22.07.2024
Finanzierungskrise der Sozialversicherungen
Regierung vertagt die notwendigen Entscheidungen
Dr. Robert Paquet
Die Krankenkassenbeiträge werden steigen; auch der sozialen Pflegeversicherung drohen demnächst weitere Erhöhungen. In den aktuellen Haushaltsbeschlüssen zeigt sich jedoch, dass diese Themen auf der Bundesebene keine Priorität genießen. Gleichwohl arbeitet der Gesundheitsminister an teuren Reformen für das Gesundheitswesen und verspricht Leistungsverbesserungen in der Pflege. Die dabei wie ein Mantra angekündigten Einsparungen durch Effizienzgewinne sind reine Phantasie oder verlieren sich in der Zukunft.
Die Szene drängt unverdrossen auf Erfüllung des Koalitionsvertrages, die viele Probleme lösen würde.[1] Doch der K-Vertrag ist mit dem Ukraine-Krieg („Zeitenwende“) offensichtlich zur Makulatur geworden. Alle echten Lösungsansätze unterliegen in der Ampel der Selbstblockade. Trotzdem feiert die Regierung das und ihr Flickwerk in selbstgerechtem Ton. Zu den tatsächlichen Problemen kommt die kommunikative Peinlichkeit hinzu. Das hilft nicht beim „Bollwerk“ gegen die AfD (und auch das BSW). Es sieht jedoch so aus, als müssten wir bis zur nächsten Bundestagswahl mit dieser misslichen Lage leben.
Die Tatsachen
Im Auftrag der DAK hat das IGES-Institut die Beitragsentwicklung in der Sozialversicherung bis zum Jahr 2035 berechnet.[2] Durch die schon eingeleiteten Reformprojekte der Bundesregierung und die demographische Entwicklung ist insbesondere in den demographieabhängigen Zweigen der Sozialversicherung in naher Zukunft mit einem weiteren Anstieg der Beitragssätze zu rechnen. In dem Kurzbericht wird davon ausgegangen, „dass (zunächst) keine sozialpolitischen Reaktionen auf die Entwicklungen erfolgen … Die Projektionen stellen somit keine Voraussage dar, sondern sie dienen dazu, den sozialpolitischen Handlungsbedarf aufzuzeigen.“ (ebenda). Basis ist die 15. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Die unterstellte jährliche Einkommensentwicklung entspricht der Finanzplanung des Bundes mit +4 % im günstigen, +3 % im Basisszenario und +2 % im ungünstigen Szenario. Dabei kommt die Rentenversicherung (unter Einbezug des „Rentenpakets II“) im Jahr 2035 auf einen Beitragssatz von 22,3 Prozent (Basisszenario, in der Mitte zwischen 21,8 und 22,7 %). Die Krankenversicherung kommt (inclusive Zusatzbeitrag) auf einen durchschnittlichen Beitragssatz von 19,3 Prozent (in der Mitte zwischen 17,7 und 20,6 %). Die soziale Pflegeversicherung (SPV) kommt auf einen Beitragssatz in Höhe von 4,1 Prozent (zwischen 3,5 und 4,7 %). Die Arbeitslosenversicherung kommt im Basisszenario auf 3,0 Prozent (zwischen 2,8 und 3,2 %).
Zusammengenommen steigt der Gesamtsozialversicherungsbeitrag von heute 41,1 % fast kontinuierlich auf 48,6 Prozent (zwischen 45,8 und 51,2 %). Die mit der Krankenhausreform avisierten Effizienzgewinne sind in dieser Rechnung schon ab 2030 als Minderausgaben berücksichtigt. Dabei ist es völlig unwahrscheinlich, dass es in den kommenden Jahren nicht erneut zu kostspieligen Rentenreformen kommt. Die Bundesagentur für Arbeit soll nach den Plänen der Ampel-Koalition zu einer Bildungsagentur umgebaut werden; mit weitreichenden Ansprüchen der Versicherten für die Finanzierung der beruflichen Weiterbildung. Für die SPV sind bereits weitere Zuschüsse zu den „Eigenanteilen“ versprochen.
Dabei grenzt sich die DAK ausdrücklich von den „aktuell veröffentlichten Horrorszenarien für die Beitragsentwicklung in der Pflegeversicherung“ ab.[3] Gleichzeitig ist bekannt, dass einige Krankenkassen ihren Beitrag bereits unterjährig erhöhen müssen. So wird beispielsweise die Kaufmännische Krankenkasse KKH (1,6 Millionen Versicherte) ihren erst im Januar auf 1,98 Prozent erhöhten Zusatzbeitrag zum 1. August erneut um 1,3 Prozentpunkte auf 3,28 Prozent anheben.[4] Auch bei der Knappschaft mit 1,4 Mio. Versicherten steht ab 1. Oktober eine Erhöhung des Zusatzbeitrags an. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass beide Kassen zum Jahreswechsel erneut erhöhen müssen.[5] Die Spreizung der Beitragssätze in der GKV nimmt damit zu. Bei der letzten Gesundheitsministerkonferenz der Länder wurde hier bereits Handlungsbedarf erkannt: Auch eine „Überprüfung der Ausgewogenheit des Risikostrukturausgleichs“ wird gefordert.[6]
Als Lösungsverfahren wird vom DAK-Vorsitzenden Andreas Storm die Umsetzung des Koalitionsvertrages eingefordert (Dynamisierung des Bundeszuschusses zur GKV, vollständige Refinanzierung der Leistungsausgaben der Bürgergeldbezieher aus Steuermitteln etc.). Als langfristige Strategie fordert Storm die Wiederaufnahme einer „einnahmeorientierten Ausgabenpolitik“.[7] Was genau dahintersteht, wurde zwar nicht ausgeführt. Die Forderung dürfte sich jedoch auf den § 71 SGB V beziehen; in den vergangenen Jahren wurde das generelle Gebot der „Beitragssatzstabilität“ für immer weitere Leistungserbringer aufgehoben, z.T. mit expliziten Anweisungen für die Erhöhung der Vergütungen. Mit der im GSVG vorgesehenen „Entbudgetierung“ der Hausärzte dürfte damit noch lange nicht Schluss sein. Die Gesundheitspolitiker – jedenfalls die der Ampel-Koalition – sind offenbar der Überzeugung, dass derzeit jede Begrenzung der Einkommen der Gesundheitsberufe den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen unerträglich verschärfen würde.
Die „einnahmeorientierte Ausgabenpolitik“ von Storm ist dabei erkennbar ein Platzhalter für eine noch auszuarbeitende politische Alternativlösung. Ob Storm damit die im neuen Grundsatzprogramm der CDU vage angedeutete Wiederbelebung der „Eigenverantwortung“ bei der Leistungsinanspruchnahme meint, ist eher unwahrscheinlich. Was könnte aber jenseits von Zuzahlungserhöhungen, Selbstbeteiligung und Bonussystemen sonst in Frage kommen? Vor wenigen Wochen hat die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag zu diesen Themen eine Debatte provoziert. Wer das tut, sollte wenigstens in Umrissen ein eigenes Konzept zur Lösung der Probleme in petto haben. Schauen wir uns den Ablauf einmal näher an.
Ein Blick auf die Opposition
Die CDU/CSU-Fraktion hat mit Datum vom 23. April 2024 eine Große Anfrage zur „Stabilität und Nachhaltigkeit der Finanzierung der Sozialversicherung“ (BT-Drs. 20/11131) in den Bundestag eingebracht. Ziel einer Großen Anfrage ist normalerweise, auf Basis der Antwort eine größere Debatte zum Thema zu inszenieren. In diesem Falle dürfte der Zeitpunkt der Einreichung darauf abgestellt haben, dass die Bundesregierung nach dem Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) bis Ende Mai 2024 „Empfehlungen für eine stabile und dauerhafte Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung“ vorzulegen hatte.[8]
Normalerweise teilt der Präsident „der Bundesregierung die Große Anfrage mit und fordert zur Erklärung auf, ob und wann sie antworten werde. Nach Eingang der Antwort wird die Große Anfrage auf die Tagesordnung gesetzt. Die Beratung muss erfolgen, wenn sie von einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages verlangt wird.“ (GO § 101). In diesem Falle ging aber gar nichts wie „normalerweise“.
Die Unions-Fraktion hat noch vor der Antwort der Regierung eine Beratung erzwungen. Zwar wurde die Debatte mehrfach verschoben, aber insgesamt dürfte man bei der Union verstanden haben, dass nach der Vorlage des umfassenden Berichts der Bundesregierung zur Pflegefinanzierung keine nennenswerten neuen und verwertbaren Erkenntnisse aus der Antwort gezogen werden können. (Die Antwort ist für November zugesagt.) Man wollte wohl zum Schluss nur noch vor der Sommerpause einen Anlass, um die Bundesregierung wegen ihrer Untätigkeit gegenüber den anstehenden Problemen zu kritisieren. Wenn das die taktische Überlegung war, ist die Absicht gründlich schiefgegangen. Das hat mehrere Gründe.
Die Anfrage selbst ist nicht gut gebaut: So will man z. B. in Frage Nummer 4 wissen, welche Maßnahmen die Bundesregierung plant, um die Summe der Beitragssätze in der Sozialversicherung auf unter 40 Prozent zurückzuführen. Dabei ist doch offensichtlich, dass der Bundesregierung dieses Ziel inzwischen egal ist. Dann fragt man schematisch die Einnahmen und Ausgaben, die Beitragssätze und die Finanzreserven in den einzelnen Sozialversicherungszweigen ab. Auch nach den geplanten Maßnahmen wird gefragt. Das ist jedoch alles bekannt und von jedermann nachlesbar. Das schematische Geklapper wird auch dort fortgeführt, wo es überhaupt nicht passt, z. B. bei der landwirtschaftlichen Krankenversicherung, die gegenüber der GKV eine völlig andere Konstruktion hat. Bei der Union ist offenbar auch nicht bekannt, dass die Künstlersozialkasse keine eigenen Rücklagen und keine eigenen Beitragssätze hat etc. Wer diese Anfrage formuliert hat, war nicht gut beraten.
In der Debatte am 26. Juni[9] startete Dietrich Monstadt für die CDU/CSU. Auch sonst trat nur C-Prominenz auf. Es gab für die Regierungsfraktionen die Gelegenheit, Minister „Spahns Maskendeals“ zu kritisieren und die Nicht-Beteiligung des früheren Gesundheitsministers und jetzt für Sozialpolitik zuständigen Vizefraktionsvorsitzenden Hermann Gröhe zu monieren (Dr. Martin Rosemann, SPD). Tino Sorge kritisierte im Gegenzug, dass Gesundheitsminister Lauterbach nicht anwesend sei. Rosemann lobte „Bürgergeld und Kindergrundsicherung“ als Leistung der Bundesregierung. Emmi Zeulner (CDU/CSU) erklärte, die Union wollte mit dieser Anfrage das Dilemma der Bundesregierung klarmachen: „Die einen sagen: ‚Auf keinen Fall einen Steuerzuschuss!‘, und die anderen sagen: ‚Aber auf keinen Fall eine Erhöhung der Beitragszahlungen!‘“ Das wusste man schon vorher.
Tina Rudolph (SPD) fragte – zutreffend: „Welche Lösungen sind eigentlich in dieser Anfrage versteckt? Sie haben sie natürlich vor gewisse Vorzeichen gestellt. Sie wollen da auf etwas hinaus, und ich frage mich: Was ist das?“ Und vermutet, die Union wolle eigentlich Leistungskürzungen. Anja Schulz (FDP), ebenfalls zutreffend: „Um in der Zukunft nachhaltige Sozialversicherung und mehr Wohlstand zu schaffen, müssen wir uns mit dem Wirtschaftswachstum beschäftigen, und dafür setzt sich meine Fraktion ein. Wir brauchen dringend eine Wirtschaftswende; dann klappt es auch wieder mit den Sozialversicherungen.“ Weder von der Union, noch von den Regierungsfraktionen wurde (verständlicherweise) erwähnt, dass schon Gesundheitsminister Spahn mit den Finanzierungstricks bei der Krankenversicherung angefangen hat (Auflösung der Finanzreserven zur Verhinderung von Beitragserhöhungen). Und so weiter: eine Dreiviertelstunde – die übliche Mischung.
Abschließend muss man sagen: Weder aus dem Text der Anfrage, noch aus den Redebeiträgen der Union werden eigene Vorschläge zur Lösung der Probleme erkennbar. Geschweige denn ein kohärentes Konzept. Die Bundestagsdebatte war weder ein Glanzstück für die Opposition noch für die Ampel-Fraktionen – und fand daher zu Recht auch keine Resonanz in den Medien.
Die Lösungsperspektiven
Zu den Lösungsperspektiven liegen inzwischen zwei „regierungsamtliche“ Papiere vor. Einerseits die „Empfehlungen des Bundesministeriums für Gesundheit für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 220 Absatz 4 SGB V“[10] mit Datum vom 31. Mai 2023, veröffentlicht als eine Art verspäteter Arbeitsnachweis (Michael Weller) am 11. Januar 2024. Bemerkenswert ist daran u.a., dass dieses Dokument bis heute noch nicht dem Bundestag zugeleitet worden ist. Andererseits der bereits erwähnte „Bericht der Bundesregierung – Zukunftssichere Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung“ (SPV).
Gesetzliche Krankenversicherung
Das ziemlich kurze GKV-Papier (acht Seiten) stellt – entsprechend dem zugrundeliegenden Auftrag – in der Einleitung zutreffend fest: „Statt durch weitere globale Mehrausgaben kurzfristig Abhilfe zu schaffen, müssen strukturelle Defizite auch durch Strukturreformen und gezielte Investitionen nachhaltig behoben werden.“ (Seite 1) Dann wird das – inzwischen teilweise zurückgenommene – GKV-Finanzstabilisierungsgesetz erwähnt. Es sei „das erste echte Kostendämpfungsgesetz seit über einer Dekade, mit dem Leistungserbringern erhebliche Einsparleistungen abverlangt wurden.“ (2) Weiter geht es mit einer Aufzählung der „Strukturreformen auf der Ausgabenseite“. Unter dieser Überschrift werden die zahlreichen Gesetzgebungsvorhaben des BMG gelistet. Zur Erheiterung der Leser werden die entscheidenden Formulierungen hier noch einmal dokumentiert:
- Die Krankenhausreform „trägt … in hohem Maße zu einer nachhaltigen und stabilen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung bei.“ (4),
- Bei der Notfallreform werden „knappe Ressourcen … effizienter genutzt. Im Rettungsdienst kann durch mehr Transparenz und Vereinheitlichung der Mitteleinsatz effizienter gestaltet werden.“ (ebenda)
- „Das Digital-Gesetz wird einen maßgeblichen Beitrag zur zukünftig verbesserten und kosteneffizienteren Gesundheitsversorgung in Deutschland leisten.“ (ebenda)
- Beim Gesundheitsdatennutzungsgesetz werden „durch eine frühere und zielgerichtete Früherkennung und Behandlung … Kosteneinsparungen für die GKV entstehen.“ (ebenda)
- Die Maßnahmen des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes „führen mittel- bis langfristig zu finanziellen Entlastungen der gesetzlichen Krankenversicherung.“ (5)
- Durch die Hybrid-DRGs werden „perspektivisch … Leistungen, die bislang unnötig stationär erbracht werden, zur finanziellen Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung beitragen und (es kann) unnötiger stationärer Behandlungsaufwand reduziert werden.“ (ebenda)
- Das Gesetzgebungsvorhaben zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen „führt zu einer nachhaltigen finanziellen Entlastung der GKV.“ (6)
- Als weitere Maßnahme auf der Ausgabenseite wird die Streichung der „Möglichkeit der Krankenkassen, in der Satzung auch homöopathische und anthroposophische Leistungen vorzusehen“ angesprochen. (6).
Nach dieser Wortschatzübung geht es mit Beteuerungen für die Einnahmenseite weiter: „Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Dynamisierung (des Bundeszuschusses) sollte umgesetzt werden, sobald es vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen zulassen.“ (6) „Ein schrittweiser Einstieg in die Refinanzierung dieser Beitragsmittel (für die Bürgergeldbezieher) aus Steuermitteln – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – soll daher beginnen, sobald es im Lichte der wirtschaftlichen Entwicklung die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen zulassen.“ (7).
Im „Ausblick“ werden ein paar Allgemeinplätze ergänzt: „Die gesundheitliche Versorgung ist von überragender Bedeutung für Wohlstand und Zufriedenheit der Menschen in Deutschland. … Gleichzeitig ermöglicht der Einsatz innovativer Technologien in vielen anderen Fällen – bspw. in der Früherkennung – auch eine frühere sowie bessere und kosteneffizientere Behandlung von Erkrankungen.“ (7). Bevor das zentrale Eingeständnis kommt: „Moderat steigende Beiträge als Ausdruck einer solidarischen Finanzierung eines auch weiterhin hochwertigen Gesundheitswesens für die breite Bevölkerung dürfen daher auch in Zukunft nicht ausgeschlossen werden.“ (8) Aus heutiger Sicht – und nach einigen weiteren Lauterbach-Gesetzesinitiativen – fragt man sich außerdem, was „moderat“ eigentlich heißen soll.
Der Text endet so: „Mit einer Umsetzung der hier vorgelegten Empfehlungen für effizientere Versorgungsstrukturen und einer Stärkung der Einnahmenbasis entsprechend der vereinbarten Maßnahmen des Koalitionsvertrages wird die finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung dauerhaft stabilisiert und die strukturelle Deckungslücke zwischen zukünftiger Einnahmen- und Ausgabenentwicklung deutlich reduziert.“ (8) Dabei fiel schon im Januar auf, dass in diesem Text keine „Empfehlungen“ im üblichen Wortsinn zu entdecken waren. Die angesprochenen Effizienzgewinne werden noch nicht einmal zu den berühmten „Luftbuchungen“ konkretisiert. Insgesamt ein Dokument des Fatalismus.
Soziale Pflegeversicherung
Der Bericht zur Finanzierung der Pflegeversicherung ist da von anderer Qualität.[11] Die interministerielle Arbeitsgruppe hat zwar auch keine „Empfehlungen“ vorlegen können, aber eine sorgfältige Bestandaufnahme präsentiert. Sie wurde dabei unterstützt mit wissenschaftlicher Begleitung durch das IGES-Institut, das eine Status-quo-Prognose für die SPV vorgenommen hat.[12] In einem zweiten Gutachten wurden alle denkbaren bzw. in der Diskussion befindlichen Vorschläge zur Verbesserung der Finanzierung („Stellschrauben“) in ihrer potentiellen Wirkung durchgerechnet.
Die Entwicklung des Beitragssatzes verläuft nach der Projektion wenig spektakulär: Nach dem Basisszenario gibt es bis 2030 einen deutlichen Anstieg auf knapp über 4 Prozent, der weitgehend auf die bereits gesetzlich beschlossenen Leistungsverbesserungen zurückzuführen ist. Danach wäre über ein Jahrzehnt mit einer relativen Stagnation in dieser Größenordnung zu rechnen. Erst ab 2040 müsste über mehrere Jahre mit einer moderaten Erhöhung des Beitragssatzes bis auf 4,6 Prozent gerechnet werden, die jedoch in Richtung auf das Zieljahr 2060 in Stagnation bzw. sogar eine leichte Tendenz nach unten münden würde[13]. Das wirkt zwar nicht gerade beruhigend und sollte nicht als Aufforderung zu neuen Leistungsausweitungen verstanden werden; von einer „Explosion“ kann jedoch nicht die Rede sein.
Auch die Darstellung der „möglichen Ausgestaltungsoptionen eines zukünftigen Systems“ bringt im Grunde keine neuen grundstürzenden Erkenntnisse.[14] Beschrieben werden „vier Grundszenarien für die konstitutive Ausgestaltung“ der SPV. Bei der Beibehaltung eines Teilleistungssystems ergibt sich im „Modell Ia“ die Fortschreibung des Status quo, wobei es freiwillig bleibt, „ob und wie für Pflegebedürftigkeit im Alter ergänzend privat vorgesorgt“ wird. Im „Modell Ib“ soll „mit Augenmerk auf die Begrenzung der Eigenanteile resp. Zuzahlungen (sektorenunabhängig)“ „eine verpflichtend ergänzende individuelle Vorsorge“ eingerichtet werden, „die durch die private Versicherungswirtschaft organisiert wird“.
„Für ein Vollleistungssystem ergeben sich ebenfalls zwei Modelle: Eines wäre das Szenario IIa, bei dem die Absicherung des Pflegerisikos zu einem weitgehend umfassenden Anspruch mit Augenmerk auf die Begrenzung der Eigenanteile resp. Zuzahlungen weiterentwickelt wird. Dieses würde über das umlagefinanzierte Teilleistungssystem sowie über einen aus Steuermitteln solidarisch verankerten Kapitalstock für jeden und jede Versicherte/n finanziert. … Im Szenario IIb wird nicht an das bisherige Teilleistungssystem angeknüpft, sondern das System zum Vollversicherungssystem im Umlageverfahren ausgebaut.“
Im Grunde laufen die vier Szenarien auf die einfache Alternative hinaus, den Status quo beizubehalten oder auf unterschiedlichen Wegen ein Vollleistungsmodell anzustreben. Für letzteres werden nur die unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten (privatwirtschaftlich/in einem staatlichen System; mit Kapitaldeckung oder Steuerfinanzierung bzw. im Umlageverfahren) erörtert. Entscheidend ist jedoch, dass alle diese Alternativen nur in einem generellen Pflichtsystem funktionieren. Angesichts der Pfadabhängigkeit solcher Entscheidungen in unserem System und der mehrheitlichen Orientierung der Parteien dürfte die tatsächliche Wahl der Optionen dann ziemlich klar sein.
Dazu passt die wesentliche Erkenntnis der Regierungskommission zum expliziten Prüfauftrag des Koalitionsvertrags: Dort wurde bekanntlich gefordert zu prüfen, ob „eine die soziale Pflegeversicherung ergänzende, freiwillige, paritätisch finanzierte Pflegevollversicherung“ einen Lösungsbeitrag bringen könnte. „Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Expertinnen und Experten übereinstimmend zu der Einschätzung kamen, dass das Ziel einer nachhaltig und generationengerecht finanzierten Absicherung des Pflegerisikos in einer alternden Gesellschaft, mit den Systemdimensionen der Freiwilligkeit, der paritätischen Finanzierung und der Vollversicherung, nicht erreicht werden könne.“[15] Um ein Obligatorium komme man nicht herum; „Freiwilligkeit“ laufe immer auf die Verlängerung des Status quo hinaus. Wenn die FDP in Zukunft noch mitmischt, kommt vielleicht eine Prise Kapitaldeckung – sozusagen zur Gesichtswahrung – mit dazu.
Die weiteren, im Bericht sehr sorgfältig ausgearbeiteten Details sind interessant für die Feinschmecker. Wenn es wirklich um den Anlauf für eine neue Reform geht, kann auf die Wirkungsanalyse der „Stellschrauben“ zurückgegriffen werden. Bis dahin dürfte es jedoch noch etwas dauern.
Die verkorkste Lage
Dass sich die Koalition über wirksame Reformen bei der Kranken- und Pflegeversicherung nicht einigen kann, verwundert nicht. „Die drei Ampelparteien haben vor allem im soziokulturellen Bereich Schnittmengen, und der Koalitionsvertrag sieht insbesondere dort größere Reformen vor. Bei den sozioökonomischen Fragen sind die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten viel geringer. Es gehört zum Dilemma der Ampel, dass sich durch den Ukrainekrieg und das Karlsruher Haushaltsurteil die politische Agenda ins Ökonomische verschoben hat.“[16] So sind die Ampel-Partner bei wesentlichen ökonomischen Fragen zur Selbstblockade verurteilt.
Hinzu kommt eine verfehlte Kommunikation. Dass sich Union und SPD wechselseitig die Sünden der Vergangenheit auf Brot schmieren, wirkt unglaubwürdig. Vor allem die SPD tut so, als wäre sie die vergangenen Legislaturperioden nicht dabei gewesen. Aufmerksame Beobachter dürften sich zudem daran erinnern, dass noch bei jeder kostenträchtigen Idee der Minister Gröhe und Spahn von der SPD und von Karl Lauterbach persönlich das eigentliche Urheberrecht beansprucht wurde. Der falsche Ton beherrscht jedoch nicht nur die Gesundheitspolitik, sondern prägt die Kommunikation der Ampel insgesamt. Das jüngste Beispiel ist der Haushaltskompromiss, der niemanden freut. Trotzdem lobt der Bundeskanzler das gelungene „Gesamtkunstwerk“. Geht es nicht ein bisschen bescheidener?
Es hätte möglicherweise einen Moment gegeben, um dieses Dilemma aufzulösen, zumindest kommunikativ zu entschärfen. Vor zweieinhalb Jahren hat Kanzler Scholz zwar die „Zeitenwende“ ausgerufen; seitdem sollte sich jedoch für Deutschland so wenig wie möglich ändern. Den Bürgern wurde suggeriert, dass (fast) alles so weitergehen kann wie vorher. Hier hätte die „Zeitenwende“ mit der klaren Ansage verbunden werden müssen, dass der Koalitionsvertrag im Lichte der veränderten Weltlage einer gründlichen Revision unterzogen werden muss. Schon diese Ansage hätte verhindert, dass die verschiedenen Stakeholder bis heute die Zusagen dieses (überholten) Dokuments reklamieren und der Koalition Untätigkeit vorwerfen können.
Selbst Minister Lauterbach hat – angesichts des intern längst vorliegenden Pflege-Berichts – noch Ende Mai erklärt, dass es in dieser Wahlperiode keine Pflegereform mehr geben werde. Helden des Stillstands? Ja, aber doch nicht so ganz. Der am 3. Juli im Kabinett beschlossene Bericht der Bundesregierung zur „zukunftssicheren Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung“ hat geradezu panische Resonanz ausgelöst. Hinzu kommen Meldungen über aktuelle Finanznöte/Liquiditätsengpässe der SPV und wieder steigende Eigenbeteiligung der Pflegebedürftigen im stationären Bereich.[17] Das Thema nimmt immer weiter an Fahrt auf und könnte das „Sommerloch“ beherrschen. Bundesgesundheitsminister Lauterbach ist daher offenbar der Meinung, diese Probleme nicht aussitzen zu können. Der Minister kündigte postwendend mit einem als O-Ton verbreiteten Statement noch für dieses Jahr ein umfassendes Konzept zur Pflegereform an. Es soll aus drei Gesetzen bestehen: ein Pflegekompetenzgesetz, ein Pflegeassistenzeinführungsgesetz und ein Pflegefinanzierungsgesetz.
Interessant in unserem Zusammenhang ist vor allem das Finanzierungsgesetz.[18] Hier hat Lauterbach einerseits angekündigt, in Gesprächen mit den Ländern („sehr ernst mit den Ländern… , wie wir es auch im Krankenhaussektor machen.“[19]) zu „prüfen“, „wie die Investitionskosten stärker durch die Länder getragen werden können.“ Das wird ein hartes Brot, denn die Länder haben (im Zusammenhang mit dem Pflegebericht) gerade erst geschlossen erklärt, dass sie hier keine weiteren Zahlungen übernehmen wollen und erst recht keinerlei rechtliche Verpflichtungen dafür sehen.[20]
Andererseits will er eine „Obergrenze“ bei den Eigenbeteiligungen. Dabei kann es nur um eine weitere Erhöhung der entsprechenden Zuschüsse der SPV gehen. Was zwangsläufig den Druck auf die Beiträge in der SPV verstärken würde. Hier wird erkennbar in ein völlig falsches Konzept investiert. Über zwei Drittel der Pflegebedürftigen ist durchaus in der Lage, die Eigenbeteiligung zu tragen. Für sie läuft das Gießkannen-Modell auf das vielbeschworene „Erbenschutzprogramm“ hinaus. Die wirklich Bedürftigen sind dagegen überwiegend schon jetzt Empfänger von Sozialhilfe (Hilfe zur Pflege), und eine Neuregelung würde ihre Situation überhaupt nicht verbessern. IGES hat das treffend illustriert: Um auf diesem Wege eine Reduktion der Ausgaben für Hilfe zur Pflege um 1,23 Mrd. Euro zu erreichen, wären 3,64 Mrd. Euro zusätzliche Beitragsfinanzierung in der SPV erforderlich.[21] Also das Dreifache. Wäre das effiziente und zielorientierte Sozialpolitik?
Früher wollten die Alchimisten aus Blei Gold machen. Heute haben wir einen Gesundheitsminister, der glaubt, er schafft es schon ex nihilo. Das wäre eine Leistung, die einer Fortschritts-Koalition wirklich würdig wäre.
[1] Exemplarisch die Pressemitteilung des BKK Dachverbandes vom 17. Juli 2024 zur Verabschiedung des Bundeshaushalts im Kabinett: „Für die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verheißt der heute beschlossene Bundeshaushalt für das Jahr 2025 nichts Gutes, denn auch im bevorstehenden Bundestagswahljahr werden die vollmundigen Versprechen aus dem Koalitionsvertrag nicht eingelöst: Keine Dynamisierung des Bundeszuschusses an die GKV, keine bessere Finanzierung der Beiträge für Bürgergeldbeziehende, keine Erstattung der Pandemiekosten an die soziale Pflegeversicherung (SPV) und keine Übernahme der Kosten für die Rentenbeiträge für pflegende Angehörige. Der Steuerzuschuss an die soziale Pflegeversicherung (SPV) ist weiterhin gestrichen. … Die Abwälzung der Kosten auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler geht also munter weiter.“
[2] Richard Ochmann, Martin Albrecht: Beitragsentwicklung in der Sozialversicherung – Szenarienbasierte Projektion bis zum Jahr 2035 für die DAK-Gesundheit, IGES-Institut Berlin, Juni 2024, Seite 5.
[3] Andreas Storm in der DAK-Pressemeldung vom 25. Juni 2024:
https://www.observer-mis.de/data/exchange/DESCRIPTION/240625-download-pm-dak-entwicklung-sozialversicherung.pdf. Gemeint waren die „Kostendruckszenarien des WIP (Wissenschaftliches Institut der PKV)“
[4] Tagesspiegel background vom 9.7.24
[5] Tagesspiegel background von 3.7.24
[6] https://www.gmkonline.de/Beschluesse.html?id=1574&jahr=2024 GMK 12./13. Juni 2024 in Lübeck/Travemünde, TOP 5.4
[7] DAK-Pressemitteilung vom 25. Juni 2024.
[8]https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Pflege/Berichte/Bericht_Zukunftssichere_Finanzierung_der_SPV-2024.pdf
[9] Plenarprotokoll der 177. Sitzung, Seiten 22932 – 22944.
[10]https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/G/GKV/Empfehlungen_des_BMG_fuer_stabile_GKV-Finanzen.pdf
[11] „Bericht der Bundesregierung – Zukunftssichere Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung“
[12] Eine Status-quo-Prognose bis zum Jahr 2060 mag zwar kühn erscheinen, der Sinn solcher Berechnungen ist aber, zu zeigen was passiert, wenn nichts passiert.
[13] Martin Albrecht: „Finanzlage und Reformoptionen in der Sozialen Pflegeversicherung“, Vortrag bei der vdek Mitgliederversammlung, Berlin, 4. Juli 2024.
[14] Alle Zitate im Folgenden: „Bericht …“, Seite 14.
[15] Eine Idee, von der Minister Lauterbach zeitweise beanspruchte, sie in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt zu haben. Offen ist dabei, ob er damals tatsächlich an ihre Umsetzbarkeit glaubte, oder ob es ihm um ein taktisches Manöver ging, mit dem eine Vollabsicherung in der Diskussion gehalten werden sollte.
[16] Robin Rüsenberg, Wiebke Rüsenberg:
„Zurück in die Zukunft? – Die Parteien und ihre Gesundheitspolitik vor dem Bundestagswahljahr 2025“, Observer Gesundheit, 02.07.2024.
[17] Exemplarisch: vdek-Pressemeldung vom 1. Juli 2024. https://www.observer-mis.de/data/exchange/MONITOR_CHRO/vdek_pm_20240710_Eigenanteile%20Pflege_final.pdf
[18] Tagesschau.de am 11.07.2024 18:30 Uhr. „Lauterbach erwägt Obergrenze“ https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/lauterbach-pflegekosten-100.html
[19] ZDF-Morgenmagazin vom 11. Juli.
[20] „Gemeinsame Position der Länder-Abteilungsleitungen ‚Pflege‘“, Anlage 4 zum Pflegebericht.
[21] Martin Albrecht: „Finanzlage und Reformoptionen in der Sozialen Pflegeversicherung“, Vortrag bei der vdek Mitgliederversammlung, Berlin, 4. Juli 2024.
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