13.03.2018
Koalitionsvertrag aus Managementsicht
Prof. Dr. Ludwig Kuntz
Eine Betrachtung der gesundheitssystemrelevanten Punkte im Koalitionsvertrag zeigt, dass noch viele Fragen unbeantwortet bleiben. Dabei wird der Eindruck durch Worte wie „Verbesserung“ (4-mal), „Stärkung“ (3-mal) und „mehr“ (4-mal) geprägt. Hingegen sind Begriffe wie „Effizienz“ oder „effizient“ zumindest im gesundheitspolitischen Teil nicht auffindbar. Eine grundlegende Veränderung ist demnach also nicht zu erwarten.
Aus dem Blickwinkel des Managements von Praxen, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen betrachtet scheint man sich somit vorerst zurücklehnen und schier hoffen zu können, dass man zu den Bereichen der „Verbesserung“, „Stärkung“ und „mehr“ – und somit der ökonomischen Chancen – zählt. Für manche Akteure gibt es jedoch Risiken, auf die man sich als Unternehmensleitung einstellen muss. Zudem sollten zukünftige, auf die Chancen ausgerichtete Maßnahmen skizziert und in die Unternehmensstrategie integriert werden. Was steht also für die einzelnen Akteure an und welche Gedanken macht sich die Unternehmensleitung wohl? Einige Punkte haben wir unter diesem Aspekt näher beleuchtet.
Gute Ziele, aber Wirkung der Maßnahmen in der Pflege unsicher
Das Sofortprogramm mit der Schaffung von 8.000 neuen Fachkraftstellen klingt zunächst gut. Ziel ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, z.B. durch mehr Personal pro Patient, sowie die Sicherstellung der Versorgung. Doch was bedeutet dies nun für die Ressourcenplanung? Diese Frage bleibt vorerst unbeantwortet. In Bezug auf den stationären Pflegesektor hat eine aktuelle Studie aus den USA gezeigt, dass eine bessere finanzielle Situation von Pflegeheimen in Verbindung mit einem höherem “Unwohlseins“ von Personal und Patienten steht.[1] Nicht alle Leiter von Pflegeheimen oder Pflegediensten fühlen sich gleichermaßen der Mitarbeiterzufriedenheit und der Qualität verpflichtet. Die geplante Entwicklung von verbindlichen (und einfach überprüfbaren) Personalbemessungsinstrumenten ist wichtig, um übertriebenes Gewinnstreben einzudämmen.
Die Entwicklung solcher Instrumente ist nicht einfach. Insbesondere im Krankenhaussektor, angesichts der zwischen den Patienten existierenden Heterogenität in Bezug auf die Behandlungskomplexität, kann man sich kaum vorstellen, dass einheitliche Personaluntergrenzen für alle Organisationseinheiten, wie z.B. die unterschiedlichen Stationen, gebildet werden können.
Die zudem geforderte Erhöhung der tariflichen Vergütung lässt jeden Finanzverantwortlichen aufhorchen. Da eine solche Maßnahme für alle Angestellten gilt, lautet die meist auf kurze Sicht unumgängliche Reaktion: Effizienzerhöhung. Das bedeutet letztlich weniger Personal pro Patient. Die durch die Tariferhöhung entstehende Kostenerhöhung kann für eine Pflegeeinrichtung höher sein als die finanziellen Zuflüsse über das Sofortprogramm. Letztendlich hängt alles (Konsequenzen für Arbeitsbedingungen und Versorgungssicherheit) davon ab, ob die Vergütung bzw. wie viel davon mit der Tariferhöhung refinanziert werden kann.
Weitere Maßnahmen, wie die bessere Honorierung der Wegezeiten auf dem Land und die geplante Entlastung von pflegenden Angehörigen, sind zusätzliche Faktoren, die einrichtungs- und regionsspezifisch Chancen darstellen, da hierdurch zusätzliche Erlöse erzielt werden können.
Konsequenzen in der ambulanten Versorgung nicht für alle gleich
Die Intensivierung der Terminservicestellen und insbesondere die Vorgabe von Mindestsprechstundenzeiten sind prinzipiell Maßnahmen, die Praxen oder medizinische Versorgungszentren (MVZ) in ihrer betrieblichen Steuerung einengen. Termine über Terminservicestellen zu vereinbaren und nicht mittels direktem Patientenkontakt, erhöht den Koordinierungsaufwand. Ein Ausbau des Sprechstundenangebotes hat höchstwahrscheinlich zur Folge, dass neues Personal eingestellt werden muss oder zumindest die Verträge der bereits angestellten Mitarbeiter geändert werden müssen. Nur größere Einheiten haben das Potenzial, diese Maßnahmen effizient in ihre betrieblichen Abläufe zu integrieren, da sie beispielsweise auf EDV spezialisiertes Personal vorhalten können und durch mehr Personal insgesamt flexibler bei der Einsatzplanung des Personals sind.
Daneben erscheint sich die Beteiligung an Projekten beim Innovationsfonds und der Erhalt zusätzlicher Mittel für innovative Maßnahmen wohl auch eher für größere Organisationseinheiten zu erschließen.
Der Schutz der „kleinen“ Apotheken durch ein Verbot des Versandhandels ist aus Managementsicht kaum zu verstehen. Eben der Bereich, bei dem digitalisierte (papierlose) Versorgungsprozesse bereits weit entwickelt und möglich sind, soll – trotz gewünschter Digitalisierung und Telemedizin – in seinem bisherigen Geschäftsmodell verharren.
Dagegen geht die Kostenübernahme für die Koordinierung von Hospiz- und Palliativversorgungsnetzwerken in die richtige Richtung. Neben den Kosten für die Behandlung und Pflege der Patienten, sprich den durch direkten Patientenkontakt, fallen immer mehr finanzielle Mittel für die Koordinierung komplexer Behandlungsprozesse an. Insbesondere bei der Versorgung von chronisch erkrankten, und somit komplexen, Patienten stellen Netzwerke die Organisation der Zukunft dar. Die Kostenstrukturen werden sich dadurch noch mehr in diese Richtung verändern.
Strukturelle Veränderungen zu mehr Fairness und eine Verbesserung der Patientenorientierung sind angedacht, aber die Vision fehlt
Maßnahmen zur Verbesserung der Fairness sind aus Managementsicht immer problematisch, da sich Organisationen optimal auf verschiedene Patientengruppen einstellen und die Leistungen an deren Bedürfnissen und Finanzkraft ausgerichtet haben. Mit anderen Worten, Fairness ist eher ein Ziel auf Systemebene und nicht auf unternehmerischer Ebene, auf der die Finanzkraft des Kunden immer von hoher Bedeutung sein wird. Fairness kann möglicherweise durch eine Angleichung der finanziellen Situation von Patientengruppen, z.B. der GKV-Patienten und PKV-Patienten, hergestellt werden. Hierauf würden die Organisationen, wie z.B. Arztpraxen, sicherlich reagieren, allerdings kann es bei allen beteiligten Akteuren (Patienten und Organisationen) immer Gewinner und Verlierer geben, auch wenn es im Durchschnitt „besser“ wird. Eigentlich kein Problem für Personen in leitender Funktion eines Unternehmens – so läuft eben Wettbewerb. Stellt das Ziel allerdings dar, eine solche Maßnahme im Konsens aller durchzuführen, sollte man lieber gar nicht damit anfangen.
In diese Maßnahmenkategorie gehört die Überarbeitung oder – noch besser – die mögliche Angleichung der Gebührenordnung der Privaten Krankenversicherung (GOÄ) und des einheitlichen Bewertungsmaßstabes der Gesetzlichen Krankenversicherung (EBM). In der Tat können die nach den Patientengruppen getrennten Gebührenordnungen als der Nukleus der ungerechten Terminplanung betrachtet werden. Die Anreize sind deutlich darauf ausgelegt, dass Patienten der Privaten Krankenversicherung in Bezug auf Terminplanung bevorzugt werden. Die Maßnahme hätte sicher eine direkte Auswirkung und das Potenzial, das System fairer zu gestalten. Im Krankenhaus gibt es bei der Fallpauschalenvergütung auch keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Versichertengruppen, und jeder hat die Chance, durch eine Zusatzversicherung in transparenter Weise Leistungen, wie Einbettzimmer oder Chefarztbehandlung, in Anspruch zu nehmen.
Warum sollte das bei der ambulanten Vergütung nicht gehen? Wenn man hierzu allerdings eine Kommission beauftragt, womöglich noch mit allen Beteiligten, wird es zum Stillstand kommen. Einen gemeinsamen Konsens für Maßnahmen zu finden, die die aktuellen Geschäftsprozesse grundlegend verändern können, ist unwahrscheinlich.
Dies gilt auch für Maßnahmen für eine bessere Patientenorientierung. Sie sind in der Regel nicht durch eine Weiterentwicklung vorhandener Geschäftsmodelle, sondern nur durch eine grundlegende strukturelle Veränderung (Disruption) effizient und nachhaltig implementierbar. Letztendlich geht es darum, dass der Patient bei der Organisation behandelt wird, die in der Lage ist, die notwendige medizinische und pflegerische Betreuung in hoher Qualität auf effiziente Weise durchzuführen. In der Konsequenz bedeutet dies stets: Nicht jede Organisation bzw. jeder Organisationstyp kann alles machen. Multimorbide Patienten können nur in Organisationen mit einem breiten Leistungsportfolio auf hohem Niveau behandelt werden, wohingegen gut planbare Routinefälle eher in dafür spezialisierten Organisationen behandelt werden sollten. Nicht jede Organisation kann sich beliebig effizient vernetzen und zudem hochgradig interdisziplinär aufgestellt sein. Deshalb ist es konsequent, hierfür Zentren zu schaffen. Allerdings gilt es dann sicherzustellen, dass die betroffenen Patienten nicht in einem Krankenhaus der Grund- oder Regelversorgung landen. Wenn man über Zentren für diese Patienten nachdenkt, muss man einkalkulieren, dass viele Kranke allein aufgrund ihres hohen Alters und damit häufig verbundenen hohen Anzahl an Komorbiditäten zu komplexen Patienten werden und dann beispielsweise durch ein interdisziplinäres Team, anstatt durch einen einzelnen Arzt, behandelt werden müssen. Das Volumen an diesen Patienten wird demnach ansteigen.
Aber wie stellen wir sicher, dass die Patienten an der richtigen Stelle landen und nicht standardmäßig in ein Haus der Grund- und Regelversorgung gehen, wo erstmal das gemacht wird, was dort möglich ist und abgerechnet werden kann? Schon heute wird ein Großteil der Patienten in der falschen Abteilung im Krankenhaus aufgenommen.[2] Doch wie werden Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung zukünftig aussehen, wenn sie solche Patienten nicht mehr behandeln sollten? Welche Unterschiede zu großen MVZs wird es noch geben? Wie kann die Notfallversorgung effizient in ein solches System integriert werden?
So wie es zurzeit geplant ist, wird sich nicht viel ändern. Manche Krankenhäuser, die ein Zentrum aufweisen können, dürfen einige multimorbide oder Patienten mit seltenen Erkrankungen versorgen und bedanken sich für den Zuschlag. Die anderen Krankenhäuser machen weiter so wie bisher, d.h. sie werden versuchen, ungesteuert und undifferenziert möglichst viele Patienten zu behandeln. Ebenso scheint die angedachte Änderung des Vergütungssystems, Pflegekosten unabhängig von Fallpauschalen zu finanzieren, halbherzig. Ja, für Behandlungen – insbesondere von Patienten mit mehreren Erkrankungen – ist es sinnvoll, Elemente einer Kostenerstattung bzw. Einzelleistungsvergütung, beispielsweise über Tagessätze für Pflegekosten, zu nutzen. Umfassende Behandlungsprozesse erweisen sich in Bezug auf Wirkung und Behandlungslänge als schwer abschätzbar, und das damit verbunden Risiko, komplett durch die behandelnden Organisation decken zu lassen, ist problematisch. Fallpauschalen für eine gut planbare Routinebehandlung sind hingegen durch die einfache Handhabung sowohl für Krankenkassen als auch für Leistungserbringer mit Vorteilen verbunden. Die Modifizierung des Vergütungssystems ist allerdings nicht differenziert nach geeigneten Patientengruppen bzw. Organisationen. Für Organisationen mit vielen Routinepatienten würden somit falsche Anreize gesetzt werden.
Ohne Zweifel ist die zusammenfassende Bewertung der hier selektierten Punkte des Koalitionsvertrags, die meines Erachtens aus Managementsicht von besonderem Interesse sind, eine subjektive Sicht. Sie wird jedoch von aktuellen wissenschaftlichen Studien unterstützt.
[1] Bos, Aline, Boselie, Paul and Margo Trappenburg (2017). “Financial performance, employee well-being, and client well-being in for-profit and not-for-profit nursing homes: A systematic review”, Health Care Management Review. Zusammenfassung demnächst auf www.observer-gesundheit.de
[2] Focke, Klaus, Wuckel, Christiane und Ansgar Wübker (2016): „Werden Patienten in der richtigen Fachabteilung behandelt?“, Gesundheits- und Sozialpolitik.
Prof. Dr. Ludwig Kuntz
Leiter des Seminars für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Management im Gesundheitswesen, Universität zu Köln; Ressortleiter Management im Observer Gesundheit
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