16.06.2020
Evidenzbasierte Medizin und Politik: Die neuen Spielregeln
Sven Wunderlich
Mit dem Entwurf einer Verordnung über die Verfahrensgrundsätze der Methodenbewertung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) schließt Gesundheitsminister Spahn seine Neuordnung der Rahmenbedingungen für die Aufnahme von Innovationen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung ab. Vom Vorschlag des Ministers von Anfang 2019, dass künftig er selbst über die Aufnahme neuer Leistungen entscheiden kann, ist auf den ersten Blick nichts geblieben. Eine vertiefte Analyse zeigt aber, dass der Minister faktisch seinem Ziel sehr nahegekommen ist. Scheinbar werden jetzt nur Verfahrensfragen neu geregelt. Inhaltlich bleibt von der evidenzbasierten Medizin im Sozialrecht aber nur eine Fassade stehen, die keine maßgebliche Gestaltungskraft für die Definition des Leistungskataloges mehr entfalten kann.
Ein kurzer Rückblick: Mit inoffiziellen Änderungsanträgen aus dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zum Terminservice- und Versorgungssetz (TSVG) wollte das Ministerium Anfang 2019 selbst die Zuständigkeit für die Aufnahme neuer Leistungen in den GKV-Leistungskatalog übernehmen. Diese Vorschläge haben keinen Eingang ins TSVG gefunden. Erneut aufgegriffen wurde das Thema im Gesetzentwurf zum Implantateregister-Errichtungsgesetz (EIRD). Von einer Verordnungsermächtigung zur Aufnahme neuer Leistungen war hier nicht mehr die Rede. Es ging primär um das Thema Beschleunigung der Beratungen im Gemeinsamen Bundesausschuss. Unter dieser Flagge wurden allerdings Änderungen eingebracht, die in ihren Wirkungen weit über die Tempofrage hinausgehen und die Methodenbewertung in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und Zielrichtung grundlegend verändern sollten. Der im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages im Juni diskutierte Gesetzentwurf enthielt noch einige Passagen, die die ursprüngliche Intention des Ministeriums durchschimmern ließen. Entsprechend kritisch fiel die Bewertung von Seiten der Wissenschaft aus. Deren Vertreter hatten sehr genau erkannt, dass eine datengestützte Bewertung von Innovationen, die wissenschaftlichen Kriterien genügt, unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich sein würde. Es folgten daraufhin einige kosmetische Modifikationen am Gesetzestext, die Kernelemente traten aber mit dem EIRD im Dezember 2019 in Kraft. Der darin enthaltene neue § 91b SGB V enthält eine Verordnungsermächtigung des BMG zur Regelung der Verfahrensgrundsätze der Bewertung von Untersuchungs- uns Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung und im Krankenhaus. Am 07.05.2020 hat das BMG den Referentenentwurf für diese Verordnung (MBVerfV) vorgelegt.
Weitere formale Verpflichtungen für den G-BA
Die geplanten Verfahrensregeln für den G-BA: Der Verordnungsentwurf dient ausweislich der Begründung „insbesondere der Straffung, Beschleunigung und Strukturierung der Bewertungsverfahren in zeitlicher und prozessualer Hinsicht sowie der verständlichen und transparenten Darlegung der dem jeweiligen Bewertungsergebnis des G-BA zugrundeliegenden Erkenntnisse und Abwägungsentscheidungen“.[1] Das klingt erstmal nachvollziehbar und sinnvoll. Durch das EIRD wurde die Frist, innerhalb der der Gemeinsame Bundesausschuss ein Beratungsverfahren abschließen muss, von drei auf zwei Jahre verkürzt. Eigentlich würde man von der Verordnung nunmehr erwarten, dass sie dem G-BA eine Verfahrenspraxis eröffnet, die die Umsetzung dieses anspruchsvollen Zeitziels ermöglicht. Die bisherige Regelberatungsdauer von drei Jahren war angesichts der vielfältigen gesetzlichen Anhörungsverpflichtungen schon in den letzten Jahren nur schwer einzuhalten. Paradoxerweise macht die Verordnung aber genau das Gegenteil. Sie legt dem G-BA weitere formale Verpflichtungen auf, die den Beratungsaufwand erhöhen und die Verfahrensdauer verlängern:
- Zusätzlich zu den bereits bestehenden schriftlichen und mündlichen Stellungnahmeverfahren zu den Beschlussentwürfen wird der Wissenschaft aber auch der Industrie die Möglichkeit eingeräumt, an den Beratungen im zuständigen Unterausschuss des G-BA teilzunehmen. Die Entscheidung darüber, ob und ggf. welche Organisationen und Sachverständigen teilnehmen dürfen, ist ein Verwaltungsakt, der im Verfahren rechtssicher abgearbeitet werden muss. Das wird den gesamten Gremienapparat nochmals aufblähen. Ein inhaltlicher Gewinn ist nicht erkennbar, weil die Stellungnahmeberechtigten schon heute bei der mündlichen Anhörung in aller Regel das wiederholen, was sie in der schriftlichen Anhörung eingeliefert haben und dies nunmehr künftig weitere Male bei den Unterausschusssitzungen tun werden.
- Bisher läuft die erste Runde mit einer Einholung von Einschätzungen parallel zur Auftragserteilung an das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Künftig muss das Ergebnis dieser ersten Stellungnahmerunde abgewartet und in die Auftragserteilung einbezogen werden, bevor der Auftrag erteilt werden kann. Der Auftrag an das IQWiG verzögert sich deshalb um mindestens zwei Monate. Das IQWiG selber muss dann seinerseits mehrere eigene Anhörungsverfahren durchführen. Es hat für die Abarbeitung seines Auftrags maximal ein Jahr Zeit.
- Künftig müssen in die Ermittlung des Standes der medizinischen Erkenntnisse sämtliche Unterlagen und Nachweise einbezogen werden, und zwar alle klinischen Studien hoher Evidenzklasse bis hin zu Assoziationsbeobachtungen, Einzelfallberichten und nicht mit Studien belegten Meinungen anerkannter Expertinnen und Experten. Auf die Einbeziehung von Unterlagen niedriger Evidenzstufen kann nur dann verzichtet werden, wenn Studien höherer Evidenzstufen vorliegen und auf dieser Grundlage entschieden werden kann. Es entsteht aber ein gravierendes Problem bei der Bewertung von Innovationen, zu denen keine hochwertigen Studien vorliegen. Denn hier muss das IQWiG dann alle Kasuistiken, Hinweise oder Meinungen suchen und in die Bewertung einbeziehen, auch wenn sie gar keinen maßgeblichen Beitrag zur Endbewertung leisten können.
- Wissenschaftlich üblich ist derzeit ein ganz anderer Weg: Sofern die Frage lautet, ob eine Methode einen Nutzen hat, wird vor der Recherche festgelegt, welches Evidenzniveau man für die Bewertung der Innovation braucht. Nur nach diesen Erkenntnissen wird dann auch gesucht. Das umfasst zwei ganz wesentliche Aspekte: Zum einen wird damit schon mit der Recherchestrategie auch das Anforderungsniveau für die Studienqualität und damit die wissenschaftlich erforderliche Bewertungsschwelle festgelegt. Zum andern wird nur durch eine solche Vorfestlegung eine Recherche überhaupt praktikabel. Denn weltweit alle Meinungen und Statements zu finden, zu dokumentieren und zu würdigen, so irrelevant sie auch sein mögen, ist schlechterdings unmöglich.
- In den Tragenden Gründen soll der Gemeinsame Bundesausschuss dieses Meinungskonvolut dann umfassend würdigen und unter anderem erläutern, welche „Wahrscheinlichkeiten zu positiven und negativen medizinischen Effekten“ vorliegen. Zeit hat er dafür drei Monate.
Die Folgen für den G-BA: Können IQWiG und G-BA das Unmögliche leisten? Ich meine nein, und das weiß auch das Ministerium ganz genau. Beim Versuch der Bewältigung einer unlösbaren Aufgabe wird der Gemeinsame Bundesausschuss sich zwangsläufig in Wagnisse, Spekulationen und formale Imperfektionen manövrieren. Dies wiederum eröffnet dem Bundesministerium die Möglichkeit, unliebsame Beschlüsse aus formalen Gründen zu beanstanden. Ursprünglich wollte der Minister die Fachaufsicht über den G-BA, was ihm der Deutsche Bundestag verwehrt hat. Auch mit den Mitteln der Rechtsaufsicht wird sich im Dickicht dieser dysfunktionalen Verfahrensvorschriften aber immer ein Grund für eine Beanstandung finden, wenn das Beratungsergebnis missfällt.
Unabhängigkeit von IQWIG und G-BA grundlegend in Frage gestellt
Ein Scheitern des G-BA erscheint deshalb absehbar. Es ist offensichtlich intendiert. Letzte Instanz auch in inhaltlichen Fragen wird das Gesundheitsministerium. Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des IQWiG und die versorgungspolitische Unabhängigkeit des G-BA als Organ der Gemeinsamen Selbstverwaltung sind damit grundlegend in Frage gestellt. Zusätzlich ist ein für die Selbstverwaltung gewichtiger weiterer Aspekt zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber hat mit der Zuweisung der Bewertung von digitalen Versorgungsangeboten an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) den grundsätzlichen Zuständigkeitsbereich des G-BA bei der Innovationsbewertung erheblich beschränkt (siehe Observer Gesundheit). Auch in diesem Gesetzgebungsverfahren hat der Gesundheitsminister Widerstand im Parlament gegen allzu niedrige und willkürliche Bewertungsmaßstäbe geschickt ausgehebelt. So wurde zwar nach der Anhörung im Gesundheitsausschuss zum Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) ein Passus ins Gesetz aufgenommen, wonach die Bewertungsmaßstäbe für digitale Gesundheitsanwendungen den Prinzipen der evidenzbasierten Medizin entsprechen müssen. In der ohne Zustimmung des Parlaments zu erlassenden Verordnung des Ministeriums zur Umsetzung dieser gesetzlichen Regelung wird diese Regelung dann aber wieder ausgehebelt.
Kritische Stimmen finden wenig Gehör
Es bleibt spannend, wie die Träger des G-BA und der Bundesauschuss selbst in dieser Situation weiter agieren werden. Bisher finden kritische Stimmen aus diesen Reihen wenig Gehör. Im Vordergrund für die Politik scheint die Förderung von Innovationen und ihre Einführung in die Regelversorgung auch um den Preis niedriger Evidenz zu stehen. Unbeantwortet bleibt die Frage, warum es gut für kranke Menschen sein soll, mit „innovativen“ Methoden behandelt zu werden, von denen nicht klar ist, ob sie auch helfen. Wie selbstherrlich das Ministerium inzwischen agiert, zeigt sich schon daran, dass es zum vorgelegten Referentenentwurf für die MBVerfV nicht einmal eine mündliche Anhörung im BMG gibt.
Womöglich ist ein Umdenken erst dann wieder zu erwarten, wenn diese expansive Gesundheitswirtschaftspolitik an die Grenzen der Finanzierbarkeit stößt.
[1] Referentenentwurf Bundesministerium für Gesundheit: Verordnung über die Verfahrensgrundsätze der Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung und im Krankenhaus (Methodenbewertungserfahren Verordnung – MBverfVO vom 07.05.2020, Seite 8)
Lesen Sie auch die weiteren Beiträge von Sven Wunderlich zu diesem Thema im Observer Gesundheit:
Evidenzbasierte Medizin als Spielball der Politik,
Evidenzbasierte Medizin als Spielball der Politik: Die zweite Runde,
Evidenzbasierte Medizin als Spielball der Politik: Die Endrunde.
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