26.02.2025
GKV als wirtschaftspolitischer Störfaktor?
Die neue Koalition könnte das ändern
Dr. Frank Diener
Noch zögert die SPD, aber es läuft auf eine Koalition mit der Union hinaus. Bei den Koalitionsverhandlungen wird es auch um die zukünftige Gesundheitspolitik und insbesondere die gesetzliche Krankenversicherung gehen.
Union und SPD waren es, die seit Gründung der Bundesrepublik die dafür zuständigen Minister stellten und die Gesundheitspolitik der letzten 80 Jahre prägten. Diese lange Serie wurde nur in zwei Legislaturen unterbrochen: 1998 bis 2001 mit Andrea Fischer von den Grünen und 2009 bis 2013 zuerst mit Philipp Rösler und dann mit Daniel Bahr von der FDP. Sieht man davon ab, dass die SPD eine Bürgerversicherung befürwortet und die Union eine solche ablehnt, zeigten die beiden Parteien in ihrem konkreten gesundheitspolitischen Tun ansonsten eine bemerkenswerte Harmonie.
Schwarz-rote Gesundheitspolitik: ein Rückblick
Die Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) steigen nicht nur heute, sondern schon seit ihrer Erfindung durch Bismarck. Nach dem 2. Weltkrieg bis weit in die 1960er Jahre war das zunächst auch politisch und gesellschaftlich erwünscht: mehr Ärzte, mehr stationäre Versorgung, eine höhere Apothekendichte, niederschwellig verfügbare Diagnostiken und Therapien und breite Teilhabe an medizinischen Innovationen. Durch die Wachstumsraten und Produktivitätszuwächse, die das deutsche „Wirtschaftswunder“ mit sich brachte, war auch die Finanzierung kein besonderes Problem. Die deutsche Pharmaindustrie war als „Apotheke der Welt“ wohlgelitten und trug mit ihrer Exportstärke zum Bruttoinlandsprodukt bei.
Das änderte sich in den 1970er Jahren, als mit der Ölkrise und Stagflation die „Massenarbeitslosigkeit“ als neues Phänomen auftrat und die GKV-Finanzierung so zunehmend in den Fokus geriet. Die Arzneimittelausgaben wurden als einer der wesentlichsten Kostentreiber identifiziert, und das gesellschaftliche Rating der Pharmaindustrie ins Gegenteil gewendet. Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme GKV, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung über die Anbindung an die Arbeitslöhne verursachte (auch in Verbindung mit einer großzügigen Sozialpolitik, die zunehmend versicherungsfremde Leistungen in die sozialen Sicherungssysteme einbaute, ohne diese – was ordnungspolitisch korrekt gewesen wäre – aus dem Staatshaushalt zu finanzieren) eine „Lohnnebenkostenexplosion“, die Thema bis in die Wahlkämpfe war. Seinerzeit wurde mit den sog. „K-Gesetzen“ von Bundesarbeitsminister Herbert Ehrenberg (SPD) Kostendämpfung versucht, allerdings mit eher mäßigem Erfolg.
Seit 1989 setzte dann eine regulatorische Interventionspolitik ein, die bis heute andauert und in ihrer Taktung und Eingriffsintensität sukzessive zunimmt. Dabei lässt sich das grundlegende Funktionsprinzip in vier Komponenten zerlegen:
Korporatisierung der Leistungserbringer- und Kostenträgerseite: Alle maßgeblichen Leistungserbringer und Kostenträger sind in Form von Körperschaften des Öffentlichen Rechts (z.B. GKV-Spitzenverband oder KBV und KZBV) oder ersatzweise in Form von Institutionen, die im fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) mit gesetzlichen Aufträgen belegt werden können (z.B. DKG oder DAV), zusammengefasst. Warum lassen die Leistungserbringer und Kostenträger das mit sich machen? Weil sie nur so Zugang zum GKV-System haben, das 90 Prozent der Menschen in Deutschland abdeckt.
Gesetzlich auferlegte Vertragspflichten: Damit sind für regulatorische Maßnahmen der Legislative und Exekutive auf der Angebots- und Nachfrageseite Institutionen definiert, denen via SGB V Pflichten auferlegt werden, bestimmte Dinge zur Gesundheitsversorgung vertraglich zu regeln. Anfangs der 1990er Jahre waren diese gesetzlich auferlegten Vertragspflichten zunächst relativ allgemein gehalten. Doch in einer zunehmenden Anzahl von Fällen kamen Vertragsabschlüsse nur sehr verspätet zustande oder wurden nicht so wie von der Regierung gewünscht umgesetzt oder scheiterten sogar gänzlich.
Zunehmende Detaillierung der regulativen Vorgaben: Die Politik sah sich deshalb veranlasst, die Vorgaben für die gewünschten Vertragsabschlüsse immer weiter im Detail zu regeln. Wo anfangs in zwei oder drei Sätzen ein Verhandlungsauftrag zu einem Thema an die Vertragspartner erteilt wurde, werden nun über mehrere Seiten akribisch detaillierte Vorgaben ausformuliert. Ein sehr anschauliches Beispiel ist die Einführung der elektronischen Krankversichertenkarte und des e-Rezeptes – die sich über fast 30 Jahre hingezogen hat. Rund zehn Jahre nach dem ersten Auftrag, eGK und e-Rezept einzuführen, wurde dann die Gründung der Gematik als gemeinsamer Firma von Kostenträgern und Leistungserbringern vom Gesetzgeber erzwungen, doch dauernde Pattsituationen führten dazu, dass sich hinsichtlich Digitalisierung trotzdem wenig tat. „Ein Stück“ wurde das erst, als der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die Gematik „verstaatlichte“, indem er mit einer SGB V-Änderung 51 % der GmbH-Anteile auf das Bundesgesundheitsministerium (BMG) übertragen ließ. Seither kann das BMG alle gewünschten Beschlüsse in der Gematik verbindlich machen und durch ministerielle Verordnung den Pro-Kopf-Zahlbetrag der GKV an die Gematik passend justieren.
Ersatzweise Festsetzung der Verträge durch Schiedsstellen oder das BMG: Einen Husarenstreich wie die Verstaatlichung der Gematik kann die Politik nicht allzu oft wiederholen – das wäre der akzelerierte Weg in die vollkommene Planwirtschaft. Die regulative Technik, dem BMG für den Fall des nicht (fristgerechten) Zustandekommens des Vertrages das Recht zur exekutiven Ersatzvornahme im SGB V zu verankern, wird deshalb mittlerweile etwas sparsamer benutzt. Stattdessen wurde sukzessive das Schiedsstellenwesen perfektioniert: Mittlerweile sind für alle GKV-Leistungsbereiche (insbesondere ambulante ärztliche und zahnärztliche Versorgung, Krankenhausversorgung, Arzneimittelversorgung) Schiedsstellen etabliert, die – wenn die Vertragspartner den Vertragsabschluss nicht in der vorgegebenen Frist schaffen – ersatzweise den Vertragsinhalt festsetzen. Mittlerweile ist die Überprüfung von Schiedsstellenentscheidungen durch die Sozialgerichtsbarkeit so oft durchexerziert worden, dass man das Verfahren als rechtssicher bezeichnen kann. Zudem liegen auch eine Vielzahl von Musterentscheidungen vor. Kernpunkt ist, dass der Schiedsstellenentscheid für die Kostenträger und Leistungserbringer bindend ist.
Obwohl die Gesundheitspolitik mittlerweile auf einem regulativen Niveau angelangt ist, das man durchaus als „exekutiven Dirigismus“ bezeichnen kann, ist die Crux aller Gesundheitsreformen, dass die GKV-Ausgaben trotzdem und in zunehmendem Maße steigen:
Von 1989 bis 2003 stiegen die GKV-Ausgaben um etwa drei Mrd. Euro im Jahr, von 2004 bis 2018 um rund fünf Mrd. Euro und seit 2019 bis 2023 um zirka zehn10 Mrd. Euro. Nach der Prognose des GKV-Schätzerkreises vom vergangenen Oktober werden es 2024 knapp 20 und 2025 sogar 22 Mrd. Euro Ausgabenanstieg – das ist (nicht zuletzt im Verbund mit den Anstiegen in den der gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung) eine politisch und medial relevante Größenordnung; die Ampelkoalition ist zuletzt an einem weniger kleinen Fehlbetrag gescheitert.
Die absoluten Steigerungen sind ein Punkt, der andere sind die Beitragssätze: Diese konnten von 1989 bis 2004 bei konstant 14 % des Bruttogehaltes gehalten werden – immerhin, können die Regulatoren für sich sagen. Seit 2005 kam dann zu dem „allgemeinen“ Beitragssatz von 14,6 % ein kassenspezifischer Zusatzbeitrag, der 2005 zunächst bei durchschnittlich 0,9 Prozent lag und jährlich neu justiert wird. Der durchschnittliche Gesamtbeitrag mäanderte bis 2013 um 15 %, dann bis 2020 um 15,5 % und hat sich bis 2021 auf 15,9 Prozent erhöht. 2023 stieg er 16,2 und 2024 sogar auf 17,1 % – den einstweiligen Höchststand.
Von 15,5 % im Vor-Corona-Jahr 2019 auf nun schon über 17 % GKV-Beitragssatz bei gleichzeitiger Erwartung einer weiteren Trendfortsetzung. Die GKV treibt die Lohnkosten im deutschen Arbeitsmarkt und ist damit ein gravierender Stör- und Bremsfaktor für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Diese Einschätzung wird unisono von praktisch allen Parteien, Medien, Wirtschaftsinstituten und wohl auch von „den kleinen Leuten auf der Straße“ einmütig geteilt. Die wirtschafts- und sozialpolitische Konsequenz, die ebenfalls eine überwältigende Zustimmung findet, ist: Es muss sich bei der GKV „etwas“ tun. Das Gesundheitswesen ist als wirtschaftspolitischer Störfaktor identifiziert, der einer gesamtwirtschaftlichen Erholung im Wege steht.
Ziele von CDU/CSU und SPD in ihren Wahlprogrammen
Interessanterweise äußern sich dazu sowohl CDU/CSU als auch SPD – zumindest in den Wahlprogrammen – nur recht vage:
CDU/CSU möchte die Beibehaltung des dualen Systems aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung, die digitale Gesundheitsversorgung und Telemedizin fördern und die Versorgungssicherheit insbesondere in ländlichen Regionen durch eine Stärkung der ambulanten und stationären Versorgung verbessern.
Die SPD möchte eine Bürgerversicherung einführen, um die gesetzliche und private Krankenversicherung zu vereinheitlichen, und die gesetzliche Krankenversicherung durch eine solidarische Finanzierung stärken. In der Pflege sollen die Arbeitsbedingungen verbessert und die Zahl der Pflegekräfte erhöht werden.
Selbst bei gutwilliger Interpretation ist aus keinem der Parteiprogramme ersichtlich, wie damit die oben dargestellte Kostenentwicklungsproblematik der GKV angegangen werden soll. Im Gegenteil: Abseits der Parteiprogramme sind noch weitere Ideen aufgesattelt worden, wie zum Beispiel die Deckelung von Selbstbehalten in der Heimpflege („maximal 1.000 Euro monatlich als Eigenanteil“ – vorgeschlagen von der SPD) oder „10 % Beitragsrabatt bei Nutzung der ePA“ (ein Impuls der Union).
De facto schätzen beide Parteien die Lage so ein, dass Leistungskürzungen nur sehr schwer zu vermitteln wären. Zwar findet die leere Floskel „man muss die Gesundheitskosten in den Griff bekommen“ Zustimmung, doch die Gesellschaft will keine langen Wartezeiten auf Arzttermine, keine personell unterbesetzten Heime und Kliniken, keine Arzneimittellieferengpässe oder Apothekenschließungen. Alle Betriebe im Gesundheitswesen sind Teil der Gesamtwirtschaft und als solche mit Inflation belastet. Die Boomer-Jahrgänge kommen nun in die unter dem Aspekt der Gesundheitskosten teuerste Lebenszeit und beanspruchen Leistungen. Der Bevölkerungszuwachs der letzten Dekade ist zu den Angebotskapazitäten im Gesundheitswesen gegenläufig – man wird wohl mit den Vertragsärzten über mehr als die vereinbarten 25 Wochenstunden Praxisöffnungszeit für GKV-Versicherte reden müssen. Die erwerbstätigen Menschen in Deutschland nehmen gesundheitliche Einschränkungen anders als früher war, gehen deshalb öfter zum Arzt und werden häufiger krankgeschrieben. Die Ampelkoalition, die ansonsten nichts mehr zustande bringen konnte, hat trotz völliger Zerrüttung nach ihrem Bruch noch die Aufhebung der Honorardeckelung für die Hausärzte und die Zahlung des Mutterschaftsgeldes auch bei Fehlgeburten beschlossen – so wichtig ist den Parteien die Gesundheitspolitik. All das wirkt kostensteigernd und ist Ausdruck des wahrgenommenen gesellschaftlichen Willens des Souveräns, und die tradierten alten sowie neuen sozialen Medien unterstützen dies. Keine Partei wäre gut beraten, dies zu ignorieren, und keine wagt es, das zu tun.
Die diversen Bundesregierungen der vergangenen 40 Jahre haben dementsprechend agiert. Wir haben im Gesundheitswesen die Koinzidenz einer doppelten Inflation: steigende Kosten eines GKV-Systems, das in eine sich inflationierende Gesamtwirtschaft eingebettet ist, und gleichzeitig steigende Versorgungsansprüche der Bevölkerung.
Union und SPD haben in ihren diversen Koalitionen in einer bemerkenswerten Harmonie und Kontinuität, die in allen anderen Politikfeldern ihresgleichen sucht, darauf in den letzten vier Dekaden versucht, mit einer fortgesetzten, zunehmend perfektionierten Regulierung die Folgen dieser doppelten Inflation einigermaßen in den Griff zu bekommen. Dies gelingt jedoch zunehmend schlechter. Beispielsweise kann man auf die ePA-Nutzung setzen – aber es wäre blauäugig, sich davon den „großen Wurf“ in Sachen Kostendämpfung zu versprechen.
Eine bloße Fortsetzung der bisherigen immer kleinteiligeren, detaillistischen Regulierungstechnik in der neuen Legislaturperiode von 2025 bis 2029 würde die Probleme verschärfen. Die GKV bliebe in der Rolle des wirtschaftspolitischen Bösewichts und Störfaktors. Die Frage ist, wie ist es möglich, die GKV aus dieser problematischen Rolle herauslösen?
Schauen wir dazu auf die Finanzierung der GKV.
- Das Gros der GKV-Ausgaben (93 % in 2024 und 94 % in 2025) wird hälftig von Arbeitnehmern und Arbeitgebern über den bundeseinheitlichen allgemeinen Grundbetrag und den kassenspezifischen Zusatzbeitrag getragen.
- Die Beiträge für geringfügig Beschäftigte machen ein % der GKV-Finanzierung aus und werden von den Arbeitgebern an die Minizentrale abgeführt, die diese nach Abzug einer Verwaltungskostenpauschale an die GKV weiterleitet.
- Der Bundeszuschuss, der vom Grundgedanken her versicherungsfremde, aber politisch gewollte Leistungen finanzieren soll, deckt fünf % der Einnahmen der GKV ab. Die GKV moniert, dass beispielsweise für Migranten oder ukrainische Flüchtlinge, die Bürgergeld bekommen, keine kostendeckenden Beiträge vom Bund gezahlt werden.
- Die Liquiditätsreserve im Gesundheitsfonds ist aus nicht an die Krankenkassen ausgekehrten GKV-Beiträgen aufgebaut worden und von etwa neun Mrd. Euro 2023, über sechs Mrd. Euro 2024, auf knapp fünf Mrd. Euro 2025 geschrumpft. Die Zuführungen daraus an die GKV werden vom Schätzerkreis für 2025 mit 0 Euro angesetzt, nachdem es in 2024 noch 3 Mrd. Euro waren. Mangels Masse dürften Zuweisungen aus dem Fonds perspektivisch keine große Rolle spielen.
Ein Ausweg
Wenn eine Wirtschaftsbranche prosperiert, wird das grundsätzlich als Positivum erfasst und wahrgenommen, denn das bedeutet Arbeitsplätze und Einkommen, aber auch Steueraufkommen, mit dem die Politik der jeweiligen Regierung finanziert werden kann.[1] Umgekehrt wird es als bedrohlich angesehen, wenn eine Wirtschaftsbranche kränkelt oder gar, wie seinerzeit Kohle und Stahl oder derzeit die Automobilindustrie, schrumpft.
Natürlich ist es so, dass prosperierende Branchen im Portfolio der Konsumenten Umschichtungen anstoßen. Die Nachfrage nach neuen Produkten und Dienstleistungen verdrängt im Umsatz oder Absatz die bisher konsumierten Produkte und Dienstleistungen – das gilt beispielsweise für die Landwirtschaft oder generell von der Produktion hin zu Dienstleistungen. Umschichtungen in den Warenkörben der Konsumenten sind in einer sich entwickelnden Wirtschaft systemimmanent und daher völlig normal. Die bedrängten Branchen werden durch das Konsumentenverhalten im Preis, in der Absatzmenge oder dem Umsatz reduziert.
Dieser Effekt wird (außer von den in Bedrängnis geratenen Branchen) nicht als „böse“ angesehen: Selbstverständlich haben die heute üblichen Ausgaben für Streaming-Abos, Telekommunikation, Notebooks usw. andere Branchen relativ oder auch absolut zurückgedrängt. Klar ist, dass für den Konsumenten Portfolioumschichtungen nicht einfach sind, denn sie betreffen ihn unmittelbar persönlich. So haben die Energiekosten seit dem Ukrainekrieg zu massiven Umschichtungen in den Portfolios geführt – da wurden Urlaube verschoben oder Autokäufe gestrichen.
Der geschulte Ökonom beobachtet und misst solche Portfolioumschichtungen, aber er bewertet sie nicht und kategorisiert sie nicht in „gut“ und „böse“, denn sie sind nur messbar gewordene Konsumentenentscheidungen. Wenn sich eine Gesellschaft „mehr“ Gesundheitsdienstleistungen wünscht, ist das in Ordnung; diese müssen aber auch von der Gesellschaft bezahlt werden.
Das Gesundheitswesen hat eine enorm starke immanente Tendenz, zu wachsen und zu prosperieren: Es gibt ungedeckte Nachfragen (mehr Menschen mit einem ambitionierteren Gesundheitsverständnis, mehr ältere Menschen und insofern ein altersstrukturbedingt höheres Morbiditätsvolumen) und zugleich erhebliche diagnostische und therapeutische Produkt- und Prozessinnovationen.
„Eigentlich“ müsste man in einer Welt, in der aus Deutschland traditionelle Branchen ins Ausland abwandern oder durch ausländische Produkte und Dienstleistungen ersetzt werden, sich über das Gesundheitswesen als zukunftsfähige Wachstumsbranche in Deutschland freuen, die Arbeitsplätze schafft, das Bruttoinlandsprodukt erhöht und damit zum Wohlstand beiträgt. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Warum ist das so? Die zentrale Ursache ist die Finanzierung der GKV über die prozentuale Anbindung an die Löhne und Gehälter. Kostensteigerungen in der GKV belasten dadurch per se die Kosten der anderen Branchen – das ist etwas völlig anderes als die gerade dargestellte Verdrängung einer Branche in Preis, Absatz oder Umsatz durch andere Branchen.
Wenn man die GKV aus der Störfaktorecke herauslösen und zu einer „normalen“ Branche machen will, muss man sich mit der Frage befassen, ob und wenn ja, wie weit die Lohnkostenerhöhungsautomatik der GKV-Beiträge vermieden werden kann. Zwei grundlegende Varianten:
Partielle Entkopplung: Dies wäre ein Szenario, in dem der allgemeine GKV-Beitragssatz weiterhin paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen wird, aber der kassenspezifische Zusatzbeitrag ausschließlich von den Arbeitnehmern. Diese Regelung gab es übrigens von 2011 bis 2019: 2011 wurde mit dem „Gesetz zur Stärkung der Finanzkraft der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-Finanzierungsgesetz) festgelegt, dass der Zusatzbeitrag allein von den Versicherten getragen wird. Diese Regelung wurde 2019 mit dem „Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-FQWG) dahingehend geändert, dass seither auch der Zusatzbeitrag wieder hälftig von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen wird.
Vollständige Entkopplung: In diesem Szenario würden zu einem Umstellungszeitpunkt die Arbeitgeberbeiträge vollständig in eine einmalige Erhöhung der Monatslöhne umgewandelt. Das Inkasso der GKV-Beiträge könnte wie bisher über die Arbeitgeber erfolgen. Es wäre wie z.B. beim Inkasso der Kirchensteuer durch den Fiskus eine Aufwandsvergütung an die Arbeitgeber zu erwägen; vielleicht würde dann die eine oder andere Krankenkasse das Inkasso selbst übernehmen. Erhöhungen des allgemeinen GKV-Beitrages, der Zusatzbeiträge oder der Beitragsbemessungsgrenzen würden nicht mehr zu einer automatischen Lohnerhöhung führen. Sie würden sich ab dann wie alle anderen Preisänderungen im Portfolio der Arbeitnehmer auswirken und zu Portfolioumschichtungen führen. Die Kompensation erhöhter GKV-Beiträge müssten dann wie die Erhöhungen von Mieten, Energiekosten, Lebensmittelpreisen usw. von den Arbeitnehmern in die Lohnverhandlungen in dem Gesamtpaket mit ihren Arbeitgebern eingebracht werden.
Bei der partiellen Entkopplung wäre die Rolle des GKV-Systems als Störfaktor zwar reduziert, aber nicht beseitigt, denn durch den allgemeinen Beitragssatz und Änderungen der Beitragsbemessungsgrenzen würden nach wie vor die Lohnkosten direkt beeinflusst. Wenn Beitragssatzerhöhungen zukünftig ausschließlich über den Zusatzbeitrag laufen würden, wäre die Lohnnebenkostenproblematik gegenüber dem Status quo perspektivisch geringer. Gleichwohl – es wäre nicht der große Wurf, um das GKV-System aus seiner „Bösewichtrolle“ herauszulösen.
Mit der vollständigen Entkopplung würde erreicht, dass vom Umstellungszeitpunkt Veränderungen der absoluten und auch der prozentualen GKV-Beiträge keinen automatischen Reflex auf die Lohnkosten mehr haben. Das GKV-System wäre nicht länger ein wirtschaftspolitischer Störfaktor, die Lohnkostenerhöhungsautomatik wäre aus dem System ausgebaut. Preissteigerungen in der GKV würden nicht mehr unmittelbar die Lohnkosten anderer Branchen erhöhen. Sie würden wie Preissteigerungen in anderen Branchen auf die Verbraucher wirken: So wie in der Energiepreiskrise infolge des Ukrainekrieges werden die Verbraucher mit Portfolioumschichtungen und geänderter Prioritätensetzung reagieren, und sie werden in den Lohnverhandlungen Inflationsausgleich fordern.
Übrigens: Genauso wie diese Lohnentkopplung wirken im GKV-System seit Jahrzehnten vielerorts genutzte Mechanismen wie Negativlisten, Leistungsausgrenzungen oder Selbstbehalte – denn sie nehmen bisherige GKV-Kosten aus der Lohnanbindung heraus. So wurde 2004 die Versorgung mit rezeptfreien Arzneimitteln weitgehend aus der GKV-Versorgung herausgenommen – seither wächst dieses Marktsegment dynamisch nach Preis, Absatz und Umsatz und die Versicherten müssen es aus ihrem Portfolio finanzieren. Doch der OTC-Bereich ist ganz anders als der RX–Arzneimittelbereich im Hinblick auf die Lohnnebenkosten definitiv kein wirtschaftspolitischer Störfaktor. Ähnliches gilt für die Versorgung mit Zahnersatz oder im Hilfsmittelbereich, in denen die Versicherten signifikante Selbstbehalte tragen müssen. Auch hier reagieren die Verbraucher mit Portfolioumschichtungen.
Im Status quo erhöhen alle GKV-Beitragserhöhungen automatisch die Lohnkosten, während im Szenario der vollständigen Entkopplung die GKV-Beiträge wie Wohnkosten oder Lebensmittelausgaben oder alle anderen Ausgabenpositionen im Portfolio der Versicherten enthalten wären und die Automatik der Arbeitskostenerhöhung entfallen würde. Höhere GKV-Beiträge wären dann für die Versicherten Teil der insgesamten Kostensteigerungen und würden von ihnen in die Lohnverhandlungen eingebracht. Wenn man sich ansieht, wie die Tarifpartner über lange Jahre und auch in der gerade überwundenen Hochinflationsphase ihre Verhandlungen bewältigt haben, kann man durchaus die Position vertreten, dass das auch in Zukunft gelänge. Es ist so, dass in dem dargestellten Szenario die Ausgaben für gesetzliche Krankenversicherung mit den Ausgaben für Lebensmittel, Wohnen, Urlaub und Mobilität in Konkurrenz stehen würden. Doch im heutigen System ist das letztlich nicht anders, denn die Lohnerhöhungsautomatik der GKV-Beiträge nimmt den Tarifparteien Spielraum in den Verhandlungen weg.
Und man hätte ein GKV-System, das Arbeitsplätze schaffen darf und Einkommen generiert, das den Versicherten die gewünschte Gesundheitsversorgung gibt und so Nutzen stiftet, das zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt – ohne ein wirtschaftspolitischer Störfaktor zu sein.
[1] Es gibt allerdings Branchen, deren Prosperität aus anderen, „übergeordneten“ Gründen als negativ angesehen werden: z.B. klimaschädliche Industrien, Drogenhandel usw. oder aber Branchen, die nicht über den Konsumentenwillen, sondern politisch motivierte Subventionen und Dirigismen getriggert werden.
Lesen Sie vom Autor auch:
„Apothekenvergütung: Auseinandersetzungen gehen weiter“, Observer Gesundheit, 27. Juli 2023,
„Vor-Ort-Apotheken & Arzneimittelinnovationen“, Observer Gesundheit, 26. April 2023.
„Nach ´zu` kommt ´ab`!“, Observer Gesundheit, 26. November 2019,
„Gewinne für Heilberufler“, Oberserver Gesundheit, 13. August 2018,
„2hm-Gutachten zur Apothekenhonorierung“, Observer Gesundheit, 3. Mai 2018.
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