Governance in den Wahlprogrammen

Warum der Erfolg der neuen Regierung von ihren Steuerungsansätzen abhängt

Dr. Florian Eckert

Bis zum 23. Februar dreht sich alles um die Wahlprogramme der Parteien. Ihre inhaltlichen Unterschiede prägen die Debatten – doch für den Erfolg der künftigen Regierung viel entscheidender ist die Governance. Denn Art und Weise, wie Politik gestaltet werden soll und damit die grundlegenden Steuerungsvorstellungen, entscheiden maßgeblich über Stabilität und Handlungsfähigkeit von Koalitionen.

Ein Blick in die Wahlprogramme zeigt, wo die eigentlichen Herausforderungen für neue Regierungsbündnisse ab Ende des Monats liegen werden.

 

1. Einleitung

Die Bundestagswahl 2025 kommt früher als geplant. Nur einmal – vor 20 Jahren – gab es eine noch kürzere Vorbereitungszeit. Und dennoch: Durch das Scheitern der Ampel-Koalition haben die Parteien über ein halbes Jahr verloren. Sie mussten ihre Wahlprogramme in wenigen Wochen erstellen und dabei klare Schwerpunkte setzen. Das ist ihnen gelungen, auch wenn sie dieses Mal kürzer ausfallen als bei den letzten vier Wahlen (Brettschneider/Thoms 2025). Mit durchschnittlich 20.000 Zeichen bleibt aber auch dieses Mal so noch genügend Platz für politische Ideen und die Abgrenzung von Mitbewerbern.

Doch die wenigsten Wähler werden sie vor ihrer Entscheidung komplett oder auch nur teilweise lesen. So dienen die Wahlprogramme vor allem der Einigung nach innen wie der politischen Kommunikation – als Ergebnis parteiinterner Diskussionen. Nach außen werden sie erst wichtig, wenn sich die Parteien in Koalitionsverhandlungen wiederfinden (Klüver/Beck 2019: 1998). Bis dahin wird noch etwa ein Monat vergehen. Und so bietet der laufende Wahlkampf die Chance, die verschiedenen Programme und ihre Ausrichtungen genauer zu verstehen.

Wer dabei jedoch nur die einzelnen Versprechen vergleicht, übersieht leicht die politischen Grundhaltungen und langfristigen Strategien zwischen den Zeilen. Um zu verstehen, wie die Parteien Politik gestalten wollen – ob über den Markt oder den Staat, zentral oder dezentral –, hilft ein Vergleich der Programme durch die Brille der Governance-Theorie. Diese zeigt, wie Parteien Probleme lösen und ihre politischen Ziele umsetzen wollen. So lassen sich Programme auch unabhängig von ihren konkreten Inhalten vergleichen.

Dabei konzentriert sich die folgende Analyse auf die Frage, wie die Parteien in den kommenden vier Jahren die Gesundheitswirtschaft steuern wollen. Gerade dieser Bereich verspricht Innovation und Wachstum, macht aber auch deutlich, wie schwierig es ist, Kostenkontrolle und Solidarität unter einen Hut zu bringen. Die Governance-Theorie hilft hier, aufzuzeigen, wie unterschiedlich die Parteien diese Herausforderung angehen: Setzen sie auf den Markt, den Staat oder gar auf Mischformen?

 

2. Governance-Ansätze in der Politikwissenschaft

Die Politikwissenschaft nutzt das Konzept der Governance als zentrales Analyse-Instrument, um politische Steuerung zu untersuchen. Anders als klassische Government-Ansätze, die sich hauptsächlich auf hierarchische Steuerung konzentrieren, erfasst die Governance-Perspektive das Zusammenspiel verschiedener Koordinationsformen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. Diese lassen sich in vier grundlegende Kategorien einteilen:

  • Hierarchische Steuerung durch staatliche Regulierung und Kontrolle (Scharpf 1997)
  • Marktliche Koordination über Wettbewerb und Anreizsysteme (Le Grand 2007)
  • Netzwerkbasierte Governance durch Kooperation und Verhandlung (Sørensen/Torfing 2007)
  • Gemeinschaftliche Selbstregulierung durch zivilgesellschaftliche Akteure (Pierre/Peters 2000)

Die besondere Stärke des Governance-Konzepts liegt in seinem mehrdimensionalen Blick auf politische Steuerungsprozesse. Dabei sind drei Dimensionen besonders relevant:

  • Die Strukturdimension betrachtet institutionelle Arrangements wie die Struktur der Akteure (Rhodes 1996). Kernfragen sind: Werden Entscheidungen zentral oder dezentral getroffen? Wie sind die Hierarchieebenen vertikal und horizontal gestaltet? Welche Akteure werden in Entscheidungsprozesse eingebunden, welche nicht?
  • Die Prozessdimension fokussiert auf konkrete Steuerungsmodi und Koordinationsmechanismen. Sie unterscheidet zwischen regulativen Ansätzen (Ge- und Verbote), Anreizmechanismen (Belohnungen) und kooperativen Formen (Verhandlung und Dialog). Die Wahl des jeweiligen Steuerungsmodus beeinflusst maßgeblich die Effektivität und Akzeptanz politischer Maßnahmen.
  • Die Legitimationsdimension untersucht schließlich die Begründungsmuster unterschiedlicher Governance-Formen. Hier zeigen sich drei dominierende Muster: technokratische Legitimation durch Expertise, demokratische Legitimation durch Partizipation und ökonomische Legitimation durch Effizienzargumente. Diese Muster prägen die Akzeptanz und Durchsetzbarkeit politischer Steuerung.

Für die Analyse der Wahlprogramme bietet dieser theoretische Rahmen besonders ergiebige Perspektiven – gerade, wenn sich ein Sektor wie die Gesundheitswirtschaft aus verschiedenen Politikfeldern zusammensetzt. Denn als übergeordneter Handlungsrahmen entsteht dieser erst im Zusammenspiel von Wirtschafts-, Steuer-, Bürokratie-, Forschungs- und eben Gesundheitspolitik

 

3. Analyse der Wahlprogramme

Die folgende Analyse fokussiert auf die Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2025 jener Parteien, die laut aktuellen Umfragen (Insa 2025) in Summe 95 Prozent der Wählerzustimmung auf sich vereinen und damit das politische Spektrum in Deutschland weitgehend abbilden: CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis90/Die Grünen, AfD, Linke und BSW. Die angeführten Seiten- und Zeilenangaben beziehen sich jeweils auf die entsprechenden Wahlprogramme.

Vorweg lässt sich festhalten: Trotz unterschiedlicher ideeller Grundsätze und inhaltlicher Leitlinien finden sich überraschende Übereinstimmungen in den Governance-Ansätzen der Parteien. Besonders bei Steuerungsmechanismen und präferierten Regelungssystemen zeigen sich unerwartete Konvergenzen.

 

CDU/CSU: marktorientierte Deregulierung und strategische Staatskoordinierung

In ihrem Wahlprogramm „Politikwechsel für Deutschland“ verfolgen CDU und CSU einen marktorientierten und deregulierten Governance-Ansatz mit liberaler Steuerungslogik. Dies manifestiert sich besonders in den Forderungen nach Steuersenkungen, Bürokratieabbau und der Stärkung wirtschaftlicher Resilienz.

Die Unionsparteien setzen sich für eine „wettbewerbsfähige Unternehmensbesteuerung“ ein und fordern konkret eine Senkung auf „maximal 25 Prozent auf einbehaltene Gewinne“ (S. 14). Dieser Ansatz entspricht einer marktliberalen Governance, da er staatliche Eingriffe minimiert und Unternehmen größere Entscheidungsspielräume einräumt.

Im Bereich des Bürokratieabbaus propagiert die Union eine „Kultur des Machens und nicht der Fehlervermeidung“ (ebenda). Die Forderung nach „Jahresgesetzen zum Bürokratieabbau“ und einem „Gesetz gegen Draufsatteln“ (S. 15) zielt darauf ab, nationale Vorschriften zu reduzieren, die über EU-Regulierungen hinausgehen. Diese Strategie folgt einer marktfreundlichen Regulierungslogik zur Entlastung der Unternehmen.

Gleichzeitig betont das Wahlprogramm die Bedeutung staatlicher Schutzmechanismen zur Stärkung der wirtschaftlichen Resilienz. Die Union will „Befugnisse des Bundeskartellamts zum Markteingriff wieder an einen Rechtsverstoß“ knüpfen – für sie das „Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft“ – und damit den „Schutz von Erzeugern und Lieferanten vor unlauteren Handelspraktiken“ (S. 17) sicherstellen. Diese programmatischen Ansätze verdeutlichen eine ordnungspolitische Komponente, bei der der Staat als Schutzgarant im Wettbewerb agiert.

Die Forderung nach einer „Bündelung der Forschungsförderung des Bundes“ (S. 25) verweist auf einen zentralisierten, strategischen Steuerungsansatz. Der Staat soll hier als Koordinator und Förderer technologischer Entwicklungen auftreten. Die Betonung einer „Forschung aus einem Guss“ und der Abbau von „Doppelstrukturen und mehrfachen Federführungen in der Regierung“ (ebenda) unterstreichen das Ziel einer effizienzorientierten Verwaltungsmodernisierung. Parallel zur FDP strebt auch die CDU/CSU die Gründung eines Digitalministeriums an (S. 28). Diese institutionelle Verankerung der digitalen Transformation in staatlichen Entscheidungsprozessen kennzeichnet einen langfristig orientierten Governance-Ansatz.

Im Gesundheitssektor verfolgt die Union eine strategische und marktfreundliche Governance, die staatliche Steuerung, marktwirtschaftliche Anreize und Digitalisierung kombiniert. Zentral ist das Ziel, den Pharma- und Gesundheitsstandort Deutschland durch verbesserte Wettbewerbsbedingungen und innovationsfreundliche Rahmenbedingungen zu stärken. Die Forderung, die „Pharma- und Gesundheitswirtschaft zu einer echten Leitökonomie“ (S. 68) zu entwickeln, offenbart einen industriepolitischen Steuerungsansatz.

Die Union fordert einen „regelmäßigen Dialog mit Herstellern, dem Großhandel und allen weiteren Akteuren“ (ebenda). Dies zeigt eine partnerschaftliche Steuerungsform, bei der Staat und Privatwirtschaft gemeinsam Rahmenbedingungen entwickeln, statt durch direkte Eingriffe zu regulieren – ein typisches Merkmal kooperativer Governance.

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens wird als Schlüssel zur Effizienzsteigerung und verbesserten Versorgung betrachtet. Die CDU/CSU setzt dabei auf eine technokratische Governance mit datenbasierten Lösungen und Technologieeinsatz. Ihre Forderung nach einer „freiwilligen Weitergabe persönlicher Gesundheitsdaten für klinische Studienzwecke“ (S. 69) spiegelt eine datengetriebene Governance-Strategie wider. Der Datenschutz soll dabei nicht als reine Restriktion wirken, sondern als steuerbares Element Innovationen unterstützen.

Fazit zur CDU/CSU: Die Union kombiniert marktorientierte Deregulierung mit strategischer staatlicher Steuerung. Während Steuer- und Bürokratieabbau eine marktfreundliche Politik begünstigen, zeigen sich in den Bereichen Forschung, Digitalisierung und Gesundheitswesen gezielte staatliche Koordinationsmechanismen zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland im globalen Wettbewerb.

 

SPD: interventionistische Wirtschaftssteuerung und solidarische Sozialpolitik

Mit ihrem „Regierungsprogramm“ unter dem Titel „Mehr für Dich. Besser für Deutschland“ verfolgt die SPD einen staatlich-koordinierenden Governance-Ansatz mit interventionistischer Steuerungslogik. Der Fokus liegt auf öffentlichen Investitionen, strategischer Industriepolitik und europäischer Integration (Mayntz 2003).

Die SPD plant einen „Deutschlandfonds“ zur „Mobilisierung öffentlichen und privaten Kapitals für wichtige Investitionsbedarfe“ (S. 8), beispielsweise in Strom- und Wassernetze, E-Ladesäulen oder den Wohnungsbau. Mit einem Startkapital von 100 Milliarden Euro verbindet dieser Fonds staatliche Lenkung mit privatwirtschaftlicher Beteiligung durch Public-Private-Partnerships – ein charakteristischer hybrider Steuerungsansatz.

Neben dem „Deutschlandfonds“ sieht das Programm einen „Made in Germany-Bonus“ vor, der als „Investitionsprämie statt bürokratischer Förderprogramme“ konzipiert ist. Jede betriebliche Investition in Maschinen und Geräte soll mit 10 Prozent der Anschaffungssumme über eine direkte Steuererstattung gefördert werden (S. 8). Diese wirtschaftspolitische Governance kombiniert marktorientierte Ansätze mit staatlichen Anreizen zur Förderung inländischer Investitionen. Statt klassischer Förderprogramme setzt man auf steuerliche Anreize – eine marktkorrigierende Governance ohne direkte Markteingriffe.

In der Forschungsförderung betont die SPD die „Stärkung der Grundlagenforschung in Schlüsselindustrien und GreenTech“ durch „vereinfachte Zugänge zu Fördermitteln“ und „weniger überflüssige Bürokratie bei Forschungsprogrammen“ (S. 10). Dies verdeutlicht einen gezielt lenkenden Ansatz in der Innovationsförderung.

Zur Stärkung der wirtschaftlichen Resilienz setzt die Partei auf staatliche Sicherungsmechanismen. Ein geplanter „Rohstofffonds“ soll eine „koordinierte Rohstoffstrategie der EU“ (S. 11) umsetzen – der Staat agiert hier als strategischer Akteur zur Sicherung wirtschaftlicher Unabhängigkeit.

Im Gesundheitssektor verfolgt die SPD eine interventionistisch geprägte Governance, die staatliche Regulierung, solidarische Finanzierung und digitale Modernisierung verbindet. Kernstück ist die Überwindung der dualen Krankenversicherung durch eine Bürgerversicherung (S. 28). Die Forderung nach einem „schnellen Zugang zu einer hochwertigen Versorgung unabhängig von Einkommen und Wohnort“ (ebenda) unterstreicht diesen egalisierenden Steuerungsansatz.

Parallel dazu zeigt sich ein technokratischer Governance-Ansatz in der Digitalisierung des Gesundheitswesens. „Elektronische Patientenakte“ und „KI-Medizin“ (S. 30) werden als zentrale Instrumente zur Effizienzsteigerung betrachtet – eine modernisierende Steuerungsform zur Verbesserung von Versorgungsqualität und Effizienz.

Bei der Arzneimittelversorgung verweist die SPD – nach vier Jahren SPD-geführtem Bundesgesundheitsministerium – auf bereits greifende Verbesserungen. Zur Sicherung dieser Entwicklung fordert die Partei „eine stärkere Produktion von Arzneimitteln in Deutschland und Europa“. Dies soll unter anderem erreicht werden, indem „Krankenkassen zusammen mit anderen nationalen und europäischen Akteuren größere Mengen an Therapien über längere Zeiträume einkaufen dürfen, wenn diese bei uns hergestellt werden“ (S. 30). Diese Governance-Strategie verbindet staatliche Marktregulierung mit industriepolitischen Maßnahmen. Gleichzeitig wird ein dezentrales Versorgungsmodell gestärkt: Apotheken vor Ort sollen als zentrale Gesundheitsakteure gefördert und personalisierte Therapien durch gezielte Forschungsförderung zu „erschwinglichen Preisen“ (ebenda) vorangetrieben werden – wobei konkrete Preismodelle unerwähnt bleiben.

Fazit zur SPD: Die Sozialdemokraten kombinieren eine interventionistische Wirtschaftssteuerung mit strategischer Industriepolitik und sozialer Absicherung. Während der Deutschlandfonds und die Innovationsförderung eine aktive staatliche Investitionspolitik demonstrieren, zeigen sich in der Gesundheits- und Sozialpolitik egalisierend-solidarische Steuerungsmechanismen zur Neupositionierung des Sozialstaats in einer globalisierten Wirtschaft.

 

FDP: marktorientierte Deregulierung und innovationsgetriebene Effizienz

Unter dem Motto „Alles lässt sich ändern“ präsentieren die Liberalen einen integrativen Governance-Ansatz, der marktorientierte, innovationsfördernde und sozialstaatlich transformierende Elemente verbindet. Der Fokus liegt auf systematischem Bürokratieabbau, der Förderung von Eigeninitiative und der Optimierung von Marktbedingungen.

Diese programmatische Ausrichtung entspricht dem ordoliberalen Theorieansatz: ein stabiler Ordnungsrahmen für effiziente Märkte bei minimaler staatlicher Intervention. Besonders deutlich wird dies in der Forderung nach einem Bürokratie-Moratorium und einem „bürokratiefreien Jahr“ zur Beendigung des „Bürokratie-Burnouts“ (S. 11). Die Grundthese: Bürokratische Strukturen hemmen Innovationskraft und wirtschaftliche Entwicklung substanziell. Die angestrebte Deregulierung europäischer Vorgaben („Noch wichtiger ist, dass bürokratische EU-Rechtsakte in Brüssel abgeschafft werden“; S. 12) unterstreicht diese ordoliberale Orientierung.

Im Datenschutz setzt die FDP auf Harmonisierung durch Bürokratieabbau. Sie fordert eine einheitliche Datenschutzaufsicht (S. 12) zur Vermeidung unterschiedlicher Auslegungen durch die 17 deutschen Aufsichtsbehörden. Dies zeigt einen zentralisierten Ansatz mit gebündelten Entscheidungsbefugnissen, kombiniert mit einem kooperativen Föderalismus für gemeinsame Bund-Länder-Beschlüsse. Die vorgeschlagenen Reformen zielen auf effizientere Strukturen und weniger Rechtsunsicherheit für Unternehmen. Dazu passt die Forderung nach einem Digitalministerium auf Bundesebene (S. 36).

In der Forschungspolitik verfolgt die FDP eine wissenschaftsfreundliche und innovationsorientierte Governance zur Stärkung von Forschungsfreiheit und Wettbewerbsfähigkeit. Durch Public-Private-Partnerships, steuerliche Anreize und technologieoffene Gesetzgebung soll der Wissenstransfer erleichtert werden (S. 9). Die Partei fordert die zügige Gründung einer „Deutschen Agentur für Transfer und Innovation“, den Abbau rechtlicher Hürden bei Fusionsforschung, Gentechnologie und Stammzellenforschung sowie verstärkte Förderung medizinischer Forschung zu neurodegenerativen Erkrankungen und Gerontologie (S. 9ff.).

Die gesundheitspolitische Governance-Strategie der FDP priorisiert konsequent Marktorientierung, Innovation und Effizienz. Zentrale Steuerungselemente sind umfassender Bürokratieabbau und Digitalisierung. Als einzige Partei zeigt sich die FDP offen für Leistungskürzungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung: „Leistungen, die sich nicht bewährt haben, sollen aus dem GKV-Leistungskatalog gestrichen werden.“ Die Begründung: Die Ausgabenentwicklung sei ungebremst, dürfe aber die Einnahmen nicht übersteigen. Diese restriktive budgetäre Governance zielt auf strikte Finanz- und Leistungssteuerung des Sozialversicherungssystems. Dafür sollen „alle Leistungsausweitungen der letzten zehn Jahre einem Evidenz-, Effizienz- und Wirtschaftlichkeitscheck“ unterzogen werden (S. 32).

Bei der Finanzierung des Gesundheitssystems spricht sich die FDP nachdrücklich für das duale Versicherungssystem aus und lehnt damit indirekt eine Bürgerversicherung ab (ebenda). Ihre programmatische Betonung der Therapiefreiheit und der Autonomie der Freien Berufe spiegelt die grundsätzliche Präferenz für dezentrale Entscheidungsstrukturen im Gesundheitssystem wider (ebenda).

Fazit zur FDP: Die FDP verfolgt eine dezidiert marktorientierte, deregulierte und innovationsfreundliche Governance. Durch Bürokratieabbau, institutionelle Reformen und privatwirtschaftliche Anreize sollen in den Bereichen Wirtschaft, Digitalisierung, Gesundheit und Forschung gezielt Wettbewerb, Effizienz und technologische Entwicklung gestärkt werden.

 

Bündnis 90/Die Grünen: regulative Marktsteuerung und technokratische Transformation

Das „Regierungsprogramm“ der Grünen unter dem Titel „Zusammen Wachsen“ präsentiert Forderungen für eine sozial-ökologische Transformation. Die Vorschläge folgen einem regulativ-transformativen Governance-Ansatz mit technokratischer Steuerungslogik, basierend auf staatlich gesteuerten Marktmechanismen, europäischer Integration und nachhaltigkeitsorientierter Industriepolitik.

Die Partei betont die Bedeutung von Planungssicherheit und klaren Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Neben „dauerhaft günstiger Energie“ streben sie eine Erhöhung privater und öffentlicher Investitionen in Innovation und Infrastruktur an. Staatliche Verfahren und Prozesse sollen „vereinfacht, digitalisiert und beschleunigt“ werden (S. 10). Dies entspricht einem regulativen Ansatz, der den Staat als aktiven Marktgestalter positioniert.

Die Klimapolitik wird durch industriepolitische Steuerungsinstrumente wie den „Green Deal“ als wirtschaftliche Modernisierungsstrategie untermauert (S. 20). Diese weitgehend interventionistische Governance zielt darauf ab, den Klimaschutz als wirtschaftlichen Wettbewerbsfaktor zu institutionalisieren und europäische Regularien als Steuerungsmechanismus zu nutzen.

Im Bereich der Digitalisierung verfolgen die Grünen eine technokratische Governance, verbunden mit Verwaltungsvereinfachung und Entbürokratisierung von Unternehmen. Sie fordern die Bündelung öffentlicher Dienstleistungen für Unternehmen „an einer Stelle“ sowie die Vereinfachung und Reduzierung von Notarpflichten (S. 10). Dies folgt der New Public Management-Logik (Pollitt/Bouckaert, 2011) mit Fokus auf Effizienzsteigerung durch Automatisierung. Der Vorschlag einer europäischen Digitalunion (S. 12) unterstreicht den europäisch-koordinierenden Steuerungsansatz.

Gleichzeitig betonen die Grünen interventionistische Instrumente zur wirtschaftlichen Transformation. Sie fordern eine „Modernisierung der Schuldenbremse“ (S. 11) und einen „Deutschlandfonds“ für öffentliche Infrastrukturprojekte (S. 19). „Mit dem Deutschlandfonds werden wir in Bund, Ländern und Kommunen die notwendigen Mittel für die Investitionen in diese Zukunft mobilisieren“ (S. 7). Anders als bei der SPD wird hier keine explizite private Finanzierung betont. Vielmehr erscheint der Fonds als Instrument einer Multi-Level-Governance, bei dem Bund, Länder und Kommunen Investitionen in Innovation und Infrastruktur gemeinsam koordinieren. Dieser Ansatz verbindet zentrale Zielvorgaben mit dezentraler Umsetzung.

Die Forderung nach „missions- und anwendungsorientierter“ Forschung (S. 13) und der Schaffung einer „Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI)“ als neues Ökosystem für Innovationen (ebenda) verstärkt den staatlich-koordinierten Steuerungsansatz. Die Förderung einer neuen Gründungskultur durch verbesserte Finanzierungsangebote und Rahmenbedingungen für Start-ups (ebenda) deutet auf eine förderbasierte Marktsteuerung hin.

In der Handelspolitik zeigen sich protektionistisch-regulative Tendenzen: Die Grünen befürworten „Ausgleichszölle“ durch die EU-Kommission gegenüber China und die Schließung von „Schlupflöchern“ im Zollrecht (S. 16). Gleichzeitig streben sie eine „unbürokratische“ Umsetzung der Lieferkettenrichtlinie in deutsches Recht an (ebenda) – ein Ansatz sozial-ökologischer Handelsgovernance.

Im Gesundheitssektor setzen die Grünen auf eine regional-vernetzte Steuerungsform. Sie fordern eine Stärkung der „Primärversorgung insbesondere durch Hausärzt*innen“ (S. 40), die Schaffung von Gesundheitsregionen und gemeinsamen Versorgungszentren (ebenda). Diese koordiniert-integrierte Steuerung folgt dem Netzwerk-Ansatz der Governance: Durch Vernetzung regionaler Strukturen sollen Effizienzsteigerungen erreicht werden.

Parallel verfolgen die Grünen einen technokratischen Governance-Ansatz mit Fokus auf Künstliche Intelligenz und verbesserter Datennutzung für Forschung und Versorgung (ebenda). Dies deutet auf eine automatisierte Steuerungsform hin, die digitale Technologien zur Optimierung von Verwaltungsprozessen einsetzt.

Die geforderte Bevorratung von Arzneimitteln und Medizinprodukten für „Epidemien, große Katastrophen und militärische Bedrohungen“ (S. 42) entspricht einer versorgungsorientierten Governance, bei der die öffentliche Hand zentrale Maßnahmen zur Steuerung und Stabilisierung des Gesundheitssektors übernimmt.

Fazit zu den Grünen: Die Grünen kombinieren regulative Marktsteuerung mit europäischer Integration und technokratischer Verwaltungsmodernisierung. Während staatliche Investitionen und regulatorische Rahmen eine transformative Politik begünstigen, zeigen sich in Forschung, Digitalisierung und Gesundheitswesen koordinierte Steuerungsmechanismen. Diese sollen eine sozial-ökologische Transformation durch gezielte staatliche Intervention vorantreiben.

 

AfD: Wirtschaftsnationalismus und marktliberale Souveränität

Das Programm der AfD markiert eine fundamentale Neuausrichtung der Governance auf Bundesebene mit dezidiert nationalstaatlicher und marktliberaler Orientierung. Die Partei verbindet wirtschaftsnationalistische, marktzentrierte und teils ordoliberale Elemente, primär ausgerichtet auf die Rückführung supranationaler Entscheidungsbefugnisse an den Nationalstaat bei gleichzeitiger systematischer Reduzierung staatlicher Markteingriffe.

Diese programmatische Ausrichtung entspricht einer Kombination aus wirtschaftsnationalistischer und klassisch-liberaler Theorie. Besonders deutlich wird dies in der Kritik an der „illegitimen Dauerrettungspolitik“ (S. 34) der Eurozone und der Forderung nach einem Euro-Austritt: „Durch nationale Währungen erlangt jeder Staat seine Souveränität über die Wirtschafts- und Währungspolitik zurück“ (ebenda).

Die Kritik an der Europäischen Zentralbank (EZB) richtet sich gegen deren „planwirtschaftliche Makrosteuerung“ durch „Manipulation der Anleihemärkte“, die zu „Geldgeschenken an notleidende Staaten über gemeinschaftlich behaftete EU-Schulden“ führten. Die Partei fordert die Beendigung dieser staatlichen Interventionen: „Alle Maßnahmen der EZB zur Manipulation des freien Kapitalmarkts“ müssten eingestellt werden (S. 35). Dies verdeutlicht im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik eine stark marktzentrierte Governance-Logik mit nationalem Fokus.

In der Steuerpolitik vertritt die AfD marktliberale Positionen. Das deutsche Steuerrecht sei zu komplex und schrecke Unternehmen ab. Als Lösung fordert sie eine Vereinfachung des Einkommensteuertarifs und niedrigere Steuersätze (S. 31). Die Partei betont die Notwendigkeit von „weniger Bürokratie, mehr Eigenverantwortung und einem effizienteren Einsatz öffentlicher Mittel“ (S. 30). Diese Argumentation folgt der New Public Management-Logik mit Fokus auf Verwaltungsentlastung, Deregulierung und Effizienzsteigerung durch Bürokratieabbau.

Die handelspolitische Governance der AfD zeigt einen pragmatisch-nationalistischen Ansatz. Sie befürwortet eine „maßvolle Rückführung globaler Verflechtungen in dezentrale, regional fokussierte Wertschöpfungsstrukturen“, lehnt aber „ideologisch motivierte Alleingänge wie das Lieferkettengesetz“ ab (S. 50). Diese Position spiegelt eine selektive Handelsgovernance wider, die nationale Wirtschaftsinteressen priorisiert.

In der Digitalpolitik verbindet die AfD technologische Offenheit mit digital-souveränistischen Elementen. Die Partei begrüßt, dass Digitalisierung „Regelaufgaben übernimmt und den Informationsaustausch demokratisiert“ (S. 18), fordert aber gleichzeitig eine „Bundestrategie für digitale Souveränität“ (S. 19) durch Open-Source-Techniken und dezentrale Systeme.

Die Forschungspolitik folgt einer freiheitlich-liberalen Wissenschaftsgovernance mit selektiven staatlichen Eingriffen. Die Partei fordert eine „Entpolitisierung der Forschungslandschaft“ (S. 81) – konkret bei Max-Planck- und Fraunhofer-Instituten –, während sie gleichzeitig direkte staatliche Investitionen in „strategische Unabhängigkeit“ befürwortet (S. 82).

Im Gesundheitssektor befürwortet die AfD eine dezentralisierte Governance mit strategischen staatlichen Eingriffen. Sie kritisiert das bestehende Fallpauschalensystem als bürokratisch und fordert die „vollständige Abschaffung der Fallpauschalen und mittelfristig die Rückkehr zu individuellen Budgetvereinbarungen zwischen den Krankenhäusern und den Spitzenverbänden der GKV auf Landesebene“ (S. 26). Weitere Privatisierungen von Akutkrankenhäusern werden abgelehnt.

Bei der Arzneimittelversorgung schlägt die AfD – wie andere Parteien auch – eine „Rückverlagerung der pharmazeutischen Produktion nach Deutschland und sichere Herkunftsländer“ vor (S. 27). Dies entspricht einer wirtschaftsnationalistischen Gesundheitsgovernance mit Fokus auf strategischer Versorgungssicherheit.

Im Bereich der Digitalisierung des Gesundheitswesens zeigt sich eine charakteristische Position: Die AfD lehnt „die Schaffung einer zentralen Datenbank mit der Anbindung von Kliniken, Praxen, Psychotherapeuten und Apotheken zur Speicherung vertraulicher Patientendaten (Telematik-Infrastruktur – TI)“ ab (S. 28). Stattdessen fordert sie die Speicherung eines „Notfalldatensatzes auf der Krankenversicherungskarte einschließlich eines Medikamentenplans und einer Patientenverfügung“ (ebenda). Dies verdeutlicht eine datensouveräne Gesundheitsgovernance, die zentrale Strukturen ablehnt, aber gezielte digitale Lösungen für individuelle Gesundheitsinformationen befürwortet.

Die Partei fordert zudem eine Reduzierung bürokratischer Auflagen und sieht die aktuelle Regulierungsintensität als Ausdruck eines „übergriffigen Staatswesens“. Ihre Lösung lautet „Deregulierung, Selbstverwaltung und Eigenverantwortung“ (S. 29).

Fazit zur AfD: Die Partei verfolgt eine Governance-Strategie, die wirtschaftsnationalistische und marktliberale Elemente mit dem Fokus auf Rückführung supranationaler Kompetenzen an den Nationalstaat verbindet. Diese Position wird durch selektive staatliche Eingriffe in strategischen Bereichen wie Gesundheitsversorgung und Technologieentwicklung ergänzt, die der Stärkung nationaler Souveränität dienen sollen.

 

Die Linke: interventionistische Steuerung und demokratische Wirtschaftslenkung

Mit ihrem Wahlprogramm „Du verdienst mehr“ präsentiert die Linke einen interventionistischen, sozialstaatlichen und transformativ-planwirtschaftlichen Governance-Ansatz, der eine fundamentale Neuausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik anstrebt. Die Programmatik setzt auf aktive staatliche Steuerung in allen Politikbereichen und die systematische Zurückdrängung marktorientierter Mechanismen zugunsten demokratischer Wirtschaftsstrukturen.

Die finanzpolitische Governance manifestiert sich in der Forderung nach Abschaffung der Schuldenbremse und ihrer Ersetzung durch die „Goldene Regel“, wonach Investitionen über Kredite finanziert werden sollen (Zeile 501 ff.). Die Partei argumentiert: „Der Staat muss genauso in die Zukunft investieren können wie ein Privatunternehmen“ (Zeile 503 ff.). Dies entspricht einer interventionistischen Governance, die den Staat als aktiven Gestalter einer neu ausgerichteten Investitionspolitik jenseits fiskalischer Disziplin positioniert.

Die geplante Übergewinnsteuer von 90 Prozent (Zeile 177 ff.) und die Quellenbesteuerung internationaler Unternehmen (Zeile 433 ff.) verdeutlichen eine dezidiert anti-neoliberale Steuerstrategie. Die Ablehnung von Steuersenkungen basiert auf der These, dass wettbewerbsfähige Volkswirtschaften nicht durch niedrige Steuern, sondern durch Infrastruktur, Bildung und soziale Stabilität entstehen (Zeile 1224 ff.).

Im Bereich der Wirtschaftssteuerung strebt die Linke eine Transformation der Produktionsweise an (Zeile 1234 ff.), geprägt durch direkte staatliche Intervention. Zentral ist dabei die Einführung einer Preis-Behörde, die dem Bundeswirtschaftsministerium direkt unterstellt sein soll und mit weitreichenden Kontrollbefugnissen in systemrelevanten Branchen ausgestattet ist (Zeile 172 ff.). Dies zeigt eine dirigistische Marktsteuerung mit staatlicher Kontrolle der Preisbildungsmechanismen. Ein sozial-ökologisches Investitionsprogramm mit einem 200-Milliarden-Euro-Fonds für den Industrieumbau (Zeile 1294 ff.) unterstreicht die Präferenz für direkte staatliche Wirtschaftslenkung.

Der Mitbestimmung kommt im Programm besondere Bedeutung zu. Unter dem Ziel „Mehr Wirtschaftsdemokratie“ (Zeile 1347 ff.) fordert die Linke: „Die Belegschaften müssen bei Entscheidungen über Standortverlagerungen, -schließungen und -auslagerungen, bei Massenentlassungen und bei Entscheidungen über Zukunftsinvestitionen mitbestimmen und ein Vetorecht erhalten.“ Dies verkörpert einen demokratischen Governance-Ansatz mit partizipativer Mitbestimmung, der Arbeitnehmerinteressen institutionell in strategische Entscheidungen einbindet.

Die Forschungs- und Digitalpolitik folgt ebenfalls einer interventionistischen Logik. Die Partei fordert die Abschaffung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (Zeile 2404 ff.) und lehnt die Drittmittelabhängigkeit zugunsten staatlicher Grundfinanzierung ab (Zeile 2415 ff.) – ein Beispiel zentralisierter Forschungssteuerung. In der Digitalpolitik wird die „Zerschlagung der Monopole“ (Zeile 2702) und die Ablehnung von „Daten als verkäuflichem Eigentum“ (Zeile 2704) gefordert, was eine kartellrechtlich dominante Governance-Strategie aufzeigt.

Auch im Gesundheitssektor verfolgt die Linke eine interventionistische und gemeinwohlorientierte Governance, die marktwirtschaftliche Mechanismen systematisch zurückdrängt. Die Kritik an „Fantasiepreisen“ und „Milliardenprofiten“ der Pharmakonzerne (Zeile 818) begründet die Forderung nach einer EU-weiten einheitlichen Preisfestlegung für Medikamente (Zeile 820 ff.). Der Governance-Ansatz manifestiert sich besonders in der Forderung nach „öffentlicher Kontrolle über die Arzneimittelforschung“ (ebenda) und der geforderten lizenzfreien Nachproduktion steuerfinanzierter Forschungsergebnisse (Zeile 1070 ff.).

Fazit zur Linken: Die Partei verfolgt eine dezidiert interventionistische Governance-Strategie, die durch staatliche Steuerungsinstrumente, demokratisierte Wirtschaftsstrukturen und gemeinwohlorientierte Regulierungsmechanismen eine systematische Transformation marktwirtschaftlicher Ordnungsprinzipien anstrebt. Diese transformative Governance zeigt sich besonders in der Digital- und Gesundheitspolitik, wo eine Überführung privatwirtschaftlicher in öffentlich-rechtliche und genossenschaftliche Strukturen als zentrales Steuerungsziel formuliert wird.

 

BSW: staatsgelenkte Industriepolitik und demokratische Marktregulierung

Unter dem Titel „Unser Land verdient mehr!“ präsentiert das BSW ein Wahlprogramm, dessen wirtschafts- und gesellschaftspolitische Vorschläge einer stark staatlich gelenkten, industriepolitischen und marktkorrigierenden Governance folgen. Der Staat wird als aktiver Steuerungsakteur in zentralen Wirtschaftsbereichen positioniert. Das BSW verfolgt dabei eine wirtschaftsdemokratische und sozial- sowie innovationsorientierte Steuerung, in der der Staat nicht nur als Regulator, sondern auch als direkter Investor, Innovationsmotor und Wettbewerbswächter agiert.

Ein zentraler Aspekt im Programm ist die industriepolitische Steuerung, die explizit darauf abzielt, Produktionskapazitäten und Innovationskraft im Inland zu sichern. Das BSW fordert eine „aktive Industriepolitik, wie sie in nahezu allen erfolgreichen Industrieländern praktiziert wird“ (S. 13) – ohne diese Staaten konkret zu benennen. Die Partei plant eine Erhöhung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf mindestens vier Prozent des BIP bis 2030 (ebenda).

Besonders deutlich wird die staatsorientierte Governance im Ziel, „große Unternehmen in Schlüsselbranchen, die staatliche Unterstützung erhalten, in innovationsfreundliche Stiftungsunternehmen umzuwandeln“ (S. 14). Die Begründung: „Sie reinvestieren den größten Teil ihrer Gewinne, können dank hohen Eigenkapitals auch Krisen besser bewältigen und sind innovativer“. Zudem „besteht nicht die Gefahr, dass das Geld an die Aktionäre weitergereicht wird“ (ebenda). Diese Unternehmen sollen, wie die Wirtschaft insgesamt, „für eine stärkere Mitbestimmung der Beschäftigten geöffnet werden“ (S. 10) – auch bei strategischen Unternehmensentscheidungen (S. 21). Dies entspricht dem demokratischen Governance-Ansatz, wie er sich auch im Wahlprogramm der Linken findet.

In der Wettbewerbspolitik setzt das BSW auf stärkere Regulierung marktbeherrschender Unternehmen durch eine „wirksame Fusionskontrolle“ (S. 15). Die Begründung: Es reiche nicht, nur den Missbrauch von Marktmacht zu verhindern, sondern die Marktmacht selbst müsse begrenzt werden. Dies zeigt eine interventionistische Wettbewerbsschutz-Governance. Die Finanzpolitik folgt einer Umverteilungslogik mit der Reaktivierung der Vermögenssteuer ab 25 Millionen Euro und progressiven Steuersätzen bis zu drei Prozent für Milliardäre (S. 17). Diese Finanzpolitik entspricht einem redistributiven Governance-Ansatz, der staatliche Umverteilungsmechanismen und progressive Besteuerung als zentrale Instrumente zur Förderung sozialer Gerechtigkeit einsetzt.

Der Bürokratieabbau wird als wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliche Dynamik gesehen. Im Vergleich zur staatlich gelenkten Governance ist Forderung nach einem „nationalen Tag der Entrümpelung“ (S. 19) interessant. Er soll zweimal jährlich stattfinden, damit Mitarbeiter in Behörden kritisch überprüfen, “welche Regeln und Richtlinien nicht mehr gebraucht werden und wie Verfahren und Prozesse vereinfacht und beschleunigt werden können” (S. 19). Somit dient der Governance-Ansatz dieser Programmatik einer effizienzorientierten und administrativen Steuerungslogik, die auf eine bürokratiekritische und pragmatische Verwaltungsmodernisierung abzielt. Eine solche selektive Deregulierungsstrategie ist beispielsweise auch erkennbar, wenn bestehende Berichts- und Dokumentationspflichten wie auch das Lieferkettengesetz reformiert werden sollen, um Belastungen für Unternehmen abzubauen (S. 18).

Die gesundheitspolitische Programmatik des BSW ist geprägt von einer starken staatlichen Steuerung und Abkehr von marktwirtschaftlichen Prinzipien. Das System sei geprägt von Einzelinteressen, Unterversorgung, Bürokratie und Renditeorientierung (S. 26). Das BSW fordert eine Bürgerversicherung (ebenda) und kritisiert, dass die „verstärkte Privatisierung (…) keine Verbesserung der Versorgung erbracht hat und muss zurückgedrängt werden muss“ (S. 26 ff.). Im Bereich der Arzneimittelversorgung wird eine strikte Regulierung der Pharmakonzerne gefordert, da diese „die Allgemeinheit mit völlig überhöhten Preisen für neue Medikamente über den Tisch (gezogen hätten) (…) während zugleich die Zulassungshürden neuer Medikamente und Impfstoffe abgesenkt wurden ” (S. 26).

Fazit zum BSW: Die Governance-Strategie des BSW zeigt insgesamt eine charakteristische Hybridform, die einerseits stark interventionistische und staatszentrierte Elemente mit wirtschaftsdemokratischen Steuerungsmechanismen verbindet, dabei aber auch selektiv ordoliberale und effizienzorientierte Ansätze integriert, wie sich besonders in der Verschränkung von staatlicher Industriepolitik, demokratischer Mitbestimmung und pragmatischer Verwaltungsmodernisierung zeigt. Der programmatische Steuerungsoptimismus manifestiert sich primär in der Positionierung des Staates als zentralem Transformationsakteur, was sich in der Förderung von Stiftungsunternehmen, der aktiven Industriepolitik und der gemeinwohlorientierten Gesundheitspolitik widerspiegelt.

 

4. Zusammenfassende Einordnung

Zunächst finden sich in den sieben ausgewählten Wahlprogrammen Governance-Profile, die sich in Steuerungslogik wie den präferierten Implementierungsinstrumenten deutlich unterscheiden. So verfolgt beispielsweise die FDP einen dezidiert marktliberalen Ansatz mit ordoliberaler Rahmensetzung, der auf systematischen Bürokratieabbau und minimale staatliche Intervention setzt. Die CDU/CSU kombiniert hingegen marktorientierte Deregulierung mit strategischer staatlicher Steuerung, wobei der Staat primär als Koordinator und Rahmensetzer agiert. Und bei der SPD zeigt sich demgegenüber ein hybrides Governance-Modell, das staatliche Koordination durch den “Deutschlandfonds” mit marktwirtschaftlichen Elementen und Public-Private-Partnerships verbindet. Ähnlich wie das BSW, wo sich ebenfalls ein Hybrid-Modell ergibt, indem auch hier staatliche Industriepolitik mit wirtschaftsdemokratischen Elementen und selektiver Deregulierung verwoben wird. Auch im Wahlprogramm der AfD ist eine Mischung aus wirtschaftsnationalistischer und marktliberaler Governance erkennbar, die dabei nationale Souveränität mit Deregulierung kombiniert. Im Gegensatz dazu setzen die Grünen auf einen regulativ-transformativen Ansatz, bei dem der Staat als aktiver Gestalter des sozial-ökologischen Wandels auftritt und Marktmechanismen gezielt für Nachhaltigkeitsziele nutzt. Und der am stärksten interventionistische Governance-Ansatz mit umfassender staatlicher Steuerung und systematischer Transformation marktwirtschaftlicher Strukturen ist bei der Linke das Mittel der Wahl – oder eben für diese.

In der Zusammenschau ergeben sich so grundlegend vor allem drei Governance-Cluster:

  • Marktliberal-koordinierende Governance (FDP, CDU/CSU) – charakterisiert durch Deregulierung und staatliche Rahmensetzung
  • Transformativ-steuernde Governance (SPD, Grüne) – gekennzeichnet durch aktive staatliche Gestaltung mit Markteinbindung
  • Interventionistisch-kontrollierende Governance (Linke, BSW) – geprägt durch starke staatliche Steuerung und Wirtschaftsdemokratie.

Die AfD lässt sich aufgrund ihrer spezifischen Kombination aus Marktliberalismus und Wirtschaftsnationalismus nicht eindeutig zuordnen und nimmt vorerst eine Sonderposition ein.

 

Konvergenzen in der Steuerungslogik

Interessant aber sind vor dem Hintergrund der sich abgrenzenden Cluster gleichsam Übereinstimmungen bei anderen Governance-Ansätzen, die im Ergebnis das traditionelle Rechts-Links-Schema transzendieren. So ist beispielsweise besonders die parteiübergreifende Forderung nach Bürokratieabbau insgesamt auffällig: Von der marktliberalen FDP bis zum etatistischen BSW setzen alle Parteien prinzipiell auf Entbürokratisierung – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Selbst die traditionell eher staatsorientierte Linke fordert Vereinfachungen im Forschungsbereich. Zwar gibt es weiterhin Unterschiede zwischen den politischen Wettbewerbern, doch diese manifestieren sich weniger im grundsätzlichen Ziel als vielmehr im Umfang der angestrebten Deregulierung.

Eine weitere überraschende Konvergenz zeigt sich in der Frage der nationalen Produktion im Bereich der Gesundheitswirtschaft: Sowohl AfD als auch Linke, BSW, SPD und Grüne fordern eine Rückverlagerung der Arzneimittelproduktion, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – von Versorgungssicherheit bis zur Arbeitsplatzsicherung. Diese unerwartete Einigkeit in der Frage strategischer Autonomie verdeutlicht, wie pragmatische Überlegungen ideologische Grenzen überwinden können.

Ebenfalls interessant sind aber auch weitere Governance-Paradoxe: Denn mit CDU/CSU und FDP sprechen sich selbst dezidiert marktliberale Parteien für staatliche Eingriffe zur Marktsicherung aus. Und die AfD kombiniert einen grundsätzlichen Marktliberalismus mit Forderungen nach staatlicher Kontrolle strategischer Sektoren. Dieses Spannungsfeld zwischen Deregulierung und strategischer Steuerung zieht sich so durch viele Parteiprogramme.

Auch im Verhältnis zwischen europäischer Integration und nationaler Souveränität zeigen sich komplexe Verschränkungen, die zu realpolitischen Steuerungsproblemen führen könnten. Denn SPD und Grüne sprechen sich für EU-Koordination bei gleichzeitiger Stärkung nationaler Industriepolitik aus, während das BSW nationale Wirtschaftssteuerung mit europäischer Handelskoordination verbinden möchte. Eine solche Mehrschichtigkeit der Governance-Ebenen verdeutlicht vor allem eines: die Komplexität moderner Steuerungsanforderungen.

Auffallend ist in Summe auch die Entwicklung innovativer Steuerungsinstrumente. Konzepte wie der „Deutschlandfonds“ der SPD oder die „Stiftungsunternehmen“ des BSW zeigen die Suche nach neuen Wegen jenseits klassischer Dichotomien von Markt und Staat. Diese experimentellen Kombinationen verschiedener Governance-Modi deuten auf eine zunehmende Pragmatisierung der Steuerungsphilosophien hin.

Die Analyse zeigt, dass die tatsächlichen Governance-Ansätze der Parteien deutlich komplexer und nuancierter sind als häufig angenommen. Kaum eine Partei verfolgt noch „reine“ marktliberale oder strikt staatsinterventionistische Ansätze. Stattdessen dominieren vielmehr an vielen Stellen in den Wahlprogrammen hybride Governance-Modelle, die verschiedene Steuerungsmodi pragmatisch kombinieren.

Was bleibt: Die Analyse der Governance-Ansätze verdeutlicht vor allem, dass das historisch-traditionelle Links-Rechts-Schemata mittlerweile zu kurz greifen. Alleine anhand dieser Verortung können deshalb die verschiedenen Steuerungsphilosophien schwerlich noch adäquat erfasst werden.

Diese Governance-Profile verdeutlichen die unterschiedlichen Steuerungsphilosophien der Parteien, wobei sich in einzelnen Politikfeldern wie der Gesundheitswirtschaft durchaus überraschende Konvergenzen zeigen. Die Zukunft politischer Steuerung wird vermutlich in der intelligenten Kombination verschiedener Governance-Mechanismen liegen, wie sie sich bereits heute in den hybriden Ansätzen von SPD, Grünen und BSW andeutet.

 

Vom Wahlprogramm zum Koalitionsvertrag

Wahlprogramme sind Idealbilder der Parteien, die ihre politischen Visionen in Reinform darstellen. Im Wahlkampf können Parteien ihre Positionen ohne Rücksicht auf Kompromisse oder parlamentarische Mehrheitsverhältnisse formulieren, wodurch geschlossene programmatische Visionen mit Maximalforderungen entstehen.

Allerdings ist Wahlprogrammen eine begrenzte Halbwertszeit beschieden. Nach der Wahl verblassen ihre Konturen, und zahlreiche Inhalte verlieren an Schärfe. Die ursprüngliche Einheitlichkeit und Stringenz der Programme weichen dabei in unterschiedlichem Maße einer politischen Realität.

Noch bis zum 23. Februar bewirkt aber der Wettstreit um die Wählerstimmen eine gewisse Nivellierung der programmatischen Positionen. Doch nach der Wahl beginnt für einen Teil der Parteien die Phase der Koalitionsverhandlungen, während sich andere auf ihre Rolle in der Opposition vorbereiten. Letztere können ihr Wahlprogramm weiterhin freier als Grundlage für parlamentarische Initiativen und Anträge nutzen. Für Parteien in Koalitionsverhandlungen hingegen werden ihre Programme dekonstruiert und mit denen potenzieller Partner verschmolzen – ein notwendiger Prozess, da Koalitionsverträge auf Kompromissen basieren, die allen Beteiligten Zugeständnisse abverlangen (Moury, 2011).

Dabei stehen die Parteien dann vor der Abwägung zwischen programmatischer Treue und Kompromissbereitschaft. Das Festhalten am programmatischen Ideal ist dabei legitim, denn „in der Demokratie gibt es nicht nur die Pflicht zum Kompromiss, sondern auch die Pflicht zur Kontroverse”, wie Christian Lindner 2018 sagte (Stern 2018). Mit dem Austritt aus der FDP aus den Koalitionsverhandlungen für ein Jamaika-Bündnis sorgte er im Anschluss dann selbst für kontroverse Debatten.

„Wir haben klare Prinzipien und Überzeugungen“, erklärte Parteichef Christian Lindner damals, „aber wir haben zugleich Kompromissbereitschaft gezeigt – bis an den Rand des Sinnvollen und Verantwortbaren“ (ebenda). Während die FDP seinerzeit den Ausstieg so selbst wählte, kam die Initiative im vergangenen November von anderer Seite: Bundeskanzler Olaf Scholz.

So beginnt die Geschichte der hier analysierten Wahlprogramme mit eben jenem Bruch der Ampel-Koalition – und das für viele später als erwartet. Entsprechend zeigen in diesem Zusammenhang auch Untersuchungen, dass Koalitionen mit divergierenden Governance-Präferenzen grundsätzlich instabiler sind, da sie bei jedem politischen Entscheidungsprozess nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch Differenzen überbrücken müssen (Timmermans, 2006). Empirische Studien belegen hingegen, dass Koalitionen mit ähnlicher Steuerungslogik eine höhere Stabilität aufweisen als jene mit fundamental unterschiedlichen Governance-Konzepten (Klüver/Bäck, 2019).

Genau diese Divergenz aber prägte die Ampel-Koalition: Ihre Regierungsarbeit war von Beginn an durch den Konflikt zwischen einer regulierenden, sozialstaatlichen Perspektive (SPD/Grüne) und einer wirtschaftsliberalen, deregulierenden der FDP gekennzeichnet: „Their instincts seemed contradictory: expanding the state but also shrinking it back, unleashing business but also reining it in, wanting to break things but also guaranteeing no one gets cut by the shards“ (Oltermann 2024).

Die Ampel-Koalition und ihr Ende demonstrieren damit exemplarisch die unterschätzte Dominanz und fundamentale Bedeutung der Governance-Dimension politischen Handelns. Denn Stabilität und Funktionsweise einer Koalition werden langfristig primär durch ihre Steuerungsansätze bestimmt. Während programmatische Inhalte konkrete Maßnahmen betreffen, bilden Governance-Strukturen das Fundament politischer Prozesse und Verwaltungslogik. Im Ergebnis können divergierende Steuerungspräferenzen zu substanziellen Umsetzungskonflikten führen – etwa wenn Koalitionspartner fundamental unterschiedliche Governance-Modelle bevorzugen: zwischen einer staatlich-koordinierenden und einer wettbewerbsorientierten Marktsteuerung (Treib/Bähr/Falkner 2007).

Andererseits kann eine Anpassung der Governance-Strategien Koalitionsbildungen erst ermöglichen. Paradigmatisch steht hierfür nicht ein Wahlprogramm, sondern das „Godesberger Programm“ – für die SPD „ein Meilenstein auf dem Weg zur Regierungsverantwortung im Bund“ (Horsmann 2024). Mit diesem Grundsatzprogramm lösten die Sozialdemokraten im November 1959 „das marxistisch geprägte Heidelberger Programm von 1925 ab. Die SPD verabschiedet sich von revolutionären Forderungen und ideologischem Ballast. Sie bekennt sich zur Sozialen Marktwirtschaft, zum Privateigentum der Produktionsmittel“ (ebenda).

Erst dadurch wurden erstmals sozialliberale Politikansätze innerparteilich legitimiert, die so eine Synthese aus staatlicher Koordination und marktwirtschaftlichen Prinzipien ermöglichten. Mit diesem Wandel der Governance machte sich die SPD anschlussfähig für Koalitionen. Konkret: mit der FDP (1969–1982) und später auch für Große Koalitionen (1966–1969, 2005–2009, 2013–2021). Bis heute prägt das Godesberger Programm die Governance-Strategien der SPD, da es ein nachhaltiges Modell für sozialstaatliche, nicht-planwirtschaftliche Steuerung etablierte.

In den einzelnen Wahlprogrammen manifestieren sich heutzutage Governance-Elemente vornehmlich in institutionellen Arrangements und strukturellen Anpassungen – etwa in der Schaffung neuer Behörden, Fonds oder Steuerungsinstrumente (Moury 2011). Bezogen auf die aktuellen Wahlprogramme wäre demnach denkbar, dass die SPD in Verhandlungen den „Deutschlandfonds“ priorisiert, während die FDP die Etablierung eines Digitalministeriums fokussiert. Da sich auch in der Verwaltungs- und Finanzpolitik die Governance-Ansätze widerspiegeln – wo eine Partei auf zentrale Staatsinterventionen setzt, präferiert eine andere Anreizsysteme für private Akteure –, könnten bestehende Differenzen hier in Koalitionsverträgen im Ergebnis zu hybriden Lösungen führen (Timmermans, 2006). Solche kombinierten Governance-Ansätze finden sich beispielsweise in den Programmen von SPD, BSW und den Grünen und dürften sich vor diesem Hintergrund mit hoher Wahrscheinlichkeit auch im Koalitionsvertrag wiederfinden – denn dem Hybriden wohnt der Kompromiss inne, weshalb ein Mix aus Steuerungsformen ein Ansatz zur Befriedung von Interessen sein könnte.

Gegenwärtig kämpft aber noch jede Partei eigenständig um Wählerstimmen. In dieser Phase kann deshalb Thorsten Frei, der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, noch postulieren, das Land brauche „eine andere Politik und keine Spekulationen um Koalitionen, sondern CDU pur“ (Gutting 2025). In Reinform aber wird ab Frühjahr einzig der Kompromiss existieren – manifestiert im Koalitionsvertrag. Viele der mit Überzeugung im Wahlprogramm formulierten Forderungen werden dann nicht mehr auffindbar sein. Dies entspricht schließlich der politischen Realität: Wer bis zuletzt kompromisslos auf Prinzipien beharrt, riskiert die Chance auf jegliche Umsetzung seiner Ziele. Den hier zugrundeliegenden strategischen Ansatz beschreibt die US-amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein: „Sie müssen wissen, was sie wollen, um es zu bekommen.“ (in: Jüstel 2025) – oder anders formuliert: Politischer Erfolg basiert auf der Kombination realistischer Zielsetzungen und der Bereitschaft zu Kompromissen.

Und so werden die parteipolitischen Ideale und Governance-Ansätze aus den Wahlprogrammen in wenigen Wochen im Koalitionsvertrag zumindest teilweise an Kontur verlieren – so ist eben das politische Aushandeln von Interessen um die Macht: Durch den Pragmatismus zur Flexibilität – oder wie, Konrad Adenauer prägnant zusammen: „Es kann mich doch niemand daran hindern, jeden Tag klüger zu werden“ (nach Weymar 1955).

Fast 3.000 Tage und zwei Koalitionsregierungen vergingen nach diesem Ausspruch, als er 1957 bei der Wahl mit 50,2 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit errang. Zum ersten und bis heute einzigen Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hätte mit diesem Wahlergebnis eine Partei (beziehungsweise hier mit CDU/CSU ein Parteienbündnis) keine Koalitionsverhandlungen führen müssen. Dennoch entschied sich Adenauer dazu, gemeinsam mit der Deutschen Partei (DP) zu regieren – die bislang einzige genuine freiwillige Koalitionsbildung, die nicht aus parlamentarischer Notwendigkeit, sondern aus strategischen Erwägungen zur Machtsicherung erfolgte (FAZ 2021).

Uns bleiben nun auch noch ein paar Tage – erst mit dem Abschluss der Koalitionsverhandlungen werden auch wir schlauer sein und wissen, welche Governance-Ansätze der Parteien sich durchzusetzen konnten.

 

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