16.09.2020
IGES zum Apothekenmarkt – ein gerupftes Gutachten?
Dr. Robert Paquet
Es ist zwar noch nicht vom BMG offiziell veröffentlicht. Aber das Ende 2019 beim IGES-Institut bestellte „ökonomische Gutachten zum Apothekenmarkt“ ist inzwischen bekannt geworden. Eine detaillierte Auftragsbeschreibung liegt nicht vor[1]. Ziel des BMG war jedoch, eine empirische Argumentationshilfe für den Weg des Vor-Ort-Apothekenstärkungsgesetzes (VOASG) zur „Gleichpreisigkeit“ der Rx-Arzneimittel zu bekommen. Die im Gutachten „Analyse der Auswirkungen einer veränderten Preisbindung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln auf den Apothekenmarkt“ basiert auf einer Beschreibung der gegenwärtigen Situation. Sie ist das „Referenz-Szenario“ für Modellrechnungen bei „partieller Aufgabe der Preisbindung nur für ausländische Versandapotheken“ und einem Boni-Verbot in der GKV-Versorgung nach den Vorgaben des VOASG.
Unter Beteiligung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wurde dafür ein theoretisches Entscheidungsmodell für die Akteure im Apothekenwettbewerb entwickelt. Dieses Modell wurde für die Berechnungen mit den empirischen Daten aus dem Status quo kalibriert. Die Ergebnisse sind überaus zurückhaltend und gefallen dem BMG sicher nur zum Teil: Beim Boni-Verbot werden die OTC-Präparate für die Verbraucher teurer, und die Präsenzapotheken sowie der Versandhandel können ihre Gewinne steigern (S. 76). Danach wirkt das Gutachten wie abgebrochen: keine Zusammenfassung und keine Handlungsempfehlung. Der modelltheoretische Aufwand (mit >2 Seiten Formeln im Anhang) hätte mehr erwarten lassen. Vierzig Seiten Ist-Analyse und acht Seiten Modell-Ergebnisse stehen in keinem überzeugenden Verhältnis. Die Forscher hätten sicher gerne weitergemacht und andere Bonus Modelle sowie die regionalen Auswirkungen für die Apotheken berechnet[2]. Aber die Auftraggeber wollen es manchmal gar nicht mehr so genau wissen.
Vorgeschichte
Das GKV-Modernisierungsgesetz erlaubt seit 2004 den Versandhandel auch mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln (Rx-Arzneimittel) in Deutschland. Seitdem haben deutsche und vor allem niederländische Unternehmen den Versand von Rx-Arzneimitteln in/nach Deutschland zu ihrem Geschäftsmodell gemacht. Der Europäische Gerichtshofs (EuGH) hat am 19. Oktober 2016 entschieden, dass die deutsche Regelung, die einheitliche Apothekenabgabepreise auch für ausländische Versandapotheken vorschreibt, wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung wirkt und daher nicht anwendbar ist. Infolgedessen können diese auch für Rx-Medikamente Rabatte gewähren.
2017 scheiterte Bundesgesundheitsminister Gröhe (CDU) mit dem Versuch, den Versandhandel mit Rx-Arzneimitteln (wieder) grundsätzlich zu verbieten. Es gab europarechtliche Bedenken im Kabinett und Widerstand beim Koalitionspartner SPD. Im aktuellen Koalitionsvertrag, dessen gesundheitspolitisches Kapitel für die Union von Gröhe verhandelt wurde, wird trotzdem weiter ein grundsätzliches Verbot des Versandhandels mit Rx-Arzneimittel angestrebt.
Der jetzige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist dagegen kein Freund des Versandhandelsverbots und plädierte zunächst für eine Beschränkung der Preisnachlässe („Boni“) auf 2,50 Euro. Dann drohte die EU-Kommission mit einem „Vertragsverletzungsverfahren“ und setzte die Bundesregierung unter Druck, das EUGH-Urteil aus 2016 zeitnah umzusetzen. Daraufhin legte das BMG den Entwurf des VOASG vor, mit dem Preisnachlässe unmöglich gemacht werden sollen, allerdings nur für die GKV: Statt mit der allgemeinen Regelung nach der Arzneimittelpreisverordnung sollen die Kassen durch einen Rahmenvertrag nach SGB V mit den Apotheken gebunden werden. In dem relativ kleinen Bereich von PKV und Selbstzahlern hätten die EU-ausländischen Versandhändler dann allerdings noch die vom EUGH verlangte Preisfreiheit auf dem deutschen Markt.
Beim ersten Durchgang des VOASG forderte der Bundesrat im September 2019 erneut ein grundsätzliches Verbot des Versandhandels. Spahn hielt dagegen an der Rechtsposition der Verfassungsressorts BMJV und BMI fest. Auf die längeren Ausführungen des Bundesrats geht die Gegenäußerung der Bundesregierung vom 19.8.2020 nicht ein. Zwischenzeitliche Versuche des BMG von der EU-Kommission einen Persilschein für ihren Kunstgriff zu bekommen (Verlegung des Boni-Verbots ins Sozialrecht), sind bis heute ergebnislos geblieben. Auch ob der EUGH bei einer Klage der niederländischen Regierung die vorgesehene Umgehungsstrategie tolerieren würde, ist äußerst fraglich.
Bestandsaufnahme – Vieles schon bekannt
Die „Ist-Analyse des Apothekenmarktes“ beschreibt die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Wettbewerb der Apotheken und will die folgenden Fragen beantworten:
- Welche Bedeutung haben Strukturprinzipien der GKV, wie das Sachleistungsprinzip, der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz und Zuzahlungsregelungen für die aktuelle Arzneimittelversorgung?
- Wie stellt sich die ökonomische Situation der Apotheken und Versandapotheken insgesamt und in Bezug auf das Ziel einer flächendeckenden Versorgung dar? (S. 13)
Dabei stellt das Gutachten fest, dass sich die gesetzlichen Regulierungen nicht nur hinsichtlich der Möglichkeit von Rx-Rabatten asymmetrisch für Versand- und Präsenzapotheken auswirken. So gilt für ausländische Versandapotheken z.B. nicht das Mehr-und Fremdbesitzverbot oder die Verpflichtung zur Dienstbereitschaft für Nacht- und Notdienste. (S. 17 f.)
Bei der Vergabe des Gutachtens war sicher auch die Hoffnung des BMG, es könnte gezeigt werden, dass der Versandhandel mit seinen Rabatten das Sachleistungsprinzip aushebelt. Dazu wird erklärt, das „Sachleistungsprinzip stellt sicher, dass Leistungen ohne direkte entgeltliche Beziehung zum Leistungsanbieter, insbesondere ohne finanzielle Vorleistungen der Versicherten, in Anspruch genommen werden können“. (S. 19). Die Zuzahlungen stünden damit im „Einklang“, „da sie in jeder Apotheke identisch anfallen“. Nach dem Sachleistungsprinzip sollen die privaten Anbieter (also hier die Apotheken) untereinander nicht über die Preise konkurrieren. „Diese im Rahmen des GKV-Sachleistungsprinzips grundsätzliche Maßgabe stelle einen Schutz der Versicherten vor unsachlicher Beeinflussung und vor Verzögerungen bei der Therapie von Erkrankten durch Kostenvergleiche dar.“ (S. 19).
Nun bieten aber gerade die „Zuzahlungen der Versicherten in Deutschland den ausländischen Versandapotheken eine vergleichsweise unkomplizierte Möglichkeit, GKV-Versicherten trotz Sachleistungsprinzip unmittelbar monetäre Rabatte bei Verordnungseinlösung zu gewähren, indem die Zuzahlungen nicht oder nur teilweise in Rechnung gestellt werden.“ (S. 33)
Die Ist-Analyse trägt darüber hinaus viele Informationen und relevante Überlegungen zusammen, zum Beispiel:
- Zu Zahl und Marktanteil der Versandapotheken (S. 21) und zur Segmentierung des Arzneimittelmarktes nach Rx- und OTC-Präparaten. Daraus ergibt sich gerade für die Versandhändler die besondere Relevanz von Bündelkäufen, „ h. wie oft Kunden die Verordnungseinlösung für Rx-Arzneimittel mit dem Kauf von OTC- oder anderen Non-Rx-Arzneimittel und -produkten kombinieren.“ (S. 24)
- Der Marktanteil des Versandhandels im OTC-Bereich liege bei 19 % und bei Rx-Arzneimitteln bei 1% (S. 21). Trotzdem „gelingt es dem Arzneimittelversandhandel bisher noch nicht, Menschen mit chronischen Erkrankungen in größerem Ausmaß als Kunden für Rx zu gewinnen, obwohl sich diese vorrausschauender mit Arzneimitteln versorgen können.“ (S. 27)
- Der Rohertrag aus dem Verkauf von Rx-Präparaten ist niedriger als bei den OTCs und anderen Produkten des Ergänzungssortiments. Trotzdem machen die Apotheken – wegen der Packungszahlen – immer noch mehr als die Hälfte ihres Gewinns im Rx-Markt (S. 36). „Die Gewinne der Apothekeninhaber lagen in den letzten Jahren durchschnittlich bei ca. 170.000 bis 180.000 Euro.“ (S. 42)
- Es zeige sich auch, dass „es sich bei ländlichen Apotheken nicht verstärkt um kleine Apotheken mit geringer Unternehmensgröße nach Umsatz handelt.“ Diese seien vielmehr in den Ballungszentren zu finden. (S. 45)
- Zur Erreichbarkeit: „Für 6.383 Gemeinden konnte im Datensatz keine Apotheke nachgewiesen werden. Dass trotzdem in der Bundesrepublik von einer „flächendeckenden Versorgung“ ausgegangen wird, liegt … an den Charakteristika der Gemeinden ohne Apotheken.“ Diese seien klein, und es gebe von dort aus meist eine gute Erreichbarkeit der Apotheken in den benachbarten Gemeinden (S. 49 f.). Es zeige sich aber auch, „dass große Teile der Bevölkerung in Landgemeinden (rd. 10 % der Gesamtbevölkerung) ohne Pkw nicht ohne Weiteres eine Apotheke erreichen können.“ (S. 55)
Es gibt viele Informationen, die auch schon in dem 2hm-Gutachten zur Apothekenvergütung von 2017 für das Wirtschaftsministerium enthalten waren.
Modellrechnungen bringen weniger als erwartet
Im Kapitel 4 werden die individuellen Entscheidungen der Marktakteure (und deren ökonomischen Motive) für die Modelbildung beschrieben. Das gilt für die Verbraucher, die Präsenz- und die Versandapotheken. Aufmerksam gemacht wird vor allem auf die Bedeutung der „Wegekosten“ für das Aufsuchen einer Präsenz-Apotheke und der „Wartezeiten“ bei den Versandapotheken (S. 58). Im Ergebnis finden sich dann Handlungsregeln für die Versicherten wie z.B.: „Rabatte auf Zuzahlungen und geringe Preise bei OTC werden die Zahl der Verbraucherinnen und Verbraucher, die bei einer (Versand-)Apotheke nachfragen, erhöhen.“ (S. 58). Das mag banal erscheinen, ein Katalog solcher Regeln ist aber als Vorbereitung für ein „strategisches Spiel“ (S. 67) zwingend erforderlich[3].
Für die Apotheken werden dementsprechend die regelhaften Entscheidungen z.B. zur Sortiment- und Preisgestaltung dargestellt. Zentral ist die Modellierung der „strategischen Interaktionen“ (S. 60 f.). Ein Beispiel: „Marktein- und Marktaustritte beruhen auf (erwarteten) Gewinnen bzw. Verlusten.“ (S. 67) Dabei spielen Fristigkeit und Ebenen der Entscheidungen eine wichtige Rolle:
- „Preise können kurzfristig angepasst werden; Entscheidungen über Sortimente sowie Servicequalität sind mittelfristiger Natur; Standort- und Marktein- bzw. Marktaustrittsentscheidungen haben langfristigen
- Die Analyse strategischer Interaktionen beruht auf einem mehrstufigen „Spiel“, in dem zunächst längerfristige Entscheidungen getroffen werden. Mittel- bis kurzfristige Entscheidungen werden auf zeitlich nachgelagerten Stufen getroffen.“ (S. 67)
Für die folgenden Modellberechnungen darf die Demutsformel nicht fehlen. Sie kommt schon im zweiten Kapitel (Methodik): „Die Modellergebnisse sind … nicht als Prognose zu verstehen, sondern sie zeigen grundlegende Wirkungszusammenhänge auf, und zwar im Hinblick auf die Wirkungsrichtung und – auf Basis der Kalibrierung anhand empirischer Kennzahlen – auch im Hinblick auf die quantitative Größenordnung der Wirkungen (Wirkstärke).“ (S.12) Im Methodenkapitel wird auch die Möglichkeit weiterer „Sensitivitätsbetrachtungen“ angekündigt. Leider wird jedoch daraus nicht viel gemacht. Die einzige „Sensitivitätsbetrachtung“ gibt es für den Fall der Einführung des elektronischen Rezepts, aus der „eventuell“ eine völlig „neue Wettbewerbslandschaft“ entstehen könnte. Danach stiege der Rx-Marktanteil des Versandhandels (auch ohne Boni) auf 1,4%. „Bestünden – neben sinkenden Wartekosten infolge der Einführung des E-Rezepts – zusätzlich Möglichkeiten, begrenzte Rabatte zu gewähren, wäre mit einem stärkeren Anstieg des Rx-Marktanteils des Versandhandels zu rechnen.“ (S. 75) Bei weiterer dynamischer Entwicklung des Versandhandels, „z. B. durch steigende Online-Affinität der Bevölkerung“ sei „selbst bei einem Boni-Verbot“ davon auszugehen, dass die Marktanteile im Arzneimittel-Versandhandel zunehmen. (S. 75)
Was fehlt?
Das zentrale empirische Ergebnis (zum Modell des VOASG) wurde bereits in der Einleitung angesprochen – worauf man vielleicht auch ohne Gutachten hätte kommen können. Wichtig ist aber auch eine weitere Feststellung: „Ein zentrales Ergebnis der Modellierungen ist, dass die Modellparameter Preis bzw. Rabatt, Marktanteile und Gewinne eine hohe Sensitivität im Hinblick auf die Veränderung von Wartekosten im Versandhandel aufweisen. Dies deutet darauf hin, dass zukünftig nicht-preisliche Rahmenbedingungen, wie die Einführung des E-Rezepts, deutlich stärkere Veränderungen auf dem Apothekenmarkt bewirken könnten als mögliche Anpassungen von Preisregulierungen.“ (S. 76)
Trotz dieser Feststellung fehlt leider die Berechnung/Fortschreibung des Status quo (mit Boni-Berechtigung der ausländischen Versandapotheken). Wie viele Apotheken und in welcher regionalen Verteilung würden das nicht überleben? Wie würde sich das – im Vergleich zu heute – auf die Erreichbarkeit auswirken? Auch bei der Modellrechnung zu der neuen Wettbewerbslandschaft, die bei der Einführung des E-Rezepts entstehen wird, wird nichts zu (regional differenzierten) Marktein- bzw. Austritten von Apotheken dargestellt[4]. Ein Modell-Ergebnis, bei dem Apotheken schließen müssten, war wohl aus politischem Kalkül nicht erwünscht.
Außerdem hätte man sich die Berechnung anderer Varianten für die Bonifizierung gewünscht. Minister Spahn hatte selbst einmal vorgeschlagen, die Preisnachlässe z.B. auf 2,50 Euro zu beschränken. Warum werden zu diesem Vorschlag nicht verschiedene Werte durchgespielt?[5] – An den Gutachtern dürfte das nicht liegen. Wissenschaftler spielen gern, erst recht, wenn sie aufwendige Modelle dafür entwickelt haben. Ein Indiz dafür gibt es immerhin zwei Mal, wenn sie beiläufig die Möglichkeit erwähnen, dass man auch „begrenzte Rabatte“ gewähren könnte (S. 75 und 77).
Schließlich drängt sich noch eine Überlegung auf: Die Bonusmöglichkeit der ausländischen Versandapotheken hängt vor allem an der Arzneimittelzuzahlung in der GKV. Da bräuchten Bundesrat und LINKE überhaupt nicht fordern, europarechtswidrig den Versandhandel zu verbieten. Viel besser würde es doch passen (und wäre zudem auch viel populärer), zu fordern, die Zuzahlungen selbst abzuschaffen. Nicht zuletzt wäre das ein Weg, den die SPD mitgehen könnte, die ja zur Zeit nichts Wichtigeres im Sinn hat, als die gesetzgeberischen Hinterlassenschaften der Ära Schröder zu beseitigen.
[1] Sicher nicht unzutreffend ist die Auftragsbeschreibung in https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/apothekenpraxis/spahn-prueft-das-ende-der-preisbindung-gutachten-beauftragt-iges/
[2] So, wie es das BMG auch als Inhalt des Gutachtens angekündigt hat: Siehe die schriftlichen Fragen von Frau Sylvia Gabelmann MdB, DIE LINKE, im Monat Dezember 2019 Arbeitsnummer 12/140 und im Monat Januar 2020, Arbeitsnummer 1/73 und die Antworten der Parlamentarischen Staatssekretärin Sabine Weiss.
[3] In der Fußnote 29 (S. 71) wird darauf verwiesen, dass solche „räumlichen Wettbewerbsmodelle“ bei der Entwicklung der amerikanischen Anti-Trust-Gesetzgebung eine zentrale Rolle gespielt haben.
[4] Das sind Fragen, die sich auch die Fachkreise stellen: https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/09/10/iges-gutachten-viele-ideen-und-keine-konsequenzen
[5] Vgl. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/01/08/spahn-laesst-aufgabe-der-rx-preisbindung-erforschen
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