Governance im Gesundheitswesen zunehmend fragil

Buchbesprechung: Rainer Hess analysiert die funktionale Selbstverwaltung

Dr. Robert Paquet

Selbstverwaltung oder staatliche Regulierung?[1] Das wird im Hinblick auf die kommende Bundestagswahl erneut zu einer zentralen Kontroverse für die Gesundheitspolitik. Dabei geht es grundsätzlich um die Governance unseres Gesundheitswesens. Im Moment reklamieren wieder viele Organisationen „Vorfahrt für die Selbstverwaltung“, wie sie schon Mitte der 1990er Jahre der damalige Bundesgesundheitsminister Seehofer proklamiert hat[2]. Zum Beispiel rief die Kassenärztliche Bundesvereinigung vor wenigen Tagen dazu auf, einen gemeinsamen „Pakt für die Selbstverwaltung“ zu schließen[3]. So einfach wird‘s jedoch nicht gehen.…

 Rainer Hess beschreibt die Funktionsbedingungen dieses Systems, seine widersprüchliche Entwicklung und den aktuellen Reformbedarf. Das Buch kommt zur rechten Zeit, um sich mit der erratischen Governance der Minister Spahn und Lauterbach auseinanderzusetzen und eine bessere Perspektive zu entwickeln.

 

Einleitung

Die gemeinsame Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen ist ein konstitutives Element im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). In seiner Habilitationsschrift verfolgt der Autor ihre Entwicklung seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Dabei geht es um das Vertragssystem zwischen den Kassen und Leistungserbringern (einschließlich des Bewertungsausschusses und des Schiedswesens) und den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Erforderlichkeit und Aufgabenstellung dieser Institutionen werden aus dem Sachleistungsprinzip abgeleitet.

Nach einer sehr stabilen Phase dieses Systems begann mit dem Gesundheitsreformgesetz ein neues Kapitel. Das zunehmende Eindringen von wettbewerblichen Elementen ins Gesundheitssystem stellt das hergebrachte Regulierungsmodell vor neue Herausforderungen. Seine Stabilität und Funktionsfähigkeit sieht Hess vor allem durch das Aufkommen wirtschaftlicher Interessen (in einem neu implementierten selektivvertraglichen Wettbewerbssystem) gefährdet, die nicht mehr in erster Linie auf eine angemessene medizinische Versorgung der GKV-Versicherten verpflichtet sind. Als Analytiker (und Zeitzeuge: Hess war über 30 Jahre Justitiar und Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und acht Jahre Vorsitzender des G-BA) bewertet er die Entwicklung und bemüht sich um ausgewogene Reformvorschläge.

Hess stellt die „rechtliche Systematik der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen“ dar, wie sie sich „aus der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland beginnend mit dem Gesetz über Kassenarztrecht (GKAR)“ von 1955 entwickelt hat. Ausgangspunkt ist die These, dass in der Bundesrepublik von Anfang an ein „mittlerer Weg“ für das Gesundheitswesen gewählt worden sei: „Sowohl ein rein staatliches, als auch ein rein wettbewerbliches Gesundheitswesen wurden … ausdrücklich abgelehnt.“ (13) Es folgt die Aufzählung der wichtigsten Gesundheitsreformgesetze, die später minutiös nach in ihren Auswirkungen auf die gemeinsame Selbstverwaltung analysiert werden. Der leitende Gesichtspunkt dafür (und zur Lösung der aktuellen Probleme) wird hier so formuliert: Es geht um „das Verhältnis zwischen der die Gesetzgebung der letzten Jahre prägenden wettbewerblichen Ausrichtung der Strukturen des Gesundheitswesens zur Notwendigkeit der Vorhaltung von Versorgungsangeboten zur Aufrechterhaltung einer alle Bevölkerungsgruppen erreichenden medizinischen Grundversorgung“ (15).

Die betrachtete Gesetzgebung endet praktisch mit der 19. Wahlperiode des Bundestages und dem Koalitionsvertrag der Ampel; „Redaktionsschluss“ war überwiegend gegen Ende des Jahres 2022; das ergibt sich aus der zitierten Literatur. Außerdem haben die verschiedenen Abschnitte einen leicht unterschiedlichen Stand, wenn sich z.B. die Aktualität „vor der Bundestagswahl“ erkennbar auf die Wahl im Jahr 2021 bezieht.

 

Rechtsgrundlagen

Im Sinne des „mittleren Weges“ sind die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen „mittelbare Staatsverwaltung“. Der Leistungsanspruch der Versicherten gegen ihre Kasse sei auf die „ärztliche Behandlung als Naturalleistung gerichtet“. Das stehe im Gegensatz zur privaten Krankenversicherung, die Kostenerstattung leiste. Insoweit sei die gemeinsame Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen im Sachleistungssystem begründet (18). Dabei habe der Gesetzgeber des GKAR an die Notverordnung des Reichskanzlers Brüning von 1931 angeknüpft: Die Kassen müssten „ihre Leistungspflicht durch Verträge mit geeigneten Leistungserbringern erfüllen“. Sie hätten dabei keine Entscheidungsfreiheit mehr unter den Ärzten. Die damals gebildeten Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) hätten dafür im Gegenzug den Sicherstellungsauftrag für die medizinische Versorgung erhalten (19).

Aus dieser Konstellation und dem damit verbundenen Streikverbot der Ärzte ergebe sich die Notwendigkeit der Zwangsschlichtung in Form von Schiedsverfahren (20/26). Aus dem „gemeinsamen Regelungsauftrag“ von Kassen und Ärzten entstehe die Form des öffentlich-rechtlichen Vertrags beider Seiten (heute Gesamtvertrag). Dabei arbeitet Hess die „Doppelfunktion der vertragsärztlichen Selbstverwaltung“ zugleich als Ordnungsfunktion und Interessenvertretung klar heraus (27). Dabei liege diesem System das „Leitbild des freiberuflichen Arztes“ zugrunde, womit Hess vor allem die Arbeit als Selbständiger in der eigenen niedergelassenen Vertragsarztpraxis meint. In der Zunahme der Anstellung von Ärzten und der Ausbreitung der MVZ (vor allem mit gleicher Fachrichtung) sieht Hess eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit der KVen. Mit der Einführung wettbewerblicher Elemente im Vertragswesen der Kassen und der Möglichkeit von Selektivverträgen werde diese Gefahr verstärkt. Dabei sei der „Korporatismus … wesentliches Strukturmerkmal“ für ein Gesundheitssystem, das den „mittleren Weg“ verfolge (35f). Verbindlichkeit und Einheitlichkeit auf beiden Seiten der kollektiven Vertragspartner seien dafür Funktionsbedingungen, die durch die neueren Entwicklungen allerdings Risse bekommen hätten (37f).

Aus dem Korporatismus leitet Hess auch die Notwendigkeit ab, die Konkretisierung der Leistungsbedingungen und die Sicherung der Qualität als gemeinsame Aufgabe von Ärzten und Kassen anzugehen. In Institutionen gesprochen: also ursprünglich den gemeinsamen Bundesausschuss Krankenkassen und Ärzte zu bilden, aus dem schließlich der heutige Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hervorgegangen sei. Der G-BA bestimme demnach den Inhalt der Leistungen (insbesondere in seinen Richtlinien). Leistungsrecht und Leistungserbringerrecht seien somit eng verzahnt (49). Die „Ausbalancierung der notwendigen Entscheidungen“ in dieser Institution würde jedoch als Folge des Vertragswettbewerbs zunehmend „durchbrochen“ (51).

Gestreift wird in diesem Zusammenhang auch die Frage der Legitimation des G-BA als Institution und in seiner Zusammensetzung (53). Leider nur gestreift. Gerade in einer juristischen Habilitationsschrift wäre es aber spannend gewesen, zu lesen, wie sich der Verfasser mit den drei einschlägigen Gutachten zum Thema auseinandersetzt. Auch deshalb, weil die Legitimations-Frage in der kommenden Wahlperiode wieder an Aktualität gewinnen wird. Welche Auswirkungen hätte z.B. die Übertragung heilkundlicher Befugnisse auf Pflegekräfte, so wie sie im Pflegkompetenzgesetz vorgesehen war? Oder auch die sog. Blanko-Verordnung für Physiotherapeuten, wenn G-BA-Richtlinien dafür gelten sollen, obwohl diese Gruppen in dem Gremium nicht vertreten sind?

 

Bund und Land

Aus der Idee der integrierten Versorgung habe sich schließlich die Institutionalisierung des Gemeinsamen Bundesausschusses entwickelt (jetzt unter Einbeziehung der Krankenhäuser). Die gemeinsame Selbstverwaltung sei damit immer weiter in das Spannungsfeld der „unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Grundlagen für die Ausgestaltung der vertragsärztlichen Versorgung … und die Ausgestaltung der stationären Krankenhausbehandlung als Landesrecht“ geraten (59). Aber auch schon für die Vertragsärzte allein ergebe sich eine „Überlagerung jeweils landesgesetzlich geregelter berufsrechtlicher Anforderungen an die ärztliche Berufsausübung“ (Stichwort Ärztekammern) und die „Bundeskompetenz des Gesetzgebers“ im Bereich der Sozialversicherung (63). Durch die Musterberufsordnung des Deutschen Ärztetages würden die Dinge (nur) einigermaßen zusammengehalten (61).

Aus der Zielsetzung der fachlichen Leistungsintegration seien die MVZs entstanden. Durch die Möglichkeit der Krankenhäuser, MVZs unabhängig von ihrem Standort bzw. Einzugsbereich zu gründen, seien Kapitalinteressen in einem bisher nicht gekannten Ausmaß in das Versorgungssystem eingebrochen. „Wettbewerblich ausgerichtete Organisationsstrukturen lassen sich ertragsträchtig nur in attraktiven Ballungsräumen realisieren. Deswegen bemächtigen sich Investoren im Wettbewerb insbesondere dieser liberalisierten Organisationsstrukturen“ (69). Die Aufgabe der KVen, eine „flächendeckende, möglichst gleichmäßige Versorgung sicherzustellen“ werde damit erschwert (70). Grundsätzlich stellt Hess fest, habe die verfassungsrechtliche Spaltung von Gesundheits- und Sozial(versicherungs-)recht dazu geführt, dass „die vertragsärztliche Versorgung um die Krankenhäuser und deren Versorgungsangebote herum geplant werden musste“ (73). Diese Bedarfsplanung würde noch weiter erschwert, wenn es eine „bedarfsunabhängige Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Versorgung“ gäbe, warnt der Autor (75). Und resümiert: „Die unterschiedlichen Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern für die Sozialversicherung einerseits und für das Gesundheitswesen andererseits greifen in ihrer jeweiligen Anwendung nicht harmonisch ineinander, sondern blockieren sich wechselseitig“ (79).

 

Gesetzliche Eingriffe in die Systematik der gemeinsamen Selbstverwaltung

Nach der Exposition zu den „rechtlichen Rahmenbedingungen“ (Abschnitt C) und zu den Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern (Abschnitt D) kommt Hess zum eigentlichen Kern seiner Habilitationsschrift: Aus dem ganzen Fundus seiner Erfahrungen werden im zentralen Abschnitt E des Buches – in der charakteristischen Verschränkung von Rechtsprechung (Sozialgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht) und Gesetzgebung – die „gesetzlichen Eingriffe“ bzw. Änderungen in der „Systematik der gemeinsamen Selbstverwaltung“ beschrieben. Diesen Abschnitt ausführlich zu referieren würde den Rahmen einer Buchbesprechung sprengen. Daher seien hier nur zwei Argumentationslinien skizziert.

1. Das landesrechtlich definierte Berufsrecht habe Auswirkungen auf die vertragsärztliche Zulassung und natürlich auch auf die Bedarfsplanung (81ff). Ein exemplarisches Problem sei dabei die (landesrechtlich geregelte und damit unterschiedliche) Weiterbildung zum Allgemeinmediziner. Das SGB V habe mit dem GRG 2000 die hausärztliche und fachärztliche Versorgung (auch zulassungsrechtlich) getrennt. Beide Bereiche seien auch in der Honorarverteilung voneinander abgeschottet worden (91). Mit der Einführung der „hausarztzentrierten Versorgung“ als selektivem Wahltarif sei es zu einer zusätzlichen Komplikation für den Sicherstellungauftrag der KVen gekommen (93). Darüber hinaus habe der Gesetzgeber „in § 140a die sektorenübergreifende integrierte Versorgung als Wahltarife eingeführt, andererseits mit der Einführung der hausarztzentrierten Versorgung in § 73b als verpflichtenden Wahltarif die Separierung des vertragsärztlichen Versorgungsauftrages in der Regelversorgung weiter vorangetrieben“ (111). Zu diesem Widerspruch kommt der von Hess als gefährlich angesehene Boom der MVZs (Kommerzialisierung durch Finanzinvestoren!) (119). Im Ergebnis stellt der Autor etwas resignierend fest: „Die vertragsärztliche Bedarfsplanung ist somit nicht in der Lage, Defizite in der Struktur der medizinischen Versorgung, die sich aus der wettbewerblichen Ausrichtung dieser Versorgung ergeben, wirksam zu beseitigen.“ Dass die von Hess als Lösung vorgeschlagene „Erweiterung der Zuständigkeiten des Landesausschusses der Ärzte und Krankenlassen“ etwas verbessern würde, wird vom Rezensenten allerdings in Zweifel gezogen (125).

2. Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) sei – nach dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität – die strikte Budgetierung der kassenärztlichen Honorare eingeführt worden (127ff). Das „korporatistische System“ habe somit (zunächst) die „globale Ausgabenbegrenzung ermöglicht und in ihrer Einhaltung gewährleistet“ (131). Diese Form der Ausgabenbegrenzung (einschließlich der Teilung in einen hausärztlichen und einen fachärztlichen Vergütungsanteil) habe sich jedoch immer mehr als ungerecht erwiesen. Im Zusammenhang mit der zunehmend „wettbewerblich ausgerichteten Vertragsstruktur“ musste das Verfahren auf einen Morbiditätsbezug umgestellt werden. Das Morbiditätsrisiko sei auf die Kassen verlagert worden (142). Das hatte Folgen für die Wahltarife: „An die Stelle einer nicht bereinigungsfähigen Kopfpauschale je Mitglied musste eine auf die Morbidität des Versicherten bezogene Vergütung eingeführt werden, die bei Verlagerung der vertragsärztlichen Behandlung in einen auf ambulante ärztliche Behandlung ausgerichteten Wahltarif eine auf die Morbidität des Versicherten bezogene Bereinigung der vertragsärztlichen Gesamtvergütung ermöglicht“[4] (144).

Ergänzt werden – für Feinschmecker des Systems – Erörterungen zum „Wohnortprinzip“ und dem daraus folgenden „Fremdkassenzahlungsausgleich (FKZ)“ (145) und – für historisch Interessierte – der West-Ost-Ausgleich zur Stützung des Vergütungsniveaus in den Neuen Ländern (147ff). Allerdings sei es schon 2008 zu einer „erneuten Festschreibung“ der Vergütungsanpassung gekommen (161f), was Hess schließlich zu der „zusammenfassenden Bewertung“ führt: Die „notwendig gewesene Reform ist jedoch leider nicht konsequent genug durchgeführt worden und wird deswegen von den Vertragsärzten als Fortsetzung der bisherigen Budgetierung empfunden“ (169).

In weiteren Abschnitten setzt sich Hess mit den Wahltarifen der Kassen auseinander (173ff), die er im Großen und Ganzen als wenig nützlich und als Störung der „Regelversorgung“ beschreibt. Auch von der „regionalen Steuerung“, die auch die Ampel-Regierung gesetzlich verankern wollte, hält Hess nicht viel (186ff). Ein „Wettbewerb der Regionen“ (192) würde in ca. 400 Gesundheitsregionen zu „unterschiedlich strukturierten Versorgungsangeboten führen“ (195). Eine Dynamik zunehmender Abgrenzung der Regionen gegeneinander würde in Gang gesetzt. Der Vorteil einer bundesweit einheitlichen Regelversorgung für alle GKV-Versicherten würde leichtfertig preisgegeben. Auch die Zulassung von MVZs müsste nach Ansicht von Hess wieder auf facharztübergreifende Angebote beschränkt werden (198ff). Deren Wettbewerblichkeit und Kommerzialisierung müssten zurückgedrängt werden. Die Gesetzesbegründungen zum GKV-VStG und zum TSVG seien „Beleg dafür, dass (bei MVZs) eine solche Entwicklung auch real erfolgt“ (204). (Es ist schon etwas seltsam, wenn Narrative in Gesetzesbegründungen als Beschreibungen realer Entwicklungen herhalten müssen.)

 

Weitere Aspekte

Es folgen noch kurze Kapitel: Die „Steuerung der Arzneimittelversorgung“ durch den G-BA (Abschnitt F, 207ff) dreht sich vor allem um das AMNOG (frühe Nutzenbewertung). Eigentlich hätte das Thema ein eigenständiges Buch verdient. Nach kursorischer Einschätzung kommt Hess zu dem Schluss, dass die dargestellten Steuerungsinstrumente den Ausgabenanstieg nicht wirksam begrenzen können. Letztlich bleibt ihm nur der Ausweg eines Plädoyers für eine (echte) „vierte Hürde“ (282), was aber im Fazit des Kapitels in der Formulierung untergeht (241)[5].

In einem kleinen Abschnitt (G, 243ff) spricht Hess ausgewählte Regelungen an, mit denen der G-BA die sektorenübergreifende Versorgung fördern soll. Das betrifft das ambulante Operieren und die ambulante spezialfachärztliche Versorgung (ASV). Beide Themen sind nicht gerade Ruhmesblätter für den Gesetzgeber und den G-BA. Hess macht hier Verbesserungsvorschläge; etwas aus der Zeit gefallen wirkt der zusätzliche Vorschlag, die 1997 aufgegebene Großgeräteplanung wiederzubeleben.

Schließlich werden die diversen gesetzlichen „Eingriffe in die Selbstverwaltungsstrukturen“ (u.a. Bildung des G-BA mit dem GKV-GMG 2004, Rechtsaufsicht etc.) gestreift. Fazit ist: „Das SGB V könnte in seiner §§-Fülle wesentlich entschlackt werden, wenn das Misstrauen von Seiten der Politik in die Arbeitsweise der Selbstverwaltung abgebaut werden könnte“ (265). In den Schlussbemerkungen spricht Hess vom „Übermaß an aufsichtsrechtlicher Bevormundung“, das den „Gestaltungswillen der Selbstverwaltung“ lähme (283). Abstrakt sind diese Feststellungen sicher richtig. Ein bisschen mehr (selbst)-kritische Reflexion wäre hier wünschenswert gewesen. Der G-BA hat immer wieder auch berechtigte Erwartungen (und Aufträge) des Gesetzgebers enttäuscht. Ein Beispiel ist die quälende Entwicklung bei der ASV, die auf die Selbstblockade der Interessen bei den Bänken des G-BA zurückzuführen ist. Es gibt eben Dinge, die die Selbstverwaltung gut regeln kann und solche, mit denen sie überfordert ist[6].

In Abschnitt I folgt ein Plädoyer für eine bessere Steuerung des Inanspruchnahmeverhaltens der Versicherten durch mehr „Eigenverantwortung“: Erwogen werden finanzielle Anreize für ein Primärarztsystem als Regelversorgung. Ein Konzept, das inzwischen von mehreren ärztlichen Organisationen (Bundesärztekammer, KBV etc.) aufgegriffen und variiert wird.

 

Bewertungen

Nun: Hess ist zutiefst konservativ. Nicht in dem Sinne, dass früher alles besser war, aber doch vieles. Die Einheitlichkeit und Flächendeckung eines als „Regelversorgung“ vorgestellten ambulanten medizinischen Angebots ist für ihn ein hoher Wert, im Sinne eines nachvollziehbaren solidarischen Sozialstaatsverständnisses. Das Bemühen um eine gesellschaftlich verantwortungsvolle Governance im korporatistischen System ist der motivationale Motor seiner ganzen Arbeit. Hier ist Hess glaubwürdig und mit seinem früheren Wirken in der Rolle als G-BA-Vorsitzender auch völlig bei sich.

Auch in seiner „abschließenden Bewertung“ lobt Hess das „Kollektivvertragssystem der Regelversorgung“ und unterstreicht seine Kritik an der Einführung vertragswettbewerblicher Optionen für die Kassen. Diese Entwicklung habe zur „Zersplitterung von Vertragsstrukturen, aber nicht zu einer Verbesserung der Versorgung geführt“ (279). Verstärkend kommt die Feststellung, dass es „zu viele nicht aufeinander abgestimmte, sondern miteinander konkurrierende Versorgungs- und Vertragswettbewerbsstrukturen“ gebe (283).

Dass die von Hess favorisierte Rückkehr zu den klassischen korporatistischen Regelungen aber eine Lösung für die Steuerungs-Probleme unseres Gesundheitssystems sei, will sich dem Rezensenten nicht erschließen. Der gesellschaftliche Wandel untergräbt allmählich die Voraussetzungen des Korporatismus (Einheitlichkeit der Gruppeninteressen, stabile Milieus etc.). Damit sieht sich die Politik selbst – zum großen Teil mit Recht – immer stärker gefordert, in die Regulierung einzugreifen. Leider fehlt bei Hess eine entsprechende Auseinandersetzung mit den (heutigen) Grenzen korporatistischer Regulierung.

Wir befinden uns in einer unabgeschlossenen Erprobungsphase unterschiedlicher Vertragsmodelle mit vielen Widersprüchen. Da jeder dieser Ansätze jedoch nur halbherzig (und versehen mit diversen Selbstblockaden) implementiert wurde, kann man darüber noch nicht abschließend urteilen. Es stimmt zwar, dass die von Hess kritisierten vertragswettbewerblichen Modelle im Gesundheitswesen große Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Doch ihre tatsächliche Bedeutung bemisst sich daran, dass ihr Anteil am vertragsärztlichen Honorarvolumen im untersten einstelligen Prozentbereich liegt. Hess sieht die davon ausgehenden Gefahren aber größer. Und zumindest in einer Hinsicht ist seine abschließende Warnung berechtigt: Das Versorgungssystem sollte einfach und übersichtlich bleiben bzw. sein. Der Rechtsanspruch der GKV-Versicherten müsse auch den Menschen gerecht werden, die „infolge einer schwerwiegenden Erkrankung oder Behinderung oder infolge ihres Alters oder ihres sozialen Status“ weniger entscheidungsfähig sind und ihnen eine bedarfsgerechte Regelversorgung bereitstellen. Sie dürften mit „wettbewerblich ausgerichtete(n) Versorgungsangebote(n)“ nicht überfordert werden (284).

Natürlich dominiert bei Hess die ärztliche Sicht. Bei vielen gegenüber dem Autor abweichenden Einschätzungen des Rezensenten muss man sich doch mit der sorgfältigen und z.T. filigranen Argumentation sehr ernsthaft auseinandersetzen. Für „Eingeborene“ des Systems sind jedenfalls der Kenntnisreichtum und die Breite der Darstellung faszinierend.

Das Buch wird man seinen Freunden nicht unter den Weihnachtsbaum legen; es ist alles andere als Unterhaltungsliteratur. Wer sich allerdings näher mit der „gemeinsamen Selbstverwaltung“ im Gesundheitswesen beschäftigen will (oder muss), wird um die Lektüre nicht herumkommen. Ihre Entwicklungsgeschichte, Funktionsbedingungen, Fehlentwicklungen und Lösungsansätze werden aufgezeigt. Wer könnte das kundiger leisten als der Altmeister zu diesem Thema, Rainer Hess?

 

[1] Rainer Hess: Die rechtliche Systematik der Gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2024, 290 Seiten. ISBN 978-3-7560-1897-0. Das Werk ist Teil der Reihe Bochumer Schriften zum Sozial- und Gesundheitsrecht (Band 27).

[2] Natürlich damals auch nur mit halbem Ernst.

[3] https://www.kbv.de/html/2024_73053.php

[4] Kursive Hervorhebungen vom Rezensenten.

[5] Das hätte einem Lektor – soweit sich der NOMOS-Verlag für den Autor und vor allem für die Leser noch diesen Service leistet – auffallen sollen. Überhaupt ist die Menge der Fehlstellen im Text bis hin zu banalen Rechtschreibfehlern beschämend. „Hyprid-DRGs“ (mehrfach) gibt es z.B. nicht wirklich (248). Die berühmten „Konnektoren“ der Praxen zur Telematik-Infrastruktur (282) kommen auch schon mal in der eigentümlichen Schreibweise als „Connectoren“ vor (278). Und so weiter. Das wird dem prominenten Autor und dem Leser nicht gerecht.

[6] Die unglückselige Vorgeschichte der elektronischen Gesundheitskarte ist ein besonders drastisches Beispiel: Ein fast zwei Jahrzehnte währendes Mäandern der gematik! Doch die Selbstverwaltung kann bestimmte Aufgaben (z.B. der einheitlichen Standardisierung) nicht lösen. Dafür muss der Gesetzgeber selbst eingreifen oder es braucht eine Regulierungsbehörde mit ausreichenden Vollmachten.

 

Rainer Hess: „Die rechtliche Systematik der Gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen“, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2024, 290 Seiten. ISBN 978-3-7560-1897-0


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