von Erfahrungen anderer Länder.‘ Die Forderung nach ‚ständiger Evaluation‘ – etwa im Hinblick auf das Verhältnis zwischen G-BA und BMG – klingt zunächst plausibel. Doch wozu eigentlich? Doch nur mit dem Ziel, im Fall der Fälle rechtzeitig eingreifen zu können: wenn Strukturen zu kippen drohen, wenn eingespielte Machtverhältnisse ins Wanken geraten oder schlicht, wenn politischer Interventionsbedarf gesehen – und auch durchsetzbar – ist.

Und dass man von anderen Ländern lernen kann, ist nun wirklich keine bahnbrechende Erkenntnis. Es vergeht kaum ein Semester, in dem nicht irgendwo eine Masterarbeit oder Dissertation zu einem internationalen Vergleich fertiggestellt wird. Auf politischer Ebene gibt es Fachgruppen, Austauschformate, Delegationsreisen, Workshops.

Governance ist jedoch nicht nur Struktur, sondern vor allem Beziehung. Die entscheidenden Dynamiken spielen sich auf der persönlichen Ebene ab – insbesondere in den Führungsetagen, in begrenztem Maße auch im operativen Bereich. Und diese Beziehungen folgen eigenen Regeln. Manche davon sind kaum sichtbar, viele sind nicht steuerbar – und einige gelten als nahezu unantastbar.“

12. „Der Auftrag, Innovationen und Selbsterneuerung voranzutreiben, passt nicht zur Forderung nach Evidenzbasierung. Wesen von Innovationen und Selbsterneuerung ist Trial-and-Error. Mit Evidenz erreicht man (vielleicht) Feinkorrekturen in gegebenen Strukturen. In korporatistischen Systemen kann Evidenz zum Mittel der Verhinderung mutieren. Nach meiner Wahrnehmung hatten Selektivverträge mehr Potenzial zur Erneuerung von Versorgung als der Innofonds. Mit der Monstranz ‚Evidenz‘ im Innofonds wurde das potentere Instrument zur Selbsterneuerung geschwächt. Jetzt generieren einige Innofondsprojekte sogar tatsächlich Evidenz (jedenfalls im Studiensetting) – und auch das bleibt dann ohne Folgen. Unter dem Strich hat der Innofonds die Selbsterneuerung eher behindert als befördert.“

13. „Wo braucht es mehr Selbstverwaltung, wo braucht es mehr Evidenz? Vielleicht könnte man zeigen, dass die Engführung der Entscheidungsfindung ins BMG (zuletzt fast nur zu einer Person) dazu geführt hat, dass jede Systematik verloren gegangen ist. Was auf die Agenda kommt und was letztlich umgesetzt wird, wird nicht von Dringlichkeit oder Problemen bestimmt, sondern von situativen Konstellationen. Das ist dann auch für die Implementation schwierig.“

 

E. Perspektiven / Vorschläge

 Entsprechend differenziert sind die Vorschläge / Perspektiven unserer Autoren: 

1. „Die zunehmend staatliche Regelung des Gesundheitswesens ist alternativlos. Das darf nur (noch) nicht offen ausgesprochen werden. Die Reste der ‚alten‘ Selbstverwaltung taugen oft nur noch als Sündenbock. Eine Stärkung der Selbstverwaltung wird es politisch nicht geben, schon gar nicht die geforderte Privilegierung im Grundgesetz.“

2. „Das Grundgesetz verhindert eine Abkehr des im Gesundheitssystem innewohnenden Dualismus: Die Rahmenbedingungen werden durch die Politik gesetzt, die Umsetzung erfolgt durch die etablierten Selbstverwaltungsstrukturen. Daran wird sich in Zukunft auch nichts ändern, auch wenn der Gestaltungsdruck aufgrund des existierenden Transformationsprozesses (Digitalisierung / demographische Wandel) tendenziell noch weiter zunehmen wird.

Die das deutsche Gesundheitssystem prägende Regulierungsspirale hat leider Methode, denn diese Vorgehensweise sichert das staatliche Machtgefüge innerhalb des demokratisch legitimierten Ordnungsrahmens. Als aktuelles Beispiel lässt sich die aktuell beschlossene Krankenhausreform (KHVVG) anführen, die eine noch nie dagewesene Überbürokratisierung aufweist und sich nur durch ministerielle Unterstützung auf die Schiene setzen lässt.“

3. „Man könnte gegebenenfalls noch darüber nachdenken, ob die dritte Governance-Form (Wettbewerb) noch stärkere Erwähnung finden könnte. Modern wäre es auch, über Partizipation als Governance-Form nachzudenken und vielleicht Mehrebenen-Aspekte einzubeziehen.“

4. „Viel zu kurz kommt für mich der Lösungsansatz Wettbewerb. Der einst angestoßene Wettbewerb der Selektivverträge wurde schnell wieder massiv eingehegt, die Möglichkeiten zu Unterschiedlichkeit in der Versorgung wurde systematisch unterbunden (vor allem durch die Aufsicht). Dem System wurde jegliche Dynamik durch Unterscheidung und Wettbewerb entzogen. Wettbewerb wäre gerade in der Digitalisierung ein Treiber – hier geht der Zentralismus dann aber weiter und definiert bis ins kleinste Details, wie die Digitalisierung umzusetzen ist. Hier werden vorhandene Verwaltungswege elektrifiziert, keine neuen Wege ermöglicht.

Grundlegend scheint das Problem, dass politisch geglaubt wird, wir könnten im Gesundheitswesen gleiche Lebensverhältnisse herstellen / voraussetzen. Dem ist aber nicht so, und vielleicht ist es auch gut so, dass sich das Leben in Stadt und Land, in Nord, Süd, West und Ost unterscheidet. Wieso also nicht regionale Lösungen zulassen, die sich massiv unterscheiden, wenn die Teilnehmenden sich aktiv dafür entscheiden können – diese wären vor allem vom Kontakt zu regionalen Versorgern geprägt. Warum nicht alternative bundesweite Lösungen zulassen, die vor allem digitale Wege anbieten, zu anderen Bedingungen, weil die gleichen Bedingungen auch einfach nicht logisch sind?

Ein Weg dahin könnten größere Öffnungsklauseln sein, die Experimentierräume für Kassen, Verträge, Netze und digitale Angebote schaffen, nicht für alle, sondern für die, die einwilligen. Und wir dürfen davon ausgehen, dass die Menschen klug genug sind, solche Entscheidungen zu treffen. Der hier beschriebene Zentralismus war immer auch paternalistisch geprägt – es ist Zeit, den Menschen wieder etwas zuzutrauen.“ 

5. Mehr über Ziele steuern, weniger über Maßnahmen. Kleinteilige Regelungen der Selbstverwaltung überlassen, Politik soll lediglich den Rahmen vorgeben. (zusammengefasst aus einem Telefonat mit einem Autor)

6. Nötig sei die interne Einigkeit maßgeblicher Akteure, wo es hingehen soll. (zusammengefasst aus einem Telefonat mit einem Autor)

7. „Eigentlich bräuchte man eine neue Föderalismus-Reform (u.a. i.S. stationäre Versorgung, Berufe im Gesundheitswesen, Aufsicht über die Krankenkassen, Vereinheitlichung des Datenschutzes (inhaltlich und nach den Zuständigkeiten), Qualitätssicherung etc. etc.). Aber wer hat die Kraft dafür?“  

8. Vielleicht sollte man eher eine Parallelwelt entwickeln, weil es im bestehenden System sowieso nicht weitergehe, keine Strukturreform möglich sei: dafür den noch ungeregelten Bereich Public Health entwickeln, mit Klärung der Finanzierung, quasi dem GKV-System auf eine neue politische Ebene entfliehen. (zusammengefasst aus einem Telefonat mit einem Autor)

9. „Grundsätzlich wäre nach meinem Dafürhalten natürlich schon viel gewonnen, wenn die politisch Handelnden wie die fachwissenschaftlich-politisch Agierenden überhaupt (wieder) einen Diskurs über die Governance und damit Steuerungsfragen in unserem Gesundheitswesen, mithin die Frage nach dem angemessenen Ordnungsrahmen, eröffnen und adressieren würden! Der ist aber nötig, wollte man aus der erratischen Gesundheits- und Pflegepolitik der letzten Jahre rauskommen. (…) Von einem entsprechenden Diskurs kann weder bei Spahn noch bei Lauterbach auch nur ansatzweise die Rede sein.“ 

10. „So skeptisch ich neue Kommissionen und Expertenrunden auch sehe: Vielleicht ist die Idee einer neuen Enquete-Kommission hier doch ein Ansatzpunkt zur Beschäftigung mit diesen Fragen. Das wäre sicher viel wichtiger als die 150 kleinteiligen Spiegelstriche, die sie sich wohl wieder in der K-Vertrag reinschreiben werden.“ 

11. „Man müsste nach neuen Formen der Einbeziehung / Beteiligung der direkt Betroffenen suchen (auch für die Kommunen), allerdings auch mit ökonomischer Mitverantwortung. So war z.B. die Teilung der KVen in hausärztliche und fachärztliche Zuständigkeiten ein logischer Schritt. Aber da muss noch mehr geschehen: Man dürfte z.B. den HVM nicht mehr den KVen überlassen: Für manche Facharztgruppen ist er sehr unfair etc. Die DKG vertritt nicht (und kann das auch nicht) alle Krankenhäuser und so weiter.“

12. „1. Ein unabhängiges Institut für Gesundheitssystem-Governance könnte eingerichtet werden, das gesundheitspolitische Reformen ex-post evaluiert sowie internationale Vergleichsstudien durchführt. Die Trägerschaft könnte bei einer unabhängigen Stiftung, einem gesetzlich beauftragten Gremium oder einer öffentlich-rechtlichen Institution liegen. Konkret könnte die Institution regelmäßige Berichte zur Effektivität von Reformen veröffentlichen, nationale und internationale Best-Practice-Modelle analysieren und öffentliche Anhörungen durchführen, um eine transparente und evidenzbasierte Entscheidungsgrundlage für gesundheitspolitische Maßnahmen zu schaffen. Eine gesetzliche Verankerung dieser Struktur könnte gewährleisten, dass langfristige Steuerungsstrategien auf wissenschaftlicher Evidenz beruhen und nicht von kurzfristigen politischen Agenden abhängig sind.

2. Gesundheits- und pflegepolitische Strukturreformen sollten einer gesetzlichen Verpflichtung zur empirischen Untermauerung unterliegen. Während das ‚unabhängige Evaluationsgremium‘ vorrangig auf die wissenschaftliche Begleitung und Ex-post Evaluierung von Reformen fokussiert ist, müsste hierüber sichergestellt werden, dass bereits ex-ante eine wissenschaftliche Validierung der geplanten Maßnahmen erfolgt. Eine solche Verpflichtung könnte durch einen gesetzlich vorgeschriebenen ‚Evidenzvorbehalt‘ ergänzt werden, der Reformen ohne ausreichende wissenschaftliche Grundlage unterbindet. Eine unabhängige Prüfung durch wissenschaftliche Beiräte oder externe Institutionen wie das IQWiG könnte gewährleisten, dass politische Maßnahmen auf fundierten Erkenntnissen beruhen und nicht primär auf politischen Erwägungen basieren. Ergänzend könnten standardisierte Wirkungsanalysen eingeführt werden, um die langfristige Effizienz von Reformen in strukturierten Evaluationsberichten darzustellen.

3. Statt weitreichender Reformen direkt per Ministerverordnung umzusetzen, sollten Pilotprojekte in ausgewählten Regionen durchgeführt werden, insbesondere im Bereich Krankenhausstrukturreformen und digitale Gesundheitsanwendungen. Hierdurch ließen sich praxisnahe Erkenntnisse über die Wirksamkeit neuer Maßnahmen gewinnen.“ 

13. „Ich will jetzt nicht klassische Führungsmethoden aus Unternehmen einfach auf Politik übertragen, aber einiges davon könnte schon Material bieten. So z. B. die intensive Entwicklung von Problem- und Opportunitätsaufrissen, bevor man bereits in Aktionismus verfällt. Und aus dem Problem- / Optionenaufriss dann erst einmal die Entwicklung von Zielvorstellungen. Und hier dann die Übernahme eines eher anglosächsischen Politikstils, nämlich der öffentlichen Darstellung (und damit auch eigenen Bindung) des Ziels, das innerhalb einer bestimmten Zeitfrist erreicht werden soll, und der Zusicherung, dass die dafür gewonnene Mehrheit des Parlaments alles dafür tun wird (sprich entsprechende Anreize dafür geben, Hindernisse aus dem Weg räumen etc.), dieses Ziel auch zu erreichen … und die Einladung an die Akteure (ob berufsständische Vertretungen, Wirtschaftsunternehmen, Leistungserbringende), sich mit auf diesen Weg zu machen und dafür eigene Investitionen einzubringen, da diese dann auch zu besseren Erträgen führen werden. Das setzt allerdings natürlich voraus, dass ein Einverständnis über den Problemaufriss und die Lösungsstrategie in der Regierungskonstellation gegeben sein muss. Und das muss, wenn man den gegenwärtigen Arbeitsstand der Koalitionsvorbereitung ansieht, leider bezweifelt werden.

Aber die Hoffnung soll man nicht aufgeben, vielleicht kann diese Legislatur zumindest den Problemaufriss und ein Zielbild entwickeln, das dann in der nächsten auch umgesetzt wird.

Einzelne Aspekte eines solchen Zielbilds tauchen ja in den Kommentaren schon auf… ‚Man müsste nach neuen Formen der Einbeziehung/Beteiligung der direkt Betroffenen suchen (auch für die Kommunen), allerdings auch mit ökonomischer Mitverantwortung.‘ ‚Ergebnisverantwortung‘ …. Überhaupt scheint mir die Debatte ‚korporativ‘ vs. ‚exekutiv‘ ohnehin etwas verkürzt, beides unterliegt der Gefahr des Dirigismus auf nationaler Ebene und deshalb des fehlerhaften Mikromanagements. Viel stärker müssten Freiräume (unter ökonomischer Mitverantwortung) an diejenigen Ebenen gegeben werden, wo die Probleme sichtbar werden und vor Ort auch bewältigbar wären, wenn denen vor Ort auch die Datengrundlagen und die Freiräume dafür gegeben würden. Also Regionalisierung und Dezentralisierung, die allerdings zentral durch ein Monitoring der Veränderungen und Versorgungsentwicklungen begleitet würden.“ 

14. „Im Gegensatz zu anderen Autoren komme ich zu dem Ergebnis, dass der Versuch der zunehmend staatlichen Regulierung des Gesundheitswesens nicht weiterführen wird. Damit wird eine flächendeckende Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen nicht zu organisieren sein. Wir brauchen stattdessen definierte Handlungsfreiräume zumindest für Krankenhäuser, die nicht von der Bundesebene aus gesteuert werden können. Der Weg dahin ist allerdings durchaus kompliziert, weil Politik die bestehenden Regulierungsansätze zurücknehmen muss, was ebenfalls einen enormen politischen Kraftakt bedeuten dürfte. Für die Realisierung könnte eine Regierungskommission mit einem echten Auftrag einer evidenzbasierten Governance hilfreich sein.“

15. „Die Frage ist, auf welcher Basis und in welche Richtung staatliche Eingriffe zur Selbsterneuerung erfolgen sollen. Gerade in der letzten Legislaturperiode haben wir einen starken Bias hin zu Universitäten und Krankenhäusern erlebt. Dafür gibt es sicher gute Gründe. Das überwältigende Gros der Versorgung (auch fachärztlich) und damit auch des Erneuerungsbedarfs und -potenzials liegt jedoch in der vertragsärztlichen Versorgung; hier erlauben wir uns ohne wesentliche Diskussion ein System von Klein- und Kleinstunternehmen, das in vielerlei Hinsichten nicht gut funktioniert.

Die politische und / oder persönliche Einfärbung der Ausrichtungen der Exekutive / Legislative lässt sich in einem demokratischen System wohl nicht vermeiden. Eine prospektive wie retrospektive wissenschaftliche Begleitung – auch um den jeweiligen Problemdruck und das Innovationspotential abschätzen zu können – wäre jedoch sicher sinnvoll.“

 

 

F. Auswertung der Autorenumfrage

Eine vollständige Auswertung dieses Kompendiums zur Governance des deutschen Gesundheitswesens ist an dieser Stelle nicht realisierbar. Die Vielzahl der differenzierten und fachlich fundierten Beiträge überschreitet den Umfang einer bloßen Zusammenfassung – vielmehr wäre hierzu eine oder mit hoher Wahrscheinlichkeit mehrere eigenständige, vertiefte Analysen erforderlich.

Die dokumentierten Textbausteine der Autoren-Experten sollen in dieser Publikation im Mittelpunkt stehen und für sich selbst sprechen. Sie sind nicht nur von großer Bedeutung, sondern auch äußerst lesenswert. Hier können und sollen deshalb nur einige Aspekte angerissen werden:

In einem entscheidenden Punkt sind sich die Autoren einig: Nahezu alle äußern Unzufriedenheit mit der aktuellen Governance im Gesundheitswesen. Zahlreiche Autoren bezeichnen die aktuelle Situation als dysfunktional, konzeptionslos oder schlicht überfordernd. Die etablierten Strukturen erscheinen vielen Experten als erschöpft und ungeeignet zur Lösung der drängenden Herausforderungen. Alle Autoren sehen Diskussions- und Handlungsbedarf, viele haben diese Umfrage ausdrücklich begrüßt. „Eine solche Bestandsaufnahme ist dringend erforderlich.“ Ein „Super-Thema“. Oder: „Das finde ich mal eine richtig gute, innovative Idee.“ Dieser Zuspruch zeigt nicht nur die Relevanz des Themas, sondern auch das Bedürfnis nach Reflexion.

Erstaunlich ist – trotz sehr unterschiedlicher Akzente und Detailtiefe – die vielfache Übereinstimmung der Autoren bzw. Experten bei den inhaltlichen Themen. Alle befragten Experten haben eine vergleichbare E-Mail-Anfrage von uns erhalten, wobei wir den Umfang und die Ausgestaltung der Rückmeldung offengelassen haben. Trotz der vielen Freiheiten konnten wir fünf grobe inhaltliche Schwerpunkte im Antwortverhalten ermitteln. Dies ist für die Verfasser dieser Analyse ein erstes Signal dafür, dass renommierte Experten auf dem Gebiet inhaltlich vergleichbare Herausforderungen in der Governance-Thematik sehen und dabei aber auch unterschiedliche Perspektiven aufzeigen.

Der zu Beginn des Beitrages gesetzten These einer sich verfestigenden Governance des exekutiven Dirigismus in den Regierungszeiten von Jens Spahn und Karl Lauterbach widerspricht keiner der Autoren. Es werden gute Argumente geliefert, sie zu modifizieren, und zwar in zweierlei Richtung: Einige Autoren sehen und begründen unwidersprochen die Geburtsstunde des exekutiven Dirigismus schon in der Ära Ulla Schmidt, u.a. mit der Zentralisierung der Krankenkassen, aber auch der Art ihrer Amtsführung. Der exekutive Dirigismus ruhte danach weitgehend unter den FDP-Gesundheitsministern Philipp Rösler und Daniel Bahr, wie auch unter CDU-Gesundheitsminister Hermann Gröhe, um sich anschließend mit dem agilen CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn wieder voll zu entfalten. Die andere kontrovers diskutierte Frage ist, ob Karl Lauterbach überhaupt eine Governance zuzuschreiben ist. Es läuft dabei gerade nicht auf ein bloßes Lauterbach-Bashing hinaus. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der eingebrachte Punkt eines zu beobachtenden, zielstrebig verfolgten „digitalen Kapitalismus“ bei Lauterbachs Governance.

Der Begriff der Governance selbst wird sehr unterschiedlich inhaltlich gefüllt, was auch die teilweise unterschiedlichen Positionierungen erklärt. Offensichtlich gibt es noch keine gefestigt-anerkannte Begrifflichkeit in diesem Themengebiet – das wäre eine Aufgabe der politischen Wissenschaft. Hier wird auch zu klären sein, wie der Begriff des exekutiven Dirigismus inhaltlich gefüllt werden kann. Das Element der Machtverschiebung in Richtung BMG dürfte Konsens sein, aber das zweite wesentliche Element (noch) nicht: Der exekutive Dirigismus fußt nicht auf einem programmatisch klar unterlegten Fundament veränderter Systemsteuerung. Er ist rein technokratisch gekennzeichnet durch gesetzgeberischen Hyperaktionismus und zunehmenden exekutiven Machtzuwachs.“ (Christopher Hermann)

Governance, und damit auch die Governance des exekutiven Dirigismus, ist dagegen für viele Autoren untrennbar mit Strategie verbunden. Vielleicht wird am Ende dieses Diskurses eine andere, modifizierte Definition des exekutiven Dirigismus stehen.

Übereinstimmend wird auch die Schwäche der korporatistischen Governance als Entstehungsgrund des exekutiven Dirigismus gesehen, verbunden mit dem Hinweis, dass der Selbstverwaltung auch Aufgaben übertragen wurden, die sie nicht lösen konnte, z.B. die Integration des stationären Sektors in den damaligen Bundesausschuss Ärzte / Krankenkassen. Sie sei gezielt überfordert worden. Die Kritik, die in den Zitaten zum Ausdruck kam, richtet sich weniger gegen die Ideen an sich, sondern gegen die mangelnde Umsetzungsfähigkeit und die Überforderung der Strukturen. Die Selbstverwaltung sei „gezielt überfordert worden“ – was implizit als Strategie zur Machtverlagerung verstanden werden kann. Die vorhandenen Schwächen seien somit eine Voraussetzung dafür gewesen, dass der exekutive Dirigismus überhaupt so viel Raum gewinnen konnte.

Aber auch die Darstellung des exekutiven Dirigismus als Möglichkeit zur Öffnung des Systems für (digitale) Innovationen unterstreicht die Transformation von vergangenen korporatistischen Governancestrukturen. Das Lösen von Problemen als Ziel zieht sich durch viele Beiträge; darauf komme es an. Sind die Gesetze schlecht, weil sie Ausdruck einer bestimmten Governance sind, oder sind sie nicht vor allem deshalb schlecht, weil sie absehbar die Probleme nicht lösen, fragt ein Autor.

Sehr heterogen wird der Themenblock „4. Evidenzbasierung der Governance als Ausweg?“ behandelt – mit vielen Aspekten und Argumenten, die einer eigenen Analyse zugeführt werden müssten. Kurz zusammengefasst, sehen einige darin eine Chance, die Rationalität und die Transparenz der Entscheidungsprozesse zu erhöhen und so die politische Willkür zu begrenzen. Andere halten diesen Ansatz für naiv oder zumindest für politisch schwer realisierbar. Es fehle, so ein Autor, nicht an der Evidenz, sondern an der Bereitschaft, diese auch tatsächlich zur Grundlage von Entscheidungen zu machen. Andere weisen auf die Unsicherheit von Evidenz in komplexen Systemen hin – insbesondere bei strukturellen oder institutionellen Fragen. Klar wird: Der Begriff „Evidenzbasierung“ ist keineswegs eindeutig und wird unterschiedlich gefüllt.

Fast alle Autoren sind unzufrieden mit dem exekutiven Dirigismus, wollen aber auch nicht die korporatistische Governance; sie suchen einen Ausweg jenseits dieser Dualität. Einige Autoren sehen den exekutiven Dirigismus als problematisch, da aktuell vorhandene Prozesse umgangen werden. So merkt ein Autor an, dass Ministerien tendenziell in Legislaturperioden denken und zu „ad hocery“ und kurzfristigen Lösungen neigen, während die Selbstverwaltung eine langfristigere Perspektive einnehmen könne und solle. Andere betrachten den exekutiven Dirigismus als notwendige Reaktion auf ein stagnierendes System. Ein Autor formuliert pointiert: „Die alten Stakeholder wollen unter sich bleiben, sich nicht ändern und den Kuchen allein essen.“ Der exekutive Dirigismus sei notwendig, um Innovation voranzutreiben. Über die Zitate hinweg entsteht ein ambivalentes Bild: Der exekutive Dirigismus wird als problematisch wahrgenommen, die korporatistische Governance erscheint jedoch ebenfalls als nicht zukunftsfähig. Manche halten aber gerade den Ausbruch aus dieser Dualität für unmöglich, viele wirken resigniert. Die geschilderten Probleme sind so vielseitig. Von Vertrauensverlust, Mutlosigkeit, verkrusteten Strukturen und zu vielen Machtzentren ist u.a. die Rede. Welche Governance vermag hierfür der passende Lösungsansatz zu sein? Befinden wir uns in einer Governance-Aporie?

Hat die Selbstverwaltung in der Zukunft noch einen Platz? Ausgewählte Autorenprognosen deuten auf eine (gewollte) immer mehr abschwächende Rolle der Selbstverwaltung hin. Einige sehen einen Ausweg darin, den Wettbewerb als dritte Governance-Form (wieder) zu stärken, mit Systemöffnungen in diese Richtung. Nötig seien definierte Handlungsspielräume. Aber auch die nachvollziehbare Forderung zur Eröffnung eines zunächst wieder grundlegenden Diskurses über die Governance und damit Steuerungsfragen im Gesundheitswesen steht im Raum, zu der wir hoffentlich mit diesem komprimierten Expertenwissen einen ersten Beitrag leisten können.

 

V. Ausblick

Bezogen auf das Thema dieser Analyse wäre es somit sinnvoll, diesen hier begonnenen Diskurs über den Kreis der Autoren des Observer Gesundheit hinaus zu führen, sowohl praktisch wie theoretisch-wissenschaftlich. Man sollte sich, wie ein Autor schreibt, systematischer mit diesem Thema beschäftigen.

Gern publizieren wir deshalb dazu weitere Beiträge auf unserer Plattform. Der Zeitpunkt dafür ist günstig, da es nicht einfach mit dem agilen und unbeirrbaren Karl Lauterbach weitergeht. [15]

Auch laufende Vorhaben laden zu weiterer Analyse ein. Gerade die vergangene Wahlperiode weist zwei Paradebeispiele für höchst unterschiedliche Governance auf. Den beiden Digitalgesetze (DigiG; GDNG) ging ein langer Dialogprozess unter Leitung der BMG-Fachabteilung voraus. Eingebunden waren nahezu alle Beteiligten, auch aus der sonst geschmähten Selbstverwaltung. Das Ergebnis waren zwei Gesetze, die große Zustimmung erfuhren, und in einer engagierten Beteiligung bei der Einführung der ePA mündeten. In Nordrhein-Westfalen erklärten sich beide KVen und die Krankenhausgesellschaft sogar selbst zu einer freiwilligen (!) ePA-Testregion. Dazu im Gegensatz steht die Krankenhausreform, die mit einer handverlesenen Expertenkommission beim BMG begann – ohne Beteiligung der Selbstverwaltung. Nach Widerstand aus den Ländern wurde schließlich eine Arbeitsgruppe aus Bund und Ländern eingerichtet. Das KHVVG passierte Bundestag und Bundesrat schließlich in einer absoluten Sondersituation; wegen des Ampel-Aus standen die Länder vor der Entscheidung: Zustimmung mit kurzfristigen finanziellen Verbesserungen oder lange Zeit gar nichts. Unterschiedlicher kann die Genese zweier Großprojekte kaum sein. Das und die anstehende Umsetzung der Reformen wird uns dauerhaft viel Stoff für Analysen bescheren. Auch dazu sind Sie herzlich eingeladen.

Ob und wie die neue Leitung des BMG die Machtverteilung im Gesundheitswesen neugestalten will, bleibt abzuwarten. Kompetenz und Gestaltungswillen für die geplanten Gesetzesvorhaben sind vielerorts vorhanden. Der Observer Gesundheit bleibt am Ball.

An dieser Stelle noch einmal einen herzlichen Dank an die Autoren – dieser besonderen Community –, die sich bei diesem komplexen Thema beteiligt haben.

 

[1] Vgl. zum hier verwendeten Begriff der Governance: Eckert F. (Februar 2025). Governance in den Wahlprogrammen. Warum der Erfolg der neuen Regierung von ihren Steuerungsansätzen abhängt. Observer Gesundheit. Abrufbar unter: https://observer-gesundheit.de/governance-in-den-wahlprogrammen/

Daraus: „Die Politikwissenschaft nutzt das Konzept der Governance als zentrales Analyse-Instrument, um politische Steuerung zu untersuchen. Anders als klassische Government-Ansätze, die sich hauptsächlich auf hierarchische Steuerung konzentrieren, erfasst die Governance-Perspektive das Zusammenspiel verschiedener Koordinationsformen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. Diese lassen sich in vier grundlegende Kategorien einteilen: (…)

Die besondere Stärke des Governance-Konzepts liegt in seinem mehrdimensionalen Blick auf politische Steuerungsprozesse. Dabei sind drei Dimensionen besonders relevant: 1. Die Strukturdimension betrachtet institutionelle Arrangements wie die Struktur der Akteure (Rhodes 1996). Kernfragen sind: Werden Entscheidungen zentral oder dezentral getroffen? Wie sind die Hierarchieebenen vertikal und horizontal gestaltet? Welche Akteure werden in Entscheidungsprozesse eingebunden, welche nicht? (…)“

[2] Niehaus IM, Lehr A, Kaiser A, Müller HS, Kuntz L (2024).German centralization strategy during COVID-19: Continuing or interrupting a trend?, Health Policy, Volume 150: 105177, https://doi.org/10.1016/j.healthpol.2024.105177.

[3] vgl. ausführlich die Studie Niehaus et al. 2024 [2].

[4] vgl. ausführlich zur corona-spezifischen Governance: Geschonneck F, Hofmann S, Lehr A, Rieser S (März 2021). Grenzerfahrung von Politik und Selbstverwaltung. Die Governance des Gesundheitswesens in der Corona-Krise. Observer Gesundheit. Abrufbar unter:  https://observer-gesundheit.de/grenzerfahrungen-von-politik-und-selbstverwaltung/

[5] Diese Regelungen sind dann von der Ampel im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz perfektioniert worden. Vgl. Hermann C (Juli 2023). Der lange Arm des exekutiven Dirigismus. Observer Gesundheit. Abrufbar unter: https://observer-gesundheit.de/der-lange-arm-des-exekutiven-dirigismus/

[6] Hermann C (Februar 2025). Von Kontinuität, Scheinwelten und exekutivem Crash. Zur gesundheits- und pflegepolitischen Bilanz der Ampel-Koalition. Oberserver Gesundheit. Abrufbar unter: https://observer-gesundheit.de/von-kontinuitaeten-scheinwelten-und-exekutivem-crash/

[7] Hermann C (September 2020). Narrativ im Kaffeesatz. Oder das GKV-System 2020 auf der Rutschbahn des exekutiven Dirigismus. Observer Gesundheit. Abrufbar unter: https://observer-gesundheit.de/narrativ-im-kaffeesatz-oder-das-gkv-system-2020-auf-der-rutschbahn-des-exekutiven-dirigismus/

[8] Hess R (2024). Die rechtliche Systematik der Gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen. Nomos. 1. Auflage. ISBN 978-3-7560-1897-0

[9] Robert Paquet (Dezember 2024). Governance im Gesundheitswesen zunehmend fragil. Buchbesprechung: Rainer Hess analysiert die funktionale Selbstverwaltung. Observer Gesundheit. Abrufbar unter: https://observer-gesundheit.de/governance-im-gesundheitswesen-zunehmend-fragil/

[10] Zitat aus Hess R (2024) [8]: „Selbstverwaltung wird im öffentlichen Recht definiert als die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben durch diejenigen Personen, die es inhaltlich angeht. Die Wahrnehmung der eigenen Angelegenheiten erfolgt dabei durch öffentlich-rechtliche Einrichtungen (i.d.R. KdöR oder Anstalten) oder mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben beliehene Organisationen und deren selbstverantwortlichen Organe ‚unabhängig von Weisungen übergeordneter staatlicher Behörden, aber unter Staatsaufsicht hinsichtlich Rechtmäßigkeit (nicht Zweckmäßigkeit) der verwaltenden Maßnahmen.‘ […] Nach der Entscheidung des BVerfG v. 5.2.2002 zum LippeverbandsG und zum EmschergenossenschaftsG […] ist das Demokratiegebot außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung und der gemeindlichen Selbstverwaltung offen für derartige Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt, die vom Erfordernis lückenloser personeller demokratischer Legitimation aller Entscheidungsbefugten abweichen. Es erlaube, für abgegrenzte Bereiche der Erledigung öffentlicher Aufgaben durch Gesetz besondere Organisationsformen der Selbstverwaltung zu schaffen. Funktionale Selbstverwaltung ergänze und verstärke insofern das demokratische Prinzip. Der Gesetzgeber dürfe ein wirksames Mitspracherecht der Betroffenen schaffen und verwaltungsexternen Sachverstand aktivieren, einen sachgerechten Interessenausgleich erleichtern und so dazu beitragen, dass die von ihm beschlossenen Zwecke und Ziele effektiver erreicht werden. […]

Die gemeinsame Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen ist ebenso wie die Selbstverwaltungen der sie tragenden Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen eine solche funktionale Selbstverwaltung. Kennzeichnend dafür ist, dass der Staat seine Verwaltungsaufgaben nicht durch eigene Behörden er füllt, sondern gesetzlich auf rechtlich selbstständige Verwaltungsträger mit eigenem Vermögen, Personal und Haushalt überträgt. […] Ihren rechtlichen Status erlangen sowohl die Krankenkassen und deren Spitzenverband als auch die Kassenärztlichen Vereinigungen und ihre Zusammenschlüsse, die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen, als Körperschaften des öffentlichen Rechts (KdöR) aus schließlich aus dem SGB (IV. und V. Buch).

(…)

Anders als die kommunale Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) genießt die Selbstverwaltung sowohl der Krankenkassen als auch der Kassenärztlichen Vereinigungen im Sozialversicherungsrecht aber keinen verfassungsrechtlichen Bestandsschutz (ständige Rspr. von BVerfG und BSG). […] Sie steht damit zur Disposition des einfachen Gesetzgebers und hat insoweit nur einen begrenzten verfassungsrechtlichen Schutz vor willkürlichen Eingriffen in ihren Status als Ausfluss des Grundrechts auf Gleichbehandlung nach Art. 3 GG. […]

(…)

Die gemeinsame Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen ist begründet im Sachleistungssystem der GKV für die ärztliche Behandlung. (…)“

[11] Ebd. [8]

[12] So bilanziert Christopher Hermann in o.a. Analyse die 20. Legislaturperiode:

Die Perspektiven für das Gesundheits- und für das Pflegesystem sind deshalb zum Ende der aktuellen Legislaturperiode keineswegs ermutigender als zum Ende der letzten. Im Gegenteil hat die Ampelkoalition Strukturdefizite und Steuerungsmängel nochmals anwachsen lassen. Die lange schwelende finanzielle Schieflage der Systeme ist auch nach außen offenbar geworden und zum veritablen Finanzdebakel eskaliert. Auch in ihrer Governance verlängert sie die Schatten der Vorgängerkoalition. (…)

Eine Konzentration erfolgte in der Gesundheitspolitik allenfalls sehr bedingt und wurde dann sehr verspätet nach viel zu langen Anlaufschleifen namentlich in der Krankenhausversorgung versucht. Ähnliches gilt für die Digitalisierungsthematik. (…)

In der Pflegepolitik hat es zu keinem Zeitpunkt eine inhaltliche Fokussierung auf Schwerpunktthemen gegeben. 2023 prolongierte das PUEG vor allem Regelungen aus dem Nachlass der GroKo III, weitere Gesetzesinitiativen zum Berufsrecht wie das Pflegekompetenzgesetz wurden zeitlich so spät vorgelegt, dass sie mit dem erstmaligen Zusammentritt des neu gewählten Bundestages nach dem vorzeitigen Ende der Wahlperiode der Diskontinuität anheimfallen werden.

Gleiches gilt für eine Reihe weiterer Gesetzesvorhaben aus dem Gesundheitsbereich wie für die im Herbst 2024 vorgelegten Entwürfe des sogenannten Gesundes-Herz-Gesetzes und des Gesetzes zur Stärkung der Öffentlichen Gesundheit, die beide gerade in der Fach-Community, auf deren enge Einbindung eloquent großer Wert gelegt wird, auf erheblichen Widerspruch gestoßen sind.“

Vernichtend ist auch die Kritik an Karl Lauterbach von unserem Autor Maximilian Gerade: „KL hat es nie geschafft, Koalitionen zu schmieden, sondern fast masochistisch danach gesucht, welchen möglichen Partnern er als Nächstes vor den Kopf stoßen könnte. Die mäandernde Historie der Bund-Länder-Absprachen zur Krankenhaus- und Notfallreform belegen diese Inkompetenz. Und seine Science-First-Strategie, also abzuwarten, dass eine Regierungskommission noch mal sagt, was schon so viele gesagt haben, hat wertvolle Zeit gekostet, die jetzt am Ende fehlte.

Es gehört zum politischen ein mal eins, große und schmerzhafte Vorhaben am Anfang der Legislaturperiode, also im koalitionären Frühling, einzubringen und gesundheitspolitische Randthemen (Cannabis) nachrangig zu behandeln. KL hat es genau andersherum gemacht. Glaubte er, damit das Wohlwollen der Cannabis-Freunde in der FDP für weitere Vorhaben zu gewinnen? Dann ist das gründlich schiefgegangen.

Auch die Verabschiedung des KHVVG war mitnichten ein politisch-taktisches Meisterstück, sondern nur ein glücklicher ‚windfall‘. Einige Länder hatten schlichtweg Angst, dass nach dem Bruch der Koalition ein gesetzgeberischer Neubeginn zu viel Zeit und zu viele Krankenhäuser im jeweiligen Land kosten würden. Ohne das jähe Ende der Koalition wäre der Vermittlungsausschuss sicher angerufen worden – mit unklarem Ausgang.

Auch inhaltlich ist die Bilanz nicht ruhmreich. Sieht man von wenigen Ausnahmen ab (zum Beispiel die Einführung der Hybrid-DRG), wurde in dieser Legislaturperiode nicht an den entscheidenden Grundfesten des Gesundheitswesens gerüttelt. Die strukturelle, berufsbezogene, ökonomische und rechtlich fixierte Sektorisierung und die sie stützenden Partikularinteressen haben auch diese Legislaturperiode gut überstanden. Das KHVVG bietet zwar innerhalb der stationären Versorgung einige gute Reformansätze, stärkt aber auch die Dominanz der teuersten (stationären) Versorgungsform, in dem die Krankenhäuser eigenständige Möglichkeiten zur ambulanten Versorgung in Abgrenzung zur KV erhalten. Dies mag regional sinnvoll sein, verhindert aber weiter, die Versäulung zwischen der ambulanten und stationären Medizin abzubauen. Die Option aus dem Referentenentwurf zum KHVVG, durch eine medizinisch-pflegerische Versorgung (nach ehemals § 115 h SGB V) eine Brücke zwischen den Versorgungsformen zu bauen, konnte KL nicht gegen das FDP-geführte BMJ durchsetzen.

Auch andere koalitionär vereinbarte Gesetzgebungsvorhaben, die an den Burgtoren der jeweiligen Sektoren gerüttelt hätten, wie das Pflegekompetenzgesetz, ein neues Berufsbild für CHN (Community Health Nursing) oder eine sektorenübergreifenden Notfallreform inklusive Rettungsdienst sind in dieser Legislaturperiode zu spät angegangen und deshalb verspielt worden.“ (https://observer-gesundheit.de/verdaddelt-vermasselt-versenkt-und-nun/)

[13] Bandelow N, Hornung J (März 2019). Mehr Staat, weniger Selbstverwaltung, weniger Wettbewerb? Mut zur Evidenz – auch bei Governance-Fragen! Observer Gesundheit. Abrufbar unter: https://observer-gesundheit.de/mehr-staat-weniger-selbstverwaltung-weniger-wettbewerb-mut-zur-evidenz-auch-bei-governance-fragen/

[14] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet.

[15] Vgl. Robert Paquet (April 2025). Wie man diesen Koalitionsvertrag lesen sollte. Observer Gesundheit: „Der personelle Neuanfang im Ministerium bietet die Chance, dass die Selbstverwaltung wieder gehört und ernst genommen wird (statt sie pauschal als üble Lobbyisten abzutun). Die Chance, realistische Planungen vorzunehmen, statt terminlichen Fata Morganen nachzujagen. Die Chance, Kooperation zu stiften (statt zu glauben, man habe gerade dann recht, wenn man alle vor den Kopf gestoßen hat).“ Abrufbar unter: https://observer-gesundheit.de/wie-der-koalitionsvertrag-gelesen-werden-sollte/

 

 

Prof. Dr. Andreas Lehr

Inhaber und Geschäftsführer Agentur für Gesundheitspolitische Information, Honorarprofessor WiSo-Fakultät, Universität Köln

 

Dr. Ines Niehaus

Redakteurin Observer Datenbank, Observer Gesundheit

 


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