Gentherapien sind sehr wohl Hoffnungsträger

Dr. Kai Joachimsen, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V.

Systemsprenger“ – damit bezeichnet man in der Psychiatrie und Pädagogik eigentlich Kinder oder Jugendliche, bei denen bislang alle Therapiekonzepte versagen. Die Techniker Krankenkasse (TK) hat diesen Begriff Anfang März bei der Vorstellung des in Zusammenarbeit mit dem aQua-Institut erstellten Reports „Arzneimittel Fokus“ auf Gen- und Zelltherapien (GCT) bezogen. „Hoffnungsträger oder Systemsprenger?“ fragte sich die TK und man musste nicht lange warten, bis die bekannten Bedenken einer Überlastung des GKV-Systems auf den Tisch kamen.

Mit „zusätzliche Kosten zwischen 27 und 36 Milliarden Euro in den nächsten Jahren“ rechnet die TK. Sagte aber wenig überraschend nichts zu Einsparungen durch Heilungen. Eine einseitige Betrachtung auf wackligen Füßen!

Der Report berechnet mit einer Formel, in der die F&E-, Marketing- und Produktionsaufwendungen berücksichtigt werden, die Gesamtbelastung künftiger GCT für die GKV auf ca. 30 Mrd. Euro für fast 50 Produkte, die „in der Pipeline“ sind. Das Dokument nennt diese Zahlen auch richtigerweise „ein stark vereinfachtes Modell zur Prognose“. Die 2019 erstellte Prognose über die Anzahl der zugelassenen Gen- und Zelltherapieprodukte (bis zum Jahr 2025 zehn bis 20 GCT pro Jahr) ist nach heutiger Expertenmeinung unrealistisch. Der Bericht nutzt jedoch diese überkommende Schätzung als ein Schreckensszenario, um potenzielle Zusatzkosten für das Gesundheitssystem noch stärker zu dramatisieren.

 

Veraltete Prognosen und hinkende Vergleiche

Und darin liegt wohl die größte Schwäche der Untersuchung: Sie baut mit einem stark vereinfachten und nicht mehr aktuellen Modell zur Prognose ein Schreckensszenario für künftige Generationen potentieller Patientinnen und Patienten auf. Damit malt sie das Menetekel eines Gesundheitssystems an die Wand, das nicht mehr in der Lage sein wird, alle Patientinnen und Patienten mit diesen neuartigen Medikamenten zu versorgen. Dies tut der Report, unter anderem indem er auf die Unterschiede zwischen dem deutschen GKV-System (mit all seinen Vorzügen) und dem eher dürftigen Gesundheitssystem in den USA eingeht. Dadurch wird suggeriert, dass Versicherten in Deutschland es auch bald so ergehen könnte, wie in den USA, wenn die Medikamentenkosten weiterhin steigen.

Des Weiteren versäumt die TK in der durchaus interessanten Gegenüberstellung der sogenannten one-and-done-Kosten der meisten GCT mit den Kosten, die das Gesundheitssystem aufwendete, wenn es diese Therapie nicht gäbe, auf Details einzugehen. Zudem wiederholt das TK-Dokument die These, dass angesichts der neuartigen Therapien (und den berechneten hohen Kosten) und im Zusammenhang mit den endlichen Ressourcen der Solidargemeinschaft die Frage einer Priorisierung gestellt werden müsse, welche Patientinnen und Patienten künftig diese Therapien bekommen könnten. Der Report zeichnet das Schreckensszenario einer nach „bestimmten Kriterien“ („ethisch vertretbare Einschränkungen“) unterschiedlichen Versorgung – ohne im Detail auf diese einzugehen. Damit möchte die Studie das Schreckensszenario untermauern und versucht diese Drohkulisse, mit Zahlen zu belegen.

 

GKV-Arzneimittelausgaben sind seit Jahren konstant

Bedauerlicherweise versäumt der Report, auf die Tatsache hinzuweisen, dass der prozentuale Anteil der Arzneimittel-Ausgaben an den Gesamtkosten der GKV seit Jahren konstant ist. Dieser liegt bei rund 17 Prozent, nach Abzug der Handelsstufen bzw. Rabatte und Abgaben bei rund 11 Prozent:

 

 

 

 

 

Die TK verwendet eine gezielte Auswahl bestimmter Daten oder Statistiken, um die Kosten für die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln zu beschreiben. Diese Daten sind allerdings recht einseitig und unvollständig. Damit soll offensichtlich eine bestimmte Argumentationslinie samt Schlussfolgerung unterstützt werden: Gen- und Zelltherapien sind zu teuer. Eine repräsentative Bandbreite relevanter Daten oder Statistiken wird von der TK nicht einbezogen, was dazu führt, dass ein verzerrtes Bild entsteht, da wichtige Informationen nicht berücksichtigt wurden.

Immerhin weist die TK darauf hin – wenngleich mit fast vorwurfsvollem Unterton –, dass die Entwicklung von GCT einen beträchtlichen Forschungs- und Mittelaufwand mit sich bringt. Natürlich ist es völlig klar, dass sich Forschung und Entwicklung weiterhin lohnen müssen, ohne dass die Solidargemeinschaft überlastet wird. Das deutsche AMNOG-System ist auf diesen Interessenausgleich angelegt, indem es auf Basis einer Nutzenbewertung ein Verhandlungsverfahren vorgibt. Die GKV ist hier an allen Prozessschritten maßgeblich beteiligt. Zudem hat die Pharmaindustrie auch Vorschläge mit Blick auf innovative neue Therapieansätze gemacht. Insbesondere bei einigen sehr komplexen und zum Beispiel hoch personalisierten (Einmal)Therapien vor allem aus dem Bereich der Advanced Therapy Medicinal Products (ATMP) kann die Nutzung ergebnisorientierter Vergütungsmodelle wie Pay-for-Performance (P4P) sinnvoll sein.

 

Pay-for-Performance als Win-Win-Situation

Das heißt, dass die Krankenkassen nur dann den Preis vollständig erstatten, wenn das gentherapeutische Arzneimittel auch auf längere Sicht ausreichend wirksam ist. Ein solches Erstattungsmodell kann man entweder so gestalten, dass die Krankenkassen einen bestimmten Betrag wieder rückerstattet bekommen, falls das Medikament nicht wie erwartet „performt“. Oder die Kassen zahlen von vornherein nur in Raten, wobei die noch ausstehenden Zahlungen bei unbefriedigendem Behandlungserfolg wegfallen. Solche Modelle sind für beide Seiten interessant. Für die Krankenkassen, weil sich die Kosten auf mehrere Jahre verteilen und sie womöglich nicht alles zahlen müssen. Und für die pharmazeutischen Unternehmen, weil sie – allerdings abhängig vom Erfolg – höhere Erstattungsbeträge in Aussicht gestellt bekommen.

Unabdingbare Voraussetzung für die zukünftige Nutzbarkeit von P4P-Modellen ist allerdings deren Gleichberechtigung gegenüber Einmalzahlungen im Risikopool und eine entsprechende Anpassung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA). Ein dazu vorliegendes Gutachten des BAS sollte baldmöglich umgesetzt werden. Eine bestärkende gesetzliche Verankerung von P4P-Modellen im AMNOG-Regime im Hinblick auf die zentrale Preisverhandlung zwischen pharmazeutischem Unternehmer und GKV-Spitzenverband ist hilfreich. Dabei sollten die vorgenannten Aspekte in der (gesetzlichen) Ausgestaltung berücksichtigt werden. Es ist schon verwunderlich, dass die TK dem AMNOG-Prozess bei genau diesen Therapieformen die Gültigkeit abspricht, indem sie vor dem Hintergrund ihres Schreckensszenarios schreibt, dass man weg vom nutzenbasierten, hin zu einem kriterienbasierten (Japan) oder kostenbasierten Preisfindungsmodell müsse.

 

Fazit

Insgesamt bedauere ich den Gesamtduktus des TK-Reports, da GCT heute schon von behandelnden Ärztinnen und Ärzten ein unschätzbarer Nutzen bei der Behandlung von zum Teil bislang unheilbaren Krankheiten attestiert wird. Von einer „extrem erfolgreichen Therapie einer ansonsten zum Tode führenden Erkrankung“ spricht übrigens Andreas Ziegler, Ärztlicher Leiter des Pädiatrisch Klinisch-Pharmakologischen Studienzentrums des Universitätsklinikums Heidelberg. Und das hat der Mediziner nicht irgendwo gesagt, sondern auf der Pressekonferenz der TK. Gen- und Zelltherapien sind also sehr wohl Hoffnungsträger!

 

 

Weitere Beiträge im Observer Gesundheit zu diesem Thema: 

Dr. Jens Baas: „Arzneimittelpreise: „Wie Medikamente bezahlbar und für alle zugänglich bleiben“, Observer Gesundheit, 12. Oktober 2023,

Stefan Neudörfer: „Erfolgreichen Patientenzugang zu Einmaltherapien umsetzbar gestalten“, Observer Gesundheit, 30. Mai 2023, 

Dr. Anja Tebinka-Olbrich, „Erfolgsabhängige Erstattungsmodelle für Einmaltherapien in der Hämophilie umsetzbar gestalten“, Observer Gesundheit, 26. Mai 2023.

.

 


Observer Gesundheit Copyright
Alle Kommentare ansehen