29.10.2024
Igel, Heringe und tote Katzen
Zur derzeitigen Diskussion um Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL)
Prof. Dr. med. Jürgen Windeler
Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) sorgen derzeit wieder für Zündstoff – ausgelöst durch die Verbraucherzentralen. Sie stützen ihre Kritik an IGeL auf Ergebnisse eines Verbraucheraufrufs, bei dem viele Patienten berichten, dass ihnen Kassenleistungen als Selbstzahlerleistungen verkauft werden. Der Virchowbund wehrt sich nicht konkret gegen die Vorwürfe. Vielmehr argumentiert er, dass die wirtschaftlichen Engpässe vieler Praxen durch unzureichende Kassenvergütungen diese Zusatzangebote erforderlich machen. Statt eines Fokus auf IGeL seien politische Maßnahmen zur Stabilisierung der ambulanten Versorgung notwendig. Für unseren Autor Prof. Dr. Jürgen Windeler Anlass genug, sich dem Thema IGeL intensiver zu widmen.
Möchte man seinen Kindern oder Schülern einige zweifelhafte rhetorische Argumentationsfiguren erklären, dann sollten dazu neben „ad hominem“ oder „ad populum“ auch der rote Hering oder die tote Katze gehören. Beide dienen einem Ablenkungsmanöver, dem Verschieben der Diskussion von einem unliebsamen auf ein anderes Thema: der „red herring“ aus jahrhundertealter englischer Tradition, die „dead cat“ bekannt gemacht durch den ehemaligen Premierminister Boris Johnson, der sinngemäß sagte: „Werfe eine tote Katze auf den Tisch – und alle werden nur noch über die tote Katze sprechen.“ Bestimmt möchte man dann seinen Zuhörern ein eindrückliches, tagesaktuelles Beispiel für ein solches Ablenkungsmanöver präsentieren. Und wird fündig beim Bundesvorsitzenden des Verbands der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte Deutschlands, „Virchowbund“, Dr. Dirk Heinrich.
Patientenbeauftragte hat recht mit Kritik
Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) hatte am 23. Oktober das Zwischenergebnis eines „Verbraucheraufrufs“ veröffentlicht, nach dem bei Verkauf von „Individuellen Gesundheits-Leistungen“, gemeinhin als IGeL bekannt, in Arztpraxen u.a. gegen vertragliche, d.h. im Klartext, rechtliche Vorgaben verstoßen wurde [1]. Das Schwerpunktthema, zu dem es zwischen März und September 297 Erfahrungsberichte von Betroffenen gab, war, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Patienten Leistungen privat bezahlen ließen, die eigentlich GKV-Leistungen waren. Dies wäre ein Verstoß gegen den Bundesmantelvertrag sowie eine Missachtung der Grundsätze, die der Ärztetag 2006 zu IGeL beschlossen hat und die viele Ärztekammern, teilweise als Regeln oder „Gebote“ (sic!), übernommen haben. Nicht zuletzt wäre es eine Täuschung der Betroffenen. Aber auch die unzureichende Aufklärung wurde in den Berichten – wieder einmal – beklagt. Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze, nannte die Erkenntnisse „inakzeptabel“ und an Betrug grenzend [2]. Er hatte damit zweifellos recht; neu war das alles allerdings nicht.
In seiner Pressemitteilung vom 24. Oktober, in der der Virchowbund diese Ergebnisse „kontert“ (so die Ärzte Zeitung), gelingt es dem Verband bzw. seinem Vorsitzenden, sich mit keinem Wort zu den Inhalten der Erhebung zu äußern, außer, das Problem als vollkommen nebensächlich zu bezeichnen [3]. Stattdessen wird über die „Budgetierung ärztlicher Leistungen, eine Unterfinanzierung in den Praxen und (den) wachsenden Fachkräftemangel“ lamentiert und der Wunsch der Menschen, die „ihren Haus- und Facharzt um die Ecke mit möglichst wenig Wartezeit“ wollen, beschworen – roter Hering und tote Katze. Dem „alimentierten“ vzbv vorzuwerfen, sich mit einem „populistischen Nischenthema“ zu befassen, stellt für den Verband anscheinend „Berufspolitik mit Biss“ dar.
Virchowbund banalisiert Beschwerden
„Weniger als 300 Meldungen bei rund einer Milliarde Patienten-Arzt-Kontakten im Jahr“, so der Virchowbund – das klingt tatsächlich nicht viel (auch wenn die Rechnung etwas eigenwillig erscheint). Berücksichtigt man allerdings die geringe Reichweite des Aufrufs (in meinem Umfeld hatte niemand von dieser Initiative gehört) und den Umstand, dass es keineswegs um IGeL allgemein, sondern um einen speziellen Teilaspekt ging, sieht die Sache schon anders aus. Entscheidend aber: Man muss Augen und Ohren ganz fest verschlossen halten, wenn man die Beschwerden von Patienten aus Arztpraxen so banalisiert. Es ist vielmehr so, dass es im privaten Kontext so gut wie kein Gespräch über Besuche in Arztpraxen gibt, in dem nicht solche Beschwerden thematisiert werden. Und dies ist immer noch nur das obere Ende des Eisbergs. Denn die meisten Patienten kennen die Anforderungen an solche Leistungen, die vom Ärztetag beschlossenen Grundsätze oder die Regeln der Ärztekammern (z.B. schriftlicher Behandlungsvertrag, Bedenkzeit) ebenso wenig wie ihre Rechte, die sich aus dem Patientenrechtegesetz ergeben. Würde man diese Maßstäbe anlegen, würde sofort das ganze Ausmaß des Problems deutlich. Aber bloß nicht hingucken!
Die Berichte der Teilnehmer des Verbraucheraufrufs lassen erkennen, dass die Initiative zu diesen privat zu zahlenden Leistungen fast immer von Arzt oder Ärztin ausgeht, die dies oft quasi als „Notwehrmaßnahme“ darstellen. Das Vorgehen widerspricht klar der Ansage der „Rechtsberatung“ des Virchowbunds. „Die Initiative für die Privatbehandlung muss vom Patienten ausgehen“ [4].
An anderer Stelle stellt die Rechtsberatung klar: „Sie dürfen Patienten auf keinen Fall dazu drängen, eine IGeL in Anspruch zu nehmen oder eine medizinisch notwendige Untersuchung oder Behandlung an die Entscheidung für eine vorgeschlagene IGeL knüpfen. Damit würden Sie gegen das Berufsrecht verstoßen.“ [5] Genau dies passiert, und insofern könnte es Ärztevertreter ganz unabhängig von der Erhebung des vzbv grundsätzlich interessieren, ob Verträge, Gesetze oder die rechtlichen Maßgaben des eigenen Verbands eingehalten werden – bzw., dass sie nicht eingehalten werden.
Stattdessen nimmt der Vorsitzende eines maßgeblichen ärztlichen Verbandes achselzuckend zur Kenntnis, dass seine Kollegen Rechtsverstöße begehen und ihre Patienten täuschen. Kein Wort des Bedauerns, der Erklärung oder auch nur der Bereitschaft, den Vorwürfen nachzugehen. Eine erweiterte Suche nach Reaktionen der Ärzteschaft, etwa der Kammern, die ja immerhin Regeln zum Verhalten bei IGeL aufgestellt haben, sind nicht zu finden, obwohl die Praxis den Regeln Hohn spricht. Und wenn, so der Virchowbund, „Freiberuflichkeit bedeutet, dass Sie … Rechte und Pflichten haben, die andere Berufsgruppen nicht genießen“ [6], dann würde man gerne lesen, dass die Einhaltung von Regeln und Gesetzen auch zu diesem „Pflichtgenuss“ gehört.
Öffentliche Institutionen sind für Verbraucher da
Irgendwann werden sich Ärzteverbände angesichts ihres Desinteresses die Frage gefallen lassen müssen, ob es bei ihnen „auch einige“ Kollegen gibt, die sich regelwidrig verhalten, oder nicht vielmehr „auch einige“ Kollegen, die die von anderen oder selbst aufgestellten Regeln kennen, ernst nehmen und beachten.
Und in einer Situation, in der es um Verkaufsgespräche, um Kunden und „Praxismarketing“ geht, haben öffentlich geförderte Institutionen wie die Verbraucherzentralen oder die Stiftung Warentest nicht nur das Recht, sich für die Interessen der Verbraucher und ihren Schutz zu interessieren, sondern genau dazu sind sie da! Andere finden dies ja, wie man liest, nicht der Rede wert. Besonders aufschlussreich könnten hier Hidden-Client-Studien sein, wie sie die Stiftung Warentest 2015 für die Früherkennung des Prostatakarzinoms durchgeführt hat und seitdem regelmäßig in anderen Themenbereichen macht. Und da sich die „Kunden“, wie auch die Erhebung des vzbv sehr deutlich macht, in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis befinden, das – wie soll man es anders nennen? – schamlos ausgenutzt wird, ist das Engagement dieser Institutionen umso wichtiger.
Nirgendwo auf den Seiten des Virchowbunds ist ein Hinweis auf Rudolf Virchow zu finden. Gut so! Denn Virchow, der Medizin für „eine soziale Wissenschaft“ hielt, würde sich angesichts des IGeL-Gebarens, das mit seinem Namen verbunden wird, vermutlich stöhnend im Grabe wälzen.
[1] https://www.vzbv.de/pressemitteilungen/kassenleistung-als-selbstzahlerleistung-verkauft-das-geschaeft-mit-igel
[2] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/155195/Neue-Debatte-um-individuelle-Gesundheitsleistungen
[3] https://www.virchowbund.de/pressemitteilungen/details/igel-kritik-lenkt-vom-wahren-problem-ab
[4] https://www.virchowbund.de/praxis-knowhow/abrechnung-finanzen/selbstzahler (Abruf am 26.10.2024)
[5] https://www.virchowbund.de/praxis-knowhow/abrechnung-finanzen/igel (Abruf am 26.10.2024)
[6] https://www.virchowbund.de/verbandsarbeit/freiberuflichkeit
Lesen Sie vom Autor auch diese Beiträge im Observer Gesundheit:
„GHG – Neues vom Schminktisch“, Observer Gesundheit, 30. August 2024,
„Hautkrebs-Screening – ein Leerstück“, Observer Gesundheit, 16. August 2024,
„Erinnern Sie sich noch an den G-BA?“, Observer Gesundheit, 19. Juni 2024,
„Digitalistan oder der Tanz um das binäre Kalb“, Observer Gesundheit, 9. April 2024,
„Der Check heiligt die Mittel – ein Update“, Observer Gesundheit, 16. Dezember 2023,
„Der Check heiligt die Mittel“, Observer Gesundheit, 31. Oktober 2023.
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