Enquête-Kommission wäre der richtige Weg

In der „offiziellen“ Aufarbeitung der Corona-Krise kaum Bereitschaft zur Selbstkritik

Dr. Robert Paquet

Die Bemühungen um eine systematische Aufarbeitung der in der Corona-Krise ergriffenen Maßnahmen sind nicht sehr ausgeprägt. Die Diskussion um gesetzgeberische und organisatorische Konsequenzen erfolgt stets punktuell und ist von tagesaktuellen Interessen bestimmt. Seit einem halben Jahr macht sich zunehmend der Bundestagswahlkampf bemerkbar: Die Vorschläge lösen sich immer mehr von der Sache und orientieren sich an den vermuteten Wünschen bestimmter Wählergruppen.

 

Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass der (überwiegend schön gefärbte) Bericht der Bundesregierung (Bundestags-Drucksache 19/31175), der mit Stand von Mitte März erst im Juni veröffentlicht wurde, in der Öffentlichkeit praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurde. Auch die im Infektionsschutzgesetz eingeforderte „Evaluation“ durch ein unabhängiges Sachverständigengremium wird in maximal drei Monaten Arbeitszeit bis zum Jahresende nichts Kohärentes zustande bringen. Einen zielführenden Vorschlag machen dagegen Politik-Experten des Berliner Wissenschaftszentrums[1]: Der nächste Deutsche Bundestag soll eine Enquête-Kommission mit dieser Aufgabe einsetzen. Sie soll mit genügend Zeit und einer angemessenen Ausstattung die Erfahrungen aufarbeiten und Vorschläge für die Zukunft machen.

 

1. Bericht der Bundesregierung nach § 4 Abs. 1a des Infektionsschutzgesetzes

Schon im März 2020 wurde mit dem Ersten Bevölkerungsschutzgesetz im Infektionsschutzgesetz (IfSG) festgelegt, dass „das Bundesministerium für Gesundheit dem Deutschen Bundestag nach Beteiligung des Bundesrates bis spätestens zum 31. März 2021 einen Bericht zu den Erkenntnissen aus der durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Epidemie vorlegt. Der Bericht beinhaltet Vorschläge zur gesetzlichen, infrastrukturellen und personellen Stärkung des Robert Koch-Instituts sowie gegebenenfalls zusätzlicher Behörden zur Erreichung des Zwecks dieses Gesetzes.“ Redaktionsschluss des inzwischen vorliegenden BMG-Berichts war der 5. März 2021. Die Stellungnahmen der Länder gingen bis zum 31. Mai 2021 ein; wer sie verfasst (und zusammengefasst) hat (Landesministerien für Gesundheit oder die Staatskanzleien?), geht aus dem Bericht nicht hervor.

 

1.1. Bund

Von den insgesamt 36 Seiten der Bundestagsdrucksache sind nur knapp zwei Seiten Text vom BMG, in dem lakonisch auf die Arbeit des „gemeinsamen Krisenstabes vom BMG und BMI“ und des „Corona-Kabinetts“ sowie auf die regelmäßigen „Schalten“ des Gesundheitsministers mit der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) verwiesen wird. Dann folgt eine Auflistung der Corona-bezogenen Gesetze und Verordnungen. Die eigentliche Berichtsaufgabe hat das BMG „mit dem Zweck einer sachlich neutralen und wissenschaftlichen Bewertung“ (S. 3, zitiert wird nach der BT-Drs.) an Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte (Direktor der NRW School of Governance; Universität Duisburg-Essen) delegiert, der mehrere im Zuge der COVID-19-Pandemie vom BMG in Auftrag gegebene Studien ausgewertet und zusammengefasst hat (RKI-Zwischenbericht vom 15. Juli 2020, die Studie „Die Deutschen und Corona“ des ifo Instituts/forsa vom 27. November 2020 und die Acatech-Studie „Resilienz und Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens in Krisenzeiten“ vom Januar 2021). „Prof. Korte hat die Zusammenfassung der drei genannten Studien mit weiteren sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen und seiner wissenschaftlichen Einschätzung eingerahmt“, heißt es im Bericht (ebenda).

Die Vorschläge von Prof. Korte sind nicht besonders aufregend. So soll z.B. das Robert Koch-Institut wissenschaftlich gestärkt werden. Die Information über die Intensivbettenbelegung soll verbessert werden, das bisher nur für den militärischen Katastrophenfall zuständige Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) soll mit Aufgaben auch für Pandemien bedacht werden. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die bekanntlich in der Corona-Krise völlig versagt hat, soll gestärkt werden. Korte sieht ihre Aufgaben vor allem in der „Risikokommunikation“. Um „Vertrauen zu schaffen, sind seitens der kommunizierenden Behörden u.a. Transparenz, Aktualität, Einheitlichkeit, proaktives Handeln, Responsivität bzw. Dialog, Verständlichkeit, Zielbezug, Nachvollziehbarkeit und richtig bemessene Emotionalität bzw. das richtige „framing“ in der Kommunikation des Krisengeschehens erforderlich.“ Dazu stellt Korte zutreffend fest, dass die BZgA „gegenwärtig auf die Erfüllung dieser Kommunikationsaufgaben weder vorbereitet noch hinreichend personell und finanziell ausgestattet“ sei (S. 19). Die „pandemische EU-Governance“ sei „auch aufgrund fehlender Kompetenzen und Ressourcen“ „lückenhaft“ gewesen (S. 19).

Bei den „gesellschaftlichen Auswirkungen“ der Pandemie wird positiv auf die relativ große Mitwirkungsbereitschaft der Bevölkerung hingewiesen, aber auch auf nicht näher diskutierte Widersprüche: „Geltende Vorschriften zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes akzeptieren 95 Prozent aller Befragten. Das freiwillige Tragen an öffentlichen Orten findet allerdings nur die Zustimmung von 13 Prozent.“ (S. 21). Kritische Bewegungen werden einfach abgetan: „Zum Zeitpunkt der Studienabgabe Ende 2020 gilt: Die Zahl der ‚Querdenker‘ ist eine deutliche Minderheit.“ (S. 21). Von einer gesellschaftlichen Spaltung könne keine Rede sein, weil die große Mehrheit der Bevölkerung die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung akzeptiere. – Angesichts der Entwicklungen seit Ostern (erneuter Lockdown und Beginn der „4. Welle“) und dem nur quälenden Fortschritt der Impfkampagne wird man diese Einschätzung heute nicht mehr so optimistisch sehen. Jedenfalls stellt Korte mehrfach heraus, dass die Pandemie als Verstärker sozialer Ungleichheit gewirkt habe (u.a. S. 22 und 25). Gleichwohl sei die wirtschaftliche Stabilisierung (vor allem durch die Ausweitung der Kurzarbeit) relativ gut gelungen. „Das deutet insbesondere auf eine starke Resilienz des Sozialstaats und die Wirksamkeit seiner sozialpolitischen Instrumente in der Pandemie hin.“ (S. 22).

Auf deutlich weniger Zustimmung dürften dagegen Kortes überaus wohlwollende Feststellungen zum politischen System treffen: „Die Legislativen entschieden rasch und erreichten so eine weitreichende parlamentarische Mitsteuerung. … Die Gewaltenteilung fördert kluge Arbeitsteilung in der Bekämpfung des Virus.“ (S. 23). Gelobt wird auch der „offensive Umgang mit Fehlern“ (S. 23), leider ohne Beispiele. Zum Föderalismus ringt sich Korte am Beispiel der Impfstrategie doch noch eine kritische Bemerkung ab: „Die fortbestehenden Unterschiede müssen parlamentarisch erstritten, intensiv erklärt und begründet werden. Gerade die Kommunikation dieser Entscheidungsprozesse ist mit Blick auf die vergangenen Monate verbesserungswürdig. Denn so erschien die Vielstimmigkeit oft als Uneindeutigkeit.“ (S. 23). Seine Empfehlung für die Zukunft ist, „zwischen Bund und Ländern standardisierte Kommunikations- und Entscheidungswege“ zu entwickeln (S. 24). Aha!

Einen Ansatzunkt für die „Uneindeutigkeit“ liefert Korte immerhin selbst: „Die Wissensgesellschaft erscheint trotz unterschiedlicher Wahrheitsmärkte im Lichte einer Wissenschaftsgesellschaft. Wissenschaft liefert aber weder einfache noch ewig währende Wahrheiten. Sie liefert immer nur Fakten. Zugleich ist Wissenschaft paradox: Je mehr Wissen sie akkumuliert, desto mehr neue Fragen generiert sie.“ (24). Bemerkenswert ist jedenfalls die zusammenfassende Einschätzung: „Der zum Teil leidenschaftliche Streit zwischen Bürgerinnen und Bürgern und der Bundesregierung und zwischen den Verfassungsorganen untereinander über das richtige Vorgehen in der Pandemie trägt … zur Stärkung der demokratischen Mitte bei.“ (S. 25). Das dürften viele Bürger – angesichts der wenig koordinierten Maßnahmen und des permanenten Schwankens der Politik zwischen Panik und Verharmlosung – anders sehen.

Zutreffend ist dagegen sicher die Erkenntnis, dass die „Kommunikation“ entscheidend sei. Hierzu weicht Korte jedoch ins Allgemeine aus: „Was sollen die Erzählungen prägen: Zusammenarbeit und Hoffnung oder Zwietracht und Verzweiflung?“ (S. 25). Seine abschließende Bewertung, dass die „Empirie des deutschen Falles“ belege, „dass sich diskursmächtige Akteurinnen und Akteure – gerade im Deutschen Bundestag – dankenswerter Weise für eine inklusive, depolarisierende und zukunftsorientierte Kommunikationslinie entschieden haben“, dürfte kaum Bestand haben. So wird in der Zusammenfassung (S. 25f.) auch mehr das Wollen und Sollen beschrieben, als wie es wirklich war. Den passenden Kommentar lieferte die Wirklichkeit nur wenige Tage nach Redaktionsschluss des Berichts: mit dem haarsträubenden Beschluss der Ministerpräsidenten zum Osterlockdown und (später) mit dem allmählichen Zerfasern der Impfkampagne.

 

1.2. Länder

Bemerkenswert ist die Stellungnahme der Länder, die an der bisherigen Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern strikt festhalten wollen, übrigens auch explizit im Bereich der Krankenhausversorgung (S. 30ff.). Insgesamt sollte jedoch die Kommunikation verbessert werden (S. 28). Beim RKI wird (zu recht) angemahnt, dass man auf „repräsentative Studien für Deutschland“ orientieren müsse. Es bedürfe „mehr aussagekräftiger Analysen, etwa zum tatsächlichen Infektionsgeschehen und zur Dunkelziffer an Infektionen, zum Einfluss von Teststrategien auf die Fallaufdeckung und die Entwicklung von Kennzahlen, zur weitergehenden Auswertung schwerer Krankheitsverläufe nach Altersgruppen, um gezieltere Schutzmaßnahmen ergreifen zu können – möglichst differenziert z. B. nach Alter und soziodemografischen Merkmalen (Beruf, Wohnform/Unterbringung u. a.).“ (S. 29). Dabei müssen diese Hinweise als Kritik verstanden werden, denn das RKI (bzw. sein zuständiges Ministerium) hat dies alles nicht bzw. (wenn überhaupt) viel zu spät angegangen. Das gilt auch für den weiteren Hinweis: „Stärker als bisher sollte die Rolle von Settings im Infektionsgeschehen (z. B. Schule, Supermarkt, ÖPNV), ebenso wie die Bedeutung von Pendlern aus dem Aus- und Inland für das Infektionsgeschehen beleuchtet werden.“ (ebenda). Professor Korte hielt an dieser Stelle keine Kritik am RKI für nötig.

Beim öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) räumen die Länder immerhin selbstkritisch ein: „Einer personellen wie materiellen Pandemievorsorge wurde nur eine nachgeordnete Bedeutung zugesprochen.“ (S. 29) Kritisiert wird dann die hektische und plötzliche ÖGD-Förderung durch den Bund, die Augenmaß vermissen lässt. So wird festgestellt, dass das BMG der Auffassung sei, „dass alle 3.500 Stellen haushaltswirksam bis Ende 2022 ausgebracht und bis Ende 2023 besetzt werden müssen. Aus mehrheitlicher Sicht der Länder sollten die 3.500 Stellen über die Jahre bis 2026 gestaffelt ausgebracht werden.“ (S. 29). Der zentrale – und völlig offensichtliche – Grund ist, dass „der Arbeitsmarkt, insbesondere bei den Ärzten und den Pflegefachkräften, einen so starken Personalaufwuchs in kurzer Zeit nicht hergibt.“ (S. 30). Schließlich bietet diese Stellungnahme den Ländern noch Anlass, zur Krankenhausversorgung und zur Versorgung mit Arzneimitteln die altbekannten Bundesratsforderungen zu wiederholen.

 

2. Wissenschaftszentrum empfiehlt Pandemie-Aufarbeitung durch eine Enquête-Kommission des Bundestages

Seit Anfang 2021 hat sich am Wissenschaftszentrum Berlin eine Arbeitsgruppe aus den beiden Politikwissenschaftlern Prof. Bernhard Weßels und Prof. Wolfgang Schroeder sowie dem WZB-Gastwissenschaftler (und ehemaligen Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages) Hans-Peter-Bartels mit der Pandemie-Bewältigung beschäftigt. Auf der Basis von Expertengesprächen mit verantwortlichen Akteuren (aus dem Bundeskanzleramt, dem BMG, den Parteien etc.) haben sie zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie Mitte des Jahres einen Vorschlag zur Einrichtung einer Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages in der nächsten Wahlperiode vorgelegt. Die Arbeitshypothese der Wissenschaftler war: „Das Virus war und ist weniger eine medizinische als eine politische Management-Herausforderung.“ (S. 4). Vor diesem Hintergrund bemängeln sie, dass Deutschland vom „Corona-Virus 2020 tatsächlich überrascht“ wurde und dass das Seuchenszenario des Robert-Koch-Instituts von 2013 keine politischen Maßnahmen ausgelöst habe. Erwogen wird die Einsetzung eines „Chief Risk Officer“ für Deutschland, der dem Bundestag und der Öffentlichkeit einen jährlichen Risikobericht vorlegen soll (S. 6). Man bräuchte endlich – im Gegensatz zum unverbindlichen „Corona-Kabinett“ der Kanzlerin – einen „echten Krisenstab“. (S. 18).

Als zentrales Managementproblem wird die mangelnde Zielorientierung des politischen Handelns herausgestellt: Über beinahe „den gesamten Verlauf der Pandemie in Deutschland (blieb) ungeklärt, auf welches Ziel die staatlichen Maßnahmen eigentlich vorrangig gerichtet sein sollten: a) Reduzierung der Infektionszahlen („Inzidenz“-Orientierung) oder b) Bewahrung des Gesundheitssystems vor Überlastung oder c) Reduzierung der Zahl von Todesfällen und schweren Verläufen.“ (S. 7) Und zu den praktischen Maßnahmen wird kommentiert: „Nicht ideologisches ‚Entweder-Oder‘, sondern pragmatisches ‚Sowohl-als-auch‘ wäre geboten gewesen! Inzwischen ist relativ viel bekannt über die Gefährdungsverteilung in der Bevölkerung. Aber lange schien es so, als wolle man es lieber gar nicht so genau wissen – weil eine Risikodiskussion die Akzeptanz der Lockdown-Strategie in der Öffentlichkeit hätte untergraben können, so möglicherweise die Befürchtung bei den exekutiv Verantwortlichen.“ (S. 8). Als „großes Unglück“ wird eingestuft, dass „die „soziale Frage“ des Infektionsgeschehens erst nach über einem Jahr auf die Tagesordnung kam, nämlich der Einfluss von Wohn- und Arbeitsverhältnissen, Einkommen und Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie kulturelle und sprachliche Barrieren“ (S. 11).

Angesichts der in vieler Hinsicht wenig überzeugenden Performance der Politik (angesprochen wird z.B. das „mitunter dilettantische administrative Management“ in Bezug auf Masken, Apps, Tests, Impfstoffbeschaffung, Terminvergabe, Wirtschaftshilfen, Schulchaos etc.) sollte sich die Corona-Enquetekommission auf die entscheidende Frage konzentrieren: „Was können die organisatorischen Formen eines besseren Krisenmanagements sein?“ (S. 14).

 

3. Externe Evaluation der Regelungen des Infektionsschutzgesetzes
gemäß des § 5 Absatz 9 des Infektionsschutzgesetzes

Im „Gesetz zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen“, das der Bundestag am 4. März 2021 verabschiedet hat, wurde ein weiterer Evaluationsansatz verankert. Im neuen § 5 Abs. 9 heißt es: „Das Bundesministerium für Gesundheit beauftragt eine externe Evaluation zu den Auswirkungen der Regelungen in dieser Vorschrift und in den Vorschriften der §§ 5a, 28 bis 32, 36 und 56 im Rahmen der nach Absatz 1 Satz 1 festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite und zu der Frage einer Reformbedürftigkeit. Die Evaluation soll interdisziplinär erfolgen und insbesondere auf Basis epidemiologischer und medizinischer Erkenntnisse die Wirksamkeit der auf Grundlage der in Satz 1 genannten Vorschriften getroffenen Maßnahmen untersuchen. Die Evaluation soll durch unabhängige Sachverständige erfolgen, die jeweils zur Hälfte von der Bundesregierung und vom Deutschen Bundestag benannt werden. Das Ergebnis der Evaluierung soll der Bundesregierung bis zum 31. Dezember 2021 vorgelegt werden. Die Bundesregierung übersendet dem Deutschen Bundestag bis zum 31. März 2022 das Ergebnis der Evaluierung sowie eine Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Ergebnis.

Dass diese Regelung nur als Feigenblatt für die schon damals umstrittene Fortsetzung der „EpiLage“ fungierte, also niemals ernst gemeint war, zeigt nicht nur die unrealistische Fristsetzung, sondern vor allem die Tatsache, dass der Bundestag erst am 7. September die Sachverständigen der Fraktionen benannt hat. Gewählt wurden auf Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU Dr. Michael Brenner, Dr. Anne Bunte sowie Dr. Christian Drosten. Von der SPD wurden vorgeschlagen und gewählt Dr. Andrea Kießling und Dr. Ute Teichert, von der AfD Dr. Werner Bergholz, von der FDP Dr. Hendrik Streeck, von der Linken Dr. Rolf Rosenbrock und von Bündnis 90/Die Grünen Dr. Thorsten Kingreen. – Auch wenn bekannte Namen darunter sind, wird das Gremium – zumal während der sicher schwierigen Phase der Regierungsbildung – bis zum Jahresende kaum etwas Vernünftiges zustande bringen. Erst recht vor dem Hintergrund, dass zu den von der Bundesregierung zu benennenden Personen nur Gerüchte bekannt sind[2] und die praktische Organisation der Arbeit für das „unabhängige Sachverständigengremium“ völlig offen ist (Geschäftsstelle, Unterstützung durch das BMG? etc.). Sollte bis Ende November bereits eine interne Geschäftsordnung verabschiedet sein, wäre das möglicherweise schon der maximale Erfolg dieses Gremiums.

 

4. Ergebnis

„Die Bundestagswahl ist sicher auch eine Entscheidung darüber, wie gut oder schlecht die scheidende Koalition die Pandemie verwaltet hat. … Die Wahlentscheidung dürfte eng verknüpft sein mit der Frage, welche Art des Krisenmanagements sich die Menschen für die nächsten Wochen und Monate wünschen. Und welche sie ablehnen.“ So schreibt Kim Björn Becker in der FAZ vom 14. September 2021.

Eine solide Basis für diese Entscheidungen haben die Wähler bisher nicht. Offensichtlich waren die politischen Instanzen vor der Wahl nicht daran interessiert, den Umgang mit der Pandemie seriös und systematisch zu beobachten bzw. auszuwerten. Erst wenn das Wahlgetöse vorbei ist und die Schwierigkeiten der Regierungsbildung bewältigt sind, gibt es die Chance zu einer nüchternen Aufarbeitung. Der Vorschlag für eine Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages mit dieser Aufgabe erscheint jedenfalls sachgerecht. Die WZB-Arbeitsgruppe liefert einen ersten Fragenkatalog dafür gleich mit. – Dass die Dinge bisher nicht so gut gelaufen sind, ist bedauerlich. Daraus zu lernen ist jedoch Pflicht. Auch auf der EU-Ebene und im internationalen Vergleich. Dabei ist es nur ein schwacher Trost, dass viele Länder, die bisher schon einmal als Management-Vorbilder in Frage kamen, ihre Rückschläge erlebt haben. Trotzdem könnte ein weiter und vorurteilsfreier Blick helfen, Fehler und erfolgreiche Maßnahmen zu identifizieren.

Dass mit unserem politischen System – nicht nur bei der Pandemiebewältigung – alles zum Besten steht, so wie uns Prof. Korte und auch die Bundesländer weismachen wollen, wird sich bei nüchterner Betrachtung nicht bestätigen. Zur Frage des Demokratieverständnisses unserer Regierungsmehrheiten wurde im Observer die nötige Kritik bereits vorgetragen[3].

  

[1] Hans-Peter Bartels, Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels: Empfehlungen für die Arbeit einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu Lehren aus dem Umgang mit der Corona-Pandemie, Wissenschaftszentrum Berlin, Discussion Paper SP V 2021–102, Juli 2021.

[2] Der Tagesspiegel vom 31.8. berichtet, die Leopoldina habe u.a. Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Jochen Taupitz, Medizinrechtler und bis 2016 Ethikratsmitglied, und Stefan Huster, Direktor des Instituts für Sozial- und Gesundheitsrecht an der Ruhr-Universität Bochum vorgeschlagen.

[3] Erwin Rüddel, Spätestens ab Ende September müssen wir wieder weitestgehend zur Normalität zurückkehren, 10. August 2021; Manuela Rottmann, Pandemie braucht Ordnung, 29. Juni 2021; Fina Geschonneck, Prof. Dr. Andreas Lehr, Handlanger für den Notstandsstaat, Wie die Koalitionsfraktionen im Bundestag Regierungsvorlagen zur Pflegereform und zum Fortbestehen epidemischer Notlage durchpeitschen, 12. Juni 2021

 


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