30.01.2023
Entscheidendes Jahr für nachhaltige Finanzlösungen in GKV und sozialer Pflegeversicherung
Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes
Das neue Jahr wird in dieser Legislaturperiode entscheidend dafür sein, um die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und soziale Pflegeversicherung (SPV) nachhaltig auf eine solide Finanzbasis zu stellen. Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, das seit Jahresbeginn in Kraft ist, sorgt lediglich für eine kurzfristige finanzielle Überbrückung im laufenden Jahr. Dabei wurden die Lasten unfair verteilt und die GKV mit der abermaligen Rücklagenabschmelzung mehr geschwächt als stabilisiert.
Dass der Handlungsbedarf weiterhin groß ist, hat auch der Gesetzgeber eingesehen. Das spiegelt sich in der Neufassung des Paragrafen 220 wider. Darin wird das Bundesgesundheitsministerium (BMG) gesetzlich verpflichtet, bis Mitte des Jahres Empfehlungen für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung der GKV vorzulegen. Auch der Haushaltsauschuss des Bundestags richtet sein Augenmerk auf die finanzielle Situation unseres Gesundheitssystems. Er fordert vom BMG bis Ende Juni 2023 einen Bericht über die für 2024 zu erwartenden Finanzlücken in GKV und SPV und vor allem Vorschläge, wie diese behoben werden sollen.
Doch die Weichenstellungen für die GKV- und SPV-Finanzierung 2024 müssen bereits in diesem Frühjahr vorgenommen werden. Die Beratungen zum Bundeshaushalt 2024 laufen und sollen im März in erste Eckpunkte der Bundesregierung eingehen. Zur Pflegeversicherung hat sich das BMG Medienberichten zufolge bereits positioniert und fordert zu Recht von Bundesfinanzminister Lindner zusätzliche Mittel aus dem Bundeshaushalt, um große Beitragssprünge zu verhindern. Lindner scheint dies abzulehnen, rief schon zu Beginn dieses Jahres zum Sparen und zur „haushalterischen Prioritätensetzung“ auf. Mit Blick auf die Schuldenbremse sehe er keinerlei zusätzliche Spielräume im Haushalt, obwohl er nicht nur als Finanzchef im Bundeskabinett, sondern insbesondere auch als Vorsitzender der Regierungspartei FDP entscheidende Verantwortung dafür trägt, wenn Versicherte und Arbeitgeber zur Kasse gebeten werden.
Der Bundesfinanzminister versucht sich an der Quadratur des Kreises, wenn er eine restriktive Fiskalpolitik betreibt, an der Einhaltung der Schuldenbremse festklebt und gleichzeitig den Anstieg der Lohnnebenkosten verhindern will. Gleichzeitig will er für sein Lieblingsprojekt, die Kapitalanlage in der Gesetzlichen Rente, jährlich rund 10 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung stellen.
Dadurch entsteht der Eindruck, die Kranken- und Pflegeversicherung habe nach der Corona-Pandemie ihre Schuldigkeit getan. Ist die Etablierung einer Aktienrente wichtiger als die finanzielle Stabilität der sozialen Pflege- und gesetzlichen Krankenversicherung? Wenn sich die Bundesregierung bei der Beantwortung von der Idee der sozialen Gerechtigkeit leiten lässt, ist die Antwort klar. Für die Übernahme von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben durch die GKV und für coronabedingte Kosten der SPV müssen die entsprechenden Bundesmittel zur Verfügung gestellt werden. Diese Kosten dürfen nicht den Beitragszahlenden aufgebürdet werden.
GKV-Finanzierung mit etlichen Risiken
Die Finanzperspektive der GKV für das Jahr 2024 ist düster: Im kommenden Jahr entfällt ein Entlastungsvolumen von 10,3 Milliarden Euro, das 2023 noch über einen zusätzlichen Bundeszuschuss von 2,1 Milliarden Euro, ein Darlehen von einer Milliarde Euro, den Vermögensabbau bei den Kassen (2,5 Milliarden Euro) sowie 4,7 Milliarden Euro aus der Liquiditätsreserve aufgebracht werden konnte. Auf die allerletzten Rücklagen der Krankenkassen lässt sich nicht mehr zugreifen, und die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds ist abgeschmolzen worden. Nach den Beitragssatzanpassungen zum Jahresanfang liegt der durchschnittliche Zusatzbeitrag zwar noch nicht beim festgelegten Satz von 1,6 Prozent, aber mit 1,5 Prozent nur knapp darunter – und damit deutlich über dem Zusatzbeitrag des Vorjahres.
Zudem schlummern weitere zusätzliche Ausgabentreiber und -risiken in der zuletzt in Kraft getretenen oder geplanten Gesundheitsgesetzgebung: tagesstationäre Behandlungen, PPR 2.0, die Förderung der Geburtshilfe und der Kinder- und Jugendmedizin, Corona-Impfungen als Regelleistung, die Aushöhlung der Arzneimittelfestbeträge und die Entbudgetierung einzelner Ärztegruppen werden viel zusätzliches Geld kosten. Auch die geplanten Versorgungsgesetze und die Krankenhausreform wird es nicht zum Nulltarif geben. Und diese Liste ist noch nicht mal vollständig, von Leistungserbringerseite kommen ständig neue Forderungen hinzu.
Wenn aber Bundeszuschüsse, Liquiditätsreserven und Kassenrücklagen nicht mehr zur Verfügung stehen und Ausgaben noch weiter steigen, wird sich das strukturelle Defizit fortsetzen bzw. das GKV-Finanzloch im kommenden Jahr entsprechend vergrößern.
Handlungsbedarf bei Einnahmen und Ausgaben
Die Voraussetzungen für eine solide und vorausschauende Finanzplanung für die GKV sind also denkbar schlecht. Dennoch steht fest: In diesem Jahr muss das versprochene nachhaltige Finanzierungskonzept her! Das BMG muss Lösungen zur Deckung des strukturellen Defizits präsentieren. Die Einnahmen und Ausgaben der GKV müssen wieder in Einklang gebracht werden. Die ordnungspolitischen Lösungswege sind aus GKV-Sicht seit längerem vorgezeichnet: Auf der Einnahmeseite sind vor allem der Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen zu dynamisieren und die Beitragspauschalen für Bürgergeld-Beziehende kostendeckend auszugestalten. Auf der Ausgabenseite sind Strukturreformen im stationären Bereich und die Erschließung der Ambulantisierungspotentiale überfällig. Darüber hinaus brauchen die Kassen wieder mehr strategische Ausschreibungs- und Steuerungsmöglichkeiten zur Steigerung der Effizienz der Versorgung, und auch das Abrechnungsmanagement im Krankenhausbereich muss wieder forciert werden. Im Arzneimittelbereich braucht es mindestens eine Verlängerung des Herstellerrabatts. Und die längst fällige Absenkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel und Hilfsmittel auf sieben Prozent muss endlich umgesetzt werden.
Überhaupt sollten alle neu geplanten Maßnahmen konsequent auf ihr jeweiliges Kosten-Nutzen-Verhältnis hin überprüft werden. So muss das geplante Gesetz zur Vermeidung von Lieferengpässen neu ausgerichtet werden, weil die vorgesehenen Maßnahmen nach jetzigem Stand keinen wirksamen Beitrag zur Behebung der Lieferengpässe leisten werden, dafür aber massive Mehrausgaben produzieren. Dazu zählen insbesondere Maßnahmen, die eine Schwächung oder gar Abschaffung der Rabattverträge zur Folge haben können, obwohl diese nachweislich nicht Ursache der herstellerbezogenen Lieferprobleme sind. Zur Verdeutlichung: Die Arzneimittelrabattverträge bremsen seit Jahren den Anstieg der Ausgaben für Generika. Alle gesetzlichen Krankenkassen zusammen konnten 2021 durch die Verträge rund fünf Milliarden Euro einsparen. Und sie sorgen für mehr Versorgungsicherheit, indem Bevorratung fester Vertragsbestandteil ist.
Stabile Pflegefinanzierung drängt
Aber nicht nur die Kassenfinanzen der GKV sind nachhaltig zu sichern, auch die SPV ist in wirtschaftlicher Schieflage und muss stabilisiert werden. Zuletzt wurde die Liquidität der SPV nur noch über vorgezogene Bundeszuschüsse und Darlehen abgesichert. Diese werden aber nur noch kurze Zeit ausreichen, dann muss der Bund eingreifen, um die Zahlungsfähigkeit der SPV zu gewährleisten. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass der SPV Pandemiekosten in Höhe von rund 4,7 Milliarden Euro noch nicht vom Bund erstattet wurden. Deshalb muss auch in diesem Jahr von der Möglichkeit der Verordnungsermächtigung nach Paragraf 153, Sozialgesetzbuch XI, Gebrauch gemacht werden, um der SPV einen Bundeszuschuss für coronabedingte Kosten auszuzahlen.
Die finanziellen Probleme haben aber auch strukturelle Gründe. Selbst in einem sehr konservativen Szenario, wenn keine Leistungsverbesserungen und krisenbedingten Ausgaben angenommen werden, der Anstieg der beitragspflichtigen Einnahmen gute 3,7 bis 4,4 Prozent beträgt und die Mengenentwicklung relativ stabil bleibt, wird der Fehlbetrag in den kommenden Jahren bei rund 3 Milliarden Euro pro Jahr (2023) oder leicht darunter liegen (-1,7 Milliarden im Jahr 2024, -2,1 Milliarden im 2025).
Im Koalitionsvertrag sind Maßnahmen zur Behebung dieser Lücken vereinbart: Dazu zählen, unabhängig von der ausstehenden Erstattung der restlichen Pandemiekosten, vor allem Steuermittel für versicherungsfremde Leistungen (Sozialversicherungsbeiträge für Pflegepersonen, ca. 3,2 Milliarden Euro jährlich) sowie für die Ausbildungsumlage und für die Beitragspauschalen für das Bürgergeld (zusammen rund 2 bis 3 Milliarden Euro).
Irritierender Slogan der „Entökonomisierung“
Angesichts der absehbaren Finanzlöcher in der GKV und SPV erscheint Minister Lauterbachs Slogan von der „Entökonomisierung“ einigermaßen irritierend: Natürlich ist es wichtig, in der medizinischen Versorgung dort gegenzusteuern, wo es zu gesundheitsgefährdenden Mengeneffekten und Fehlanreizen gekommen ist. Daher ist das Konzept zur ergänzenden Vorhaltefinanzierung für die Krankenhäuser eine gute Sache. Es senkt den ökonomischen Druck dort, wo er schädlich ist.
Die Beseitigung von Fehlanreizen ist richtig, aber „Entökonomisierung“ darf nicht bedeuten, dass das Kriterium Wirtschaftlichkeit keine Rolle mehr spielt. Im milliardenschweren Gesundheitswesen, dessen Angebote überwiegend privatwirtschaftlich betrieben werden und an dem eine florierende Gesundheitswirtschaft hängt, wäre es fatal, auf ökonomische Perspektiven zu verzichten. Dazu gehört es, Steuerungsinstrumente und finanzielle Anreize nicht zu verteufeln, sondern immer wieder neu auszurichten, damit der Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung bezahlbar bleibt.
Alle Kommentare ansehen