GKV-VEG: Schatten und Licht –

Spahn will über den Koalitionsvertrag hinaus, aber wohin?

Dr. Robert Paquet

Wie erwartet: Spahn ist für Überraschungen gut. Das Wichtigste des neuen GKV-Versichertenentlastungsgesetzes (GKV-VEG) war nicht im Koalitionsvertrag vereinbart – und noch ist unklar, ob die SPD die erzwungene Beitragssatzsenkung mitmacht. Erste Stellungnahmen signalisieren Ablehnung. Eins ist aber klar: Spahn nutzt seine Stellung rigoros für eine eigene Agenda. Wie die aber wirklich aussieht, erhellt sich aus seinem Alleingang bisher nicht.

In finanziell guten Zeiten hatten schon viele Politiker erklärt, die Kassen seien keine „Sparkassen“, sondern für die Versorgungsleistungen der Versicherten zuständig. Jens Spahn macht mit dieser Ansicht jetzt ernst. Er senkt die Mindestrücklagen der Kassen und des Gesundheitsfonds und zwingt damit die Kassen, ihre Zusatzbeiträge – zeitlich und in der Größenordnung sehr eng – an ihre jeweils aktuelle Finanzlage anzupassen. Das gefällt naturgemäß den Kassen nicht, die mit Geld auf der hohen Kante bestrebt waren, ihre Zusatzbeiträge möglichst langfristig stabil zu halten. Im Ergebnis wird der kurzfristige Preiswettbewerb verschärft. Die Spanne der Zusatzbeiträge wird durch die notwendige Absenkung bei einigen Kassen ausgeweitet und die Aufmerksamkeit des Publikums für die finanzielle Dimension des Wettbewerbs verstärkt.

Im Bereich der Beitragsgestaltung wird damit die Selbstverwaltungsautonomie der Kassen weiter eingeschränkt. Die Verwaltungsräte werden in ein enges Korsett gezwängt, das fast automatisch zur Anpassung der Zusatzbeiträge an die aktuelle Finanzlage zwingt. Die Begründung für diese Neuregelung klingt allerdings nachvollziehbar: „Die bislang geltende Obergrenze für Betriebsmittel und Rücklagen in Höhe des 1,5-fachen einer durchschnittlichen Monatsausgabe resultiert aus einer Zeit, in der die Krankenkassen neben dem Ausgabenrisiko auch noch das Einnahmerisiko zu tragen hatten. Seit Einführung des Gesundheitsfonds ist das Einnahmerisiko von den Krankenkassen auf den Gesundheitsfonds übergegangen. Unerwartete konjunkturell bedingte unterjährige Beitragsmindereinnahmen gehen seit 2009 vollständig zu Lasten des Gesundheitsfonds und werden durch die Liquiditätsreserve aufgefangen. Die Krankenkassen erhalten die vorab zugesicherten Zuweisungen in monatlich gleichen Teilbeträgen. Insofern sind sie auch von den unterjährigen Schwankungen der Einnahmen nicht mehr betroffen.“ (Begründung S. 21)

Jedenfalls werden damit die Strategien der „reichen“ Kassen, ihre Reserven wohldosiert zur wettbewerblich punktgenauen Gestaltung ihrer Zusatzbeiträge einzusetzen, durchkreuzt. Gleichzeitig wird hingenommen, dass die AOKen in den Regionen, in denen sie ohnehin schon stark sind (in den östlichen und nördlichen Bundesländern), einen noch stärkeren Zulauf bekommen. Selbst die ‚großen‘ Ersatzkassen werden damit z.B. in Sachsen und Thüringen weiter aus dem Markt gedrängt. Die Monopolisten können ihre Position ausbauen.

Diese Forcierung des Wettbewerbs macht jedenfalls versorgungspolitisch keinen rechten Sinn. Was ist das gesundheitspolitisch langfristige Ziel dabei? Soll die finanzielle Auseinanderentwicklung der beiden Kassengruppen, die der RSA-Evaluationsbericht als Problem beschreibt, weiter angeheizt werden? Ohne eine gleichzeitig wirkende Reform des Risikostrukturausgleichs würde das mittel- und langfristig zu einer Beschleunigung von Fusionen oder auch Schließungen von Kassen führen. Ist das die Absicht?

Das Ziel dürfte jedenfalls ein kurzfristiger und publikumswirksamer Erfolg für Spahn in seinem neuen Amt sein, dessen langfristige Pläne für das Versorgungs- und Kassensystem noch im Dunkeln liegen. Unmittelbar plausibel ist auch die Begründung, dass die „Anlageverluste des Gesundheitsfonds (und der Kassen) in Niedrigzinsphasen reduziert“ werden sollen (S. 22). – Wenn Spahn glaubt, diesen Erfolg zu brauchen, um vielleicht spätere unpopuläre Maßnahmen (notwendige Erhöhung des Pflegebeitrags?) kompensieren zu können, wäre das ein gewagtes Kalkül. Dankbarkeit für frühere Wohltaten hat es bisher noch für keinen Minister gegeben.

Immerhin könnte Spahn die neue Regelung entschärfen, wenn er die Angst der Kassen vor den (nach dem Abschmelzen der Reserven) zwangsläufig wieder anstehenden Erhöhungen der Zusatzbeiträge reduzieren würde. Dazu wäre der (fast) einzige den Wettbewerb unterstützende Vorschlag aus dem Wettbewerbsbericht des Bundesversicherungsamtes (BVA) ein probates Mittel. Dort wird die „Regelung, dass bei Überschreitung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes die Mitglieder ausdrücklich auf die Möglichkeit des Wechsels in eine günstigere Krankenkasse hinzuweisen sind“, als „sachwidrig“ bezeichnet. Sie lenke von den unterschiedlichen Leistungsangeboten der Kassen ab und „suggeriert dem Mitglied Überteuerung und Unwirtschaftlichkeit selbst dann, wenn der erhobene Zusatzbeitragssatz um nur ein Zehntelprozentpunkt über den Durchschnitt liegt“ (BVA-Wettbewerbsbericht S. 22/23). Das Amt empfiehlt daher die Abschaffung dieser Regelung. Wenn Spahn, sofern er an seinem Vorhaben festhält, die Empfehlung des BVA umsetzt, wäre der Tort, den er den Kassen antut, immerhin etwas gemildert.

Im Übrigen setzt der Gesetzentwurf die paritätische Finanzierung der Zusatzbeiträge und die Absenkung der Mindestbemessungsgrundlage für Selbständige um, so wie es im Koa-Vertrag beschlossen wurde. Es war ausdrücklicher Wunsch der SPD, dass der Arbeitgeber dabei den kassenindividuellen Zusatzbeitrag (und nicht etwa den durchschnittlichen Zusatzbeitrag) zur Hälfte tragen muss und damit für die Versicherten der Preiswettbewerb der Kassen abgemildert werden soll. Die SPD hat damit in Kauf genommen, dass die Arbeitgeber wieder ein Interesse gewinnen, ihre Mitarbeiter in möglichst kostengünstigen Kassen zu versichern. Die von Spahn vorgesehene Zwangsabsenkung der Zusatzbeiträge würde jedoch zu einer Erweiterung der Spanne der Zusatzbeiträge führen und damit der Intention der SPD bei der „Konstruktion der Parität“ zuwiderlaufen. Angesichts dieser Vorgeschichte ist bisher der Widerstand der SPD gegen Spahns Vorstoß eher flau. Sich gegen die „Entlastung“ (eines Teils) der Versicherten zu stellen, kommt außerdem in der Öffentlichkeit nicht gut an.

Schließlich enthält der Gesetzentwurf Regelungen zur zeitlichen Begrenzung und Überprüfung der obligatorischen Anschlussversicherung für ausländische Saisonarbeitskräfte. Einige Kassen hatten die geltende Vorschrift für sich ausgenutzt: Sie haben diese Personen zeitlich unbegrenzt als Versicherte geführt und die entsprechenden Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds kassiert, obwohl die meisten dieser Arbeitskräfte die Bundesrepublik schon längst wieder verlassen hatten. Das jetzt vorgesehene Überprüfungsverfahren mutet zwar etwas umständlich und bürokratisch an; die Absicht zur Beseitigung des Missbrauchs dieser Regelung ist jedoch grundvernünftig. Es wird sogar vorgesehen, für die zurückliegenden Versicherungsverhältnisse dieser Art seit 2013 eine Überprüfung vorzunehmen, die zur Rückzahlung der unberechtigt eingenommenen Zuweisungen aus dem RSA führen soll.

Der Coup von Spahn passt nicht zur Betonung des Versorgungsauftrags der Kassen. Ob damit eine dauerhafte Abkehr vom Paradigma der Qualitätsorientierung des Kassenwettbewerbs, das in der vergangenen Wahlperiode hochgehalten wurde, eingeleitet wird, bleibt abzuwarten. Spahns Vorstoß ist jedenfalls insoweit riskant – und da haben die Kritiker Recht –, als die durch die Gesetzgebung der vergangenen Jahre zu erwartenden Mehrausgaben schon mittelfristig zu relativ volatilen Beitragsbewegungen der Kassen führen werden. Das scheint jedoch die Art des Wettbewerbs zu sein, die sich der Minister wünscht.

 


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