Handlanger für den Notstandsstaat

Wie die Koalitionsfraktionen im Bundestag Regierungsvorlagen zur Pflegereform und zum Fortbestehen epidemischer Notlage durchpeitschen

Fina Geschonneck

Prof. Dr. Andreas Lehr

Kurz vor der Bundestagswahl laufen CDU/CSU und SPD bei der Entscheidung über die Pflegereform sowie über das Fortbestehen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite zur Höchstform auf. Durchpeitschen und beschließen, heißt die Devise. Die Koalitionsfraktionen im Bundestag nehmen sich dabei auffallend zurück. Vielmehr erscheinen sie als Handlanger der Bundesregierung. Die politischen Regularien werden zwar eingehalten, aber das Ergebnis steht bereits im Vorfeld des Beschlusses im Bundestag fest – trotz Kritik und großer Vorbehalte seitens der Opposition und zahlreicher Akteure.

 

Pflegereform

Dass die Pflegereform – auch eine kleine – in dieser Legislatur noch beschlossen wird, daran glauben nur noch wenige. Mehr Ausbildung, mehr Personal und mehr Geld – unter diesem Titel präsentieren drei Bundesminister (BMAS, BMFSFJ, BMG) Ziele der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) im November 2020. Zeitgleich legt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ein Eckpunktepapier zu einer Pflegereform vor.

Im März 2021 folgt dann der Arbeitsentwurf des Bundesgesundheitsministeriums, aber danach ist Ruhe. Das Ziel steht von Beginn der Legislatur an fest. An oberster Stelle: Pflegekräfte sollen nach Tarif bezahlt, die Eigenanteile der Pflegebedürftigen begrenzt werden. Rund fünf Milliarden Euro fordert Spahn als Bundeszuschuss ab 2022 pro Jahr für die soziale Pflegeversicherung.

Von Gernot Kiefer, Vizevorstand des GKV-SV, ist auf der Verwaltungsratssitzung des GKV-SV Ende März zu hören, dass am 18. März zum Arbeitsentwurf ein Berichterstattergespräch der Koalition stattgefunden habe – allerdings ohne Ergebnis. Das Finanzministerium habe einen erheblichen Finanzierungsvorbehalt.

 

Abgespeckte Variante des Arbeitsentwurfes

Wieder passiert nichts bis Ende April. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil übermittelt Spahn per Brief eine gesetzliche Formulierungshilfe für ein „Pflege-Tariftreue-Gesetz“. Entlohnung nach Tarifvertrag oder Arbeitsvertragsrichtlinien des kirchlichen Bereichs als Voraussetzung für die Zulassung einer Pflegeeinrichtung ist sein Ziel. Wie es finanziert wird, zusätzliche Belastungen für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen begrenzt werden sollen: Das schreibt Heil nicht.

Spahn fühlt sich augenscheinlich vorgeführt und teilt umgehend aus. Ein Gesetzentwurf liege längst vor, sagt er gegenüber den Medien und verweist darauf, dass dafür auch die Eigenanteile begrenzt werden müssten. Heil macht weiter Druck. Spahn reagiert und legt eine abgespeckte Variante seines Arbeitsentwurfes vor.

Das BMG präsentiert Anfang Mai entsprechende Formulierungshilfen, eingebettet in das GVWG. Nicht enthalten in den Änderungsanträgen zum Bereich Pflege sind viele Themen, unter anderem das der Investitionskosten und der Leistungsdynamisierung. Auch die Beteiligung der PKV fehlt. Weitere Änderungen kommen, bis die kleine Pflegereform am 2. Juni vom Bundeskabinett als Entwurf beschlossen und den Koalitionsfraktionen weitergeleitet wird. Die Anhörung im Bundestags-Gesundheitsausschuss ist für den 7. Juni angesetzt – ein Montag.

 

Folgenlose Anhörung im Gesundheitsausschuss

Fachverbände, Sachverständige, Interessenvertretungen stehen den Mitgliedern des Gesundheitsausschusses eineinhalb Stunden Rede und Antwort. Und die Kritik fällt heftig aus: zu teuer, nicht nachhaltig, unausgegoren, zu Lasten der Pflegebedürftigen. Aufgenommen wird die Kritik in der am kommenden Tag vorliegenden beschlossenen Ausschussdrucksache jedoch mit keinem Wort. Nichts wurde geändert: keine Korrektur an den Eigenanteilen, kein Entgegenkommen bei der Entscheidung über einen zusätzlichen Bundeszuschuss für GKV oder Pflegeversicherung, kein Hinweis, was passiert, wenn Einrichtungen keinen Tarifvertrag oder ähnliches vorliegen, um weiter Menschen zu betreuen, kein Satz über notwendige Leistungsdynamisierung. Am Freitag ist die Pflegereform mit dem GVWG dann schon im Bundestag mit der 2./3. Lesung. Bundesgesundheitsminister Spahn ist voll des Lobes: Mit bloßen Ankündigungen komme man nicht weiter – konkrete Schritte seien notwendig für bessere Arbeitsbedingungen: bedarfsgerecht, generationsfest und nachhaltig.

 

Grüne: explosives Erbe

Auch die Regelung der Eigenanteile lässt er nicht aus mit neuer Stoßrichtung. Erstmalig werde ein System aufgesetzt, dass die Länge der Pflegebedürftigkeit berücksichtige. Gerade bei Demenz, wenn es um zwei, vier, sechs Jahre Pflegebedürftigkeit gehe, könnten viele Familien dies sich nicht mehr leisten. Das betont auch CDU-Politikerin Karin Maag noch einmal in ihrem Statement. Aus gutem Grund, wie die pflegepolitische Sprecherin der Grünen, Kordula Schulz-Asche, erläutert. Der fünfprozentige Leistungszuschlag im ersten Jahr werde verpuffen, denn gleichzeitig verzichte die Regierung auf die Dynamisierung der Leistungen. Im zweiten Jahr gebe es eine nennenswerte Entlastung, eine volle Entlastung komme erst im vierten Jahr. Mehr als die Hälfte der Pflegebedürftigen würden das jedoch nicht mehr erleben. „Sie hinterlassen der nächsten Bundesregierung ein explosives Erbe“, so ihre Kritik. Die Koalition stimmt dem GVWG zu, die Opposition lehnt ab. Der Schaden mit Blick auf die Pflegeversicherung ist noch nicht abzusehen.

 

Fortbestehen epidemischer Notlage

Die erstmals im März 2020 und letztmalig Anfang März 2021 vom Bundestag festgestellte „epidemische Notlage von nationaler Tragweite“ ermöglicht es dem BMG bzw. generell der Bundesregierung, weitreichende Verordnungen gegen die Pandemie zu erlassen. Die derzeitige Regelung läuft am 30. Juni aus, wenn sie nicht verlängert wird. Doch sie wird.

Bereits im Vorfeld verkündet CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus öffentlich: „Wir halten es für angemessen, diese Lage bis in den September hinein zu verlängern.“ Mit der SPD habe man sich bereits verständigt. Rund 20 Verordnungen würden von der festgestellten Notlage abhängen. Der Wunsch, diese Verordnungen zunächst beizubehalten, sei einer der Gründe für die geplante Verlängerung der Notlage, lässt Alexander Dobrindt verlauten.

 

Fragwürdige Begründung des Koalitionsantrages

Eine absurde Ausrede: Verordnungen kann die Bundesregierung auch ohne Notlage auf den Weg bringen. Was irritiert, ist die Kurzfristigkeit. Erst am vergangenen Mittwoch liegt der Antrag der Koalitionsfraktionen offiziell im Bundestag vor. Die Entscheidung darüber ist am Donnerstag geplant, wird dann jedoch um einen Tag verschoben. Warum bringen die Koalitionäre den Antrag so spät ein? Zeit für Diskussionen, Anhörungen bleibt nicht.

Dabei gehört das Thema doch eigentlich und längst ins „Parlamentarisches Begleitgremium Covid-19-Pandemie“, die sich unter anderem mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie beschäftigen soll. Eigentlich.

Auch der Gesundheitsausschuss im Bundestag hätte sich damit beschäftigen können – im Rahmen einer Anhörung. Schall und Rauch. Denn der Antrag soll nicht zu weiteren Ausschussberatungen überwiesen, sondern direkt nach der Debatte beschlossen werden.

Und die Begründung für den Antrag ist mehr als fragwürdig. Trotz sinkender Inzidenzen „besteht diese Gefahr immer noch fort und bildet weiterhin die Grundlage für die fortbestehende Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite.“ Verwiesen wird auf die WHO, die im Januar eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite deklarierte. Selbst, wenn das nicht greifen würde, wird unterstrichen, dass „eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland droht oder stattfindet.“ Wohlgemerkt: „droht“!

 

FDP und Grüne fordern Ausstieg: geordnet und verantwortungsvoll

Für die FDP nicht nachvollziehbar, die derzeit keinen Grund für die Beibehaltung sieht. „Sollten die Voraussetzungen für die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite wieder erfüllt sein, wird der Bundestag unverzüglich zusammentreten, um einen erneuten Feststellungsbeschluss zu fassen“, heißt es nachvollziehbar in ihrem Antrag. Die Bundesregierung sei dabei in der Pflicht, Lösungen anzubieten, ohne dabei pauschal auf die Verlängerung der pandemischen Lage von nationaler Tragweite zu verweisen. Sie dürfe sich hier nicht ihrer Verantwortung entziehen, „indem die epidemische Lage von nationaler Tragweite nur bestätigt wird, um rechtlich ungeklärte Konsequenzen des eigenen Handelns zu umgehen.“

Auch Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag: „Verantwortungsvoller Ausstieg aus dem Pandemie-Sonderrecht – Regelungsdurcheinander auflösen, Infektionsschutzrecht rechtsstaatlich und zukunftssicher novellieren.“ Bestimmte Regelungen seien weiterhin notwendig und sollten daher unabhängig vom Bestehen einer ernsthaften Gefahr für das Gesundheitswesen auf eine verfassungsrechtlich und gesetzlich solide Grundlage gestellt werden. Andere Regelungen könnten auslaufen, so ein Vorschlag der Grünen. Bis Anfang September sollte, so die Grünen, die Bundesregierung rechtzeitig dem Bundestag eine Evaluation mit einen Vorschlag für die entsprechenden gesetzgeberischen Anpassungen vorlegen.

 

Koalition verweist auf Länderrechte und Mutationen

Die Debatte am vergangenen Freitag im Bundestag bringt auch nicht mehr Licht ins Dunkel. Man wolle die epidemische Notlage verlängern, damit die Länder rechtliche Sicherheit für die Allgemeinordnungen, die sie treffen müssten, argumentiert CDU-Politiker Rudolf Henke. Und SPD-Politikerin Sabine Dittmar verweist mit Blick auf die Delta-Variante in Großbritannien, das Virus sei nicht verschwunden, es sei in Lauerstellung und versuche, mit Mutationen wieder Boden gut zu machen. Das Pendel könne jederzeit in die andere Richtung schwingen. Kein Redner der Koalition erwähnt die jetzt qua Epidemie-Notstand weiterhin bestehenden umfassenden und tiefgreifenden Verordnungsermächtigungen des Bundes.

Für Manuela Rottmann, Bündnis 90/Die Grünen, keine nachvollziehbaren Gründe für das Fortbestehen: Es fehle der Ausstiegsplan. Die Corona-Sonderrechte seien ein „heilloses Durcheinander“. Spahn entscheide allein – dies sei fahrlässig, kritisierte sie. Rottmann: „Räumen Sie endlich ihren regulatorischen Saustall auf!“ Nach einer sogenannten Debatte von sage und schreibe 40 Minuten wird die epidemische Notlage mit allen ihren Notstandsrechten bis 11. September 2021 verlängert mit den Stimmen der Koalition und denen der Grünen – wegen der Reiseregelungen, wie Grünen-Politikerin Rottmann sagt. Die Oppositions-Anträge werden von CDU/CSU und SPD abgelehnt.

 

Blick in das Infektionsschutzgesetz klärt auf

Der hastig in der Corona-Krise gezimmerte Schlüsselparagraph 5 des Infektionsschutzgesetzes („Epidemische Lage von nationaler Tragweite“) hat seinen Realitätscheck erkennbar nicht bestanden:

  • Die Definition der epidemischen Lage von nationaler Tragweite ist, wie auch diese Bundestagsdebatte gezeigt hat, beliebig interpretierbar („ …. oder eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland droht oder stattfindet“).
  • Die daran anknüpfende politisch-zentralistische Machtergreifung ist – wie jetzt ebenfalls gesehen – verfahrenstechnisch einfachst im Zusammenspiel von Bundesregierung und Regierungskoalition im Bundestag herzustellen („Der Deutsche Bundestag kann eine epidemische Lage von nationaler Tragweite feststellen …“),
  • direkt gekoppelt mit tiefgreifenden Verordnungsermächtigungen des Bundes („Das Bundesministerium für Gesundheit wird im Rahmen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite unbeschadet der Befugnisse der Länder ermächtigt … „).

Diese unheilvolle Mechanik muss schnellstmöglich demokratie- und verfassungskonform überarbeitet, die Macht der Exekutive wieder eingeschränkt werden.

Das diesem Rechtskonstrukt zugrunde liegende problematische Governance-Muster hat auch das Autorenteam um Matthias Schrappe, Matthias Gruhl und Franz Knieps treffend analysiert und dafür vor allem auch deutlich warnende Worte gefunden. In ihrer „2. Ad hoc-Stellungnahme“ mit dem Titel „Zentralisierte Willkür: Über den Entwurf eines 4. Bevölkerungsschutzgesetzes“ vom 14. April 2021 kommen sie u.a. zu dem Schluss: „Zentralisierung ist als politische Intervention weder durch Evidenz noch durch Überzeugung begründet. Die Pandemie sollte nicht der Ausgangspunkt für staatsorganisatorische Interventionen/Veränderungen sein. Der Gedanke an eine neue Notstandsverfassung im Gesundheitsbereich drängt sich auf.“

 

Was passiert in drei Monaten?

Bleibt die Frage: Was passiert denn in drei Monaten? CDU-Politiker Henke kündigt schon mal an, dass man sich damit dann im Bundestag noch einmal befassen werde. Ende offen. Fürwahr: Denn dann drohen Herbst und Winter mit all ihren Gefahren und möglicherweise auch „eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit“. Und zudem ist da noch Bundestagswahl.

Ein Ausweg aus dem epidemischen Notstandsstaat scheint nicht in Sicht. Bundesregierung, Koalitionsfraktionen und eine schwammige Definition im Infektionsschutzgesetz werden dafür sorgen.

 

Fina Geschonneck
Redaktionsleiterin Observer Gesundheit, Redakteurin Observer Datenbank

Prof. Dr. Andreas Lehr
Inhaber und Geschäftsführer Agentur für Gesundheitspolitische Information, Honorarprofessor WiSo-Fakultät, Universität Köln


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