Für eine gute Versorgung bei psychischen Erkrankungen – im Mittelpunkt muss der Mensch stehen!

Maria Klein-Schmeink MdB, gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen

Psychische Erkrankungen treffen heutzutage viele Menschen – oft auch ganz unerwartet. In Deutschland leidet jedes Jahr rund jeder dritte Erwachsene an mindestens einer psychischen Störung. Immer mehr Menschen benötigen aufgrund einer psychischen Krise oder einer schweren psychischen Störung schnelle Hilfe und Therapie. Dies wirkt sich dabei auch auf das Berufsleben aus. Psychische Erkrankungen stehen an zweiter Stelle der häufigsten Ursachen für betriebliche Fehlzeiten und führen zu deutlich längeren Krankschreibungen als körperliche Krankheiten. Auch für den Bezug von Erwerbsminderungsrenten gelten psychische Erkrankungen als die Hauptursache. Damit verbunden ist ein besonders hohes Armutsrisiko für psychisch erkrankte Menschen. 2015 verursachten psychische Erkrankungen Kosten in Höhe von knapp 45 Milliarden Euro und sind damit die zweitkostenträchtigste Krankheitsklasse nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Trotz ihrer Häufigkeit werden psychische Erkrankungen oft zu spät erkannt und unzureichend behandelt. Viele trauen sich nicht, offen über ihr Leid zu sprechen und meiden aus Angst vor Stigmatisierung oder Autonomieverlust das psychiatrische System.

Die Entwicklungen machen deutlich: Der Handlungsdruck ist enorm. Das zeigen auch der Anstieg von Patient*innen in psychiatrischen Krankenhäusern, hohe Wiederaufnahmequoten, Versorgungsbrüche zwischen ambulanter und stationärer Behandlung sowie lange Wartezeiten in der ambulanten Behandlung. Schwer oder chronisch psychisch erkrankte Menschen benötigen häufig Versorgungsansätze, die alle Lebensbereiche gleichermaßen abdecken: Wohnen in Gemeinschaft oder allein, soziale Teilhabe, Beschäftigung, Hilfen bei der Bewältigung von psychiatrischen Krisen und stationäre psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung. Für die Versorgung kommt es daher besonders auf die enge Zusammenarbeit zwischen den Sektoren und Berufsgruppen an. Individuelle Bezugspersonen und personelle Kontinuität sind dabei von besonderer Bedeutung.

Was wir deshalb brauchen, ist eine Weiterentwicklung der Versorgung, die sich am individuellen Behandlungs- und Unterstützungsbedarf orientiert. Niedrigschwellige Hilfsangebote und der Ausbau ambulanter Hilfe sollen ermöglichen, Menschen in akuten Krankheitsphasen frühzeitig aufzufangen, damit Klinikaufenthalte gar nicht erst nötig werden. Denn mit einer guten ambulanten Versorgung können die Selbstbestimmungsrechte der Menschen gewahrt und zugleich stationäre Aufenthalte sowie Zwangsmaßnahmen vermieden werden. Das Versorgungssystem muss dabei die richtigen Hilfen bieten, ob bei psychischen Belastungsstörungen, die in Folge von Stress und Überlastungen im Arbeitsleben in den letzten Jahren stark angewachsen sind, oder bei schweren chronischen psychischen Erkrankungen. Benötigt werden Angebote der ambulanten Krisenintervention, genügend psychotherapeutische Plätze ohne lange Wartezeiten, Angebote der ambulanten, wohnortnahen medizinischen Rehabilitation sowie solche, die auch das persönliche Umfeld einbeziehen.

Ein erster wichtiger Schritt ist es, die Bedarfsplanung für Psychotherapeut*innen endlich grundlegend zu reformieren und am tatsächlichen Bedarf auszurichten. Es kann nicht sein, dass Menschen in Krisen weiterhin durchschnittlich 5 Monate auf eine Behandlung warten müssen oder, wie im Ruhrgebiet, sogar über 7 Monate lang unversorgt bleiben. Dabei ist dies ein hausgemachtes und vermeidbares Problem, denn ausreichend Psychotherapeut*innen gibt es. Sie werden jedoch nicht für die Kassenabrechnung zugelassen. Benötigt werden darüber hinaus komplexe Versorgungsangebote, bei denen die verschiedenen Leistungserbringer*innen – Fachärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Soziotherapeut*innen und psychiatrische Krankenpflege – im Team eine miteinander abgestimmte Behandlung übernehmen.

Beratungs- und Unterstützungsangebote müssen auf Augenhöhe erfolgen. Ganz wichtig ist es, Angehörige stärker mit einzuziehen, denn Angehörige sind eine wichtige Ressource für Genesung und Teilhabe, gleichzeitig benötigen sie aber auch häufig selbst Unterstützung und Entlastung. Auch die Jüngsten und Kleinsten in unserer Gesellschaft sind vor psychischen Erkrankungen nicht immer gewahrt. Wir müssen deshalb auch eine gute Prävention, Versorgung und Nachsorge von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen sicherstellen. Familien mit psychisch kranken Eltern oder traumatisierten Kindern benötigen häufig parallel Unterstützung aus verschiedenen Hilfesystemen, wie Kinder- und Jugendpsychiater*innen sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeut*innen, Erwachsenenpsychotherapeut*innen und -psychiater*innen, Therapeut*innen anderer Fachrichtungen, die Jugendhilfe, Schulen und Kitas.

Zudem müssen sich die psychotherapeutische Behandlung und psychosoziale Unterstützung von Geflüchteten maßgeblich verbessern. Deshalb müssen die spezialisierten psychosozialen Zentren für Geflüchtete und Folteropfer ausgebaut und verlässlich finanziert sowie mehr muttersprachliche Psychotherapeut*innen zugelassen werden. Damit Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen nicht deutschsprachige Patient*innen angemessen aufklären und behandeln können, sollte der Bund die Finanzierung von professionellen Sprach- und Kulturmittler*innen übernehmen. Denn eine gute und diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung für Menschen, die Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, ist ein Gebot der Menschlichkeit und unserer Verfassung.

Zu guter Letzt brauchen wir vor allem eins: mehr Akzeptanz von und Information über psychische Erkrankungen. Denn je größer die Angst vor Stigmatisierung und Autonomieverlust ist, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen sich nicht trauen, offen über ihr Leid und ihre Beeinträchtigung zu sprechen oder Hilfe überhaupt in Anspruch zu nehmen. Das gilt auch für alle anderen in unserer Gesellschaft: Nichtwissen fördert Angst, Ausgrenzung und Stigmatisierung. Das wiederum führt dazu, dass Behandlungserfolge ausbleiben und Integration scheitert. Dabei kann durch rechtzeitige Hilfe vermieden werden, dass das Leid der Menschen sich unnötig verschlimmert oder sogar chronisch wird. Der Besuch beim Psychiater, der Psychotherapeutin, dem Krisendienst oder der Beratungsstelle müssen für Betroffene so selbstverständlich werden, wie der Arztbesuch bei einem Beinbruch.


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