16.06.2025
Ein Primärarztsystem allein ist nicht die Lösung
Ansätze gegen schleichende Krise von hausärztlicher und pflegerischer Grundversorgung
Dr. Matthias Gruhl, Arzt für öffentliches Gesundheitswesen, Staatsrat a.D.
Früher wurden Insider des Gesundheitswesens nach einem guten Hausarzt oder Hausärztin gefragt. Heute lautet die Frage, welche Hausärzte überhaupt noch Patienten aufnehmen. Anfangs schleichend, inzwischen vielerorts offensichtlich sind die wichtigsten Anlaufstellen der gesundheitlichen Versorgung selbst notleidend geworden.
Allen Landarztprogrammen der Länder und kassenfinanzierten Weiterbildungsmaßnahmen zum Trotz ist der Abwärtstrend in der Grundversorgung nicht zu stoppen. Und inzwischen zeichnet sich eine ähnliche Mangelversorgung in der ambulanten Pflege ab. Dazu folgt hier eine Einordung des Status Quo und möglicher Ansatzpunkte zur Stabilisierung des „Rückgrades des deutschen Gesundheitswesens“. So viel vorweg: Ein Primärarztsystem allein ist nicht die Lösung, sondern kann mehr Arbeit und Unmut auslösen.
Bedeutung der Primärversorgung
Jeden Tag suchen rund 3,8 Millionen Patienten die ambulante vertragsärztliche Versorgung auf, davon rund 2,2 Millionen die hausärztlichen Praxen. Der Anteil der hausärztlichen Praxen liegt bei rund 30 Prozent aller vertragsärztlichen Angebote. Anders ausgedrückt: Eine Minderheit der Praxen ist für die meisten medizinischen Patienten-Kontakte verantwortlich.
Neben der großen quantitativen Bedeutung für die unmittelbare Patientenversorgung und der oft langfristigen Betreuungskontinuität nimmt die primärärztliche Versorgung die Selektionsfunktion für weitergehende ärztliche Behandlungen wahr, sollte für die Koordination komplexer Behandlungen verantwortlich und Informationszentrale für alle gesundheitlichen Leistungen sein. Sie ist u.a. Schnittstelle zur häuslichen Pflege, zu den Hilfsmittelanbietern und den Gesundheitsfachberufen. Eine funktionierende Primärversorgung ist für das Gesundheitswesen essentiell und alternativlos.
Die Kosten der hausärztlichen Versorgung liegen bei 200 bis 400 € pro GKV-Versicherten pro Jahr (ohne veranlasste Leistungen). Dies sind drei bis sechs Prozent der jährlichen Gesamtkosten pro GKV -Versicherten. Die Primärversorgung ist also kostengünstig. Bricht sie weg, steigen die Kosten.
Primärversorgung nicht mehr flächendeckend sichergestellt
Bis zur Jahrtausendwende galt eine Zielrelation von 60 Prozent primärversorgenden Praxen zu 40 Prozent sonstigen fachärztlichen Angeboten. Diese Vorgabe hat sich in der Realität heute mehr als umgedreht und liegt bei 30 Prozent hausärztlicher zu 70 Prozent fachärztlicher Praxen. Zwar nimmt die Zahl der Facharztanerkennungen für Allgemeinmedizin leicht zu, liegt aber immer noch nur bei unter 16 Prozent aller abgeschlossenen Weiterbildungen. Das reicht bei weitem nicht, zumal die Inhaber von hausärztlichen Praxen den höchsten Altersdurchschnitt aller fachärztlicher Praxen aufweisen und vermehrt ausscheiden werden.
Bundesweit sind inzwischen 5.000 hausärztliche Sitze nicht mehr zu besetzen. Nach einer jüngst veröffentlichten Studie der Bertelsmann Stiftung kann sich diese Zahl in den nächsten fünf Jahren verdoppeln. Schon heute nehmen in vielen ländlichen und in ärmeren urbanen Regionen Deutschlands hausärztliche Praxen keine neuen Patienten auf. Ähnliche Engpässe treten bei der ambulanten pflegerischen Versorgung auf. Damit werden die wichtigsten Leistungen der Primärversorgung zunehmend knapp.
Krankenhausschließungen erzeugen regelmäßig ein hohes öffentliches Konfliktpotential. Sie beeinträchtigen das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung, obwohl eine Standortkonzentration fachlich oft zu rechtfertigen ist. Eine hausärztliche Unterversorgung hat deutlich stärkere persönlich erfahrbare Auswirkungen auf die Bevölkerung (Krankenhausaufenthalte einmal alle fünf Jahre, Hausarztbesuche sechs bis sieben Mal pro Jahr) und kann nicht oder nur durch gezielte Fehlallokationen (Aufsuchen der Notaufnahmen) kompensiert werden. Schließungen von Hausarztpraxen haben deshalb eine höhere Sprengkraft, werden zunehmend öffentlich thematisiert und entwickeln sich vielerorts zum kommunalen Politikum. Die Verantwortung zur Wiederbesetzung wird, trotz anderer gegebener Zuständigkeiten, bei den kommunalen Behörden verortet. Eine sich verschlechternde Grundversorgung wird daher als Verschulden der Politik, als System- und Demokratieversagen angesehen und populistisch ausgenutzt.
Von daher sollte neben der Finanzstabilisierung der Sozialversicherungen vorrangig die Sicherung der medizinisch-pflegerischen Grundversorgung als essentieller Schwerpunkt auf der gesundheitspolitischen Agenda stehen. Die Notfallversorgung hat einen inhaltlichen Bezug zur Primärversorgung.
Lösungsansätze
Neue Berufsbilder in der Grundversorgung
Deutschland hat es im Gegensatz zu allen anderen Ländern der EU versäumt, Alternativen zur alleinigen ärztlichen Behandlung in der Grundversorgung zu entwickeln. So gelang es nicht, die Primärversorgung im Regelfall durch andere qualifizierte Fachkräfte wahrnehmen zu lassen und kostbare ärztliche Ressourcen gezielter einzusetzen. Da die Hausärzteschaft ihr Monopol bis heute zäh verteidigt und nur zur Delegation, nicht aber zur grundlegenden Aufgabenneuverteilung bereit ist, leidet die Primärversorgung hierzulande an einer zu schmalen Fachkräftebasis. Im Gegensatz zu der in 26 EU-Ländern praktizierten akademischen Pflege- und Gesundheitsfachausbildung sind die Ausbildungsstätten bei uns überwiegend noch fachschulisch verortet. Aufgrund dieser „minderen“ Ausbildung wird dem Fachpersonal eine (für die Grundversorgung relevante) spezifische Heilkundeerlaubnis verwehrt. Dies reduziert auch die Attraktivität der Pflege für ausländische Fachkräfte.
Welche positiven Auswirkungen eine qualifizierte akademische Ausbildung auf die Fachkräftegewinnung hat, lässt sich anhand des jüngst akademisierten Studienganges der Hebammenausbildung zeigen. Mit deren Einführung steigen die Bewerberzahlen deutlich.
Von daher bedarf es der zügigen Schaffung neuer pflegerischer Berufsbilder, wie sie im Koalitionsvertrag unter der Bezeichnung Advanced Practice Nurse (ANP) oder als Community Health Nursing (CHN) international gebräuchlich sind. Sie ermöglichen eine an den Bedürfnissen der Grundversorgung ausgerichtete eigenständige Heilkundeerlaubnis. Die alleinige Stärkung von delegationsabhängigen Ausbildungen kann eine ortsnahe Grundversorgung nicht entscheidend verbessern, wenn es an Delegationsgebern (Hausärzte) mangelt.
Primärkontakt-System statt Primärarztsystem
Die Stärkung der Koordinations- und Steuerungsfunktion der hausärztlichen Versorgung (Primärarztsystem) ist ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Element zur Verbesserung der Primärversorgung. Trotz der tradierten freien Arztwahl hatten Hausärzte de facto bis zur Abschaffung der quartalsbezogenen Krankenschein-Hefte im Jahre 1995 eine solche Steuerungsfunktion. Durch die Einführung der Krankenversicherungskarte ist diese formale Steuerungsmöglichkeit abgeschafft worden. De jure ist jeder Versicherte unverändert nach § 76 Abs. 5 SGB V verpflichtet, einen Hausarzt zu wählen.
Standespolitisch wirbt die Hausärzteschaft für ein rein hausärztliches Primärarztsystem. Dies würde ihre innerärztliche Position und die Chancen zur Durchsetzung weiterer finanzieller Forderung stärken. Zusätzliche Mittel sind aber weder vorhanden noch sinnvoll, ebenso wenig wie eine versorgungsverbessernde Auswirkung der hausärztlichen Entbudgetierung durch das Gesundheitsversorgungsstärkungsgestz (GVSG) zu erwarten ist.
Das Zielbild eines Primärversorgungssystems ist inzwischen unumstritten, auch wenn unterschiedliche Ausgestaltungsvarianten in der Diskussion sind. Diese Systemänderung soll die Arzt-Patienten-Kontaktzahlen und die Kosten durch eine Verhinderung unbegründeter Facharztbesuche reduzieren.
Es liegen bis heute keine realistischen Vorstellungen vor, wie der Transformationsprozess aus den gegebenen Versorgungsmodalitäten in ein Primärarztsystem erfolgen kann.
In Anbetracht der zunehmenden Unterversorgung ist eine solche wünschenswerte Steuerung über ein alleiniges Primat der hausärztlichen Versorgung faktisch kaum durchführbar. Eine Untersuchung des Zi geht von eins bis neun zusätzlichen Konsultationen pro Tag (bei durchschnittlich 50 hausärztlichen Arzt-Patienten-Kontakten/Tag) aus, bezieht sich aber nur auf die Ausstellung von Überweisungen, nicht auf den zusätzlichen Zeitaufwand für mehr Patientenführung und fachliche Koordination der Versorgung.
Realistisch wäre die Verortung dieser Steuerungsfunktion in einer breiter aufgestellten und stärker vernetzten Primärversorgung. Sie kann so nicht ausschließlich an den persönlichen Patient-Arzt-Kontakt geknüpft werden, sondern sich auf die Primärversorgungseinheit insgesamt bezieht. Die Einführung sollte schrittweise und in Abhängigkeit vom Versorgungsgrad in einer Region erfolgen. Für unterversorgte Regionen sollen andere Versorgungs-Modelle (s.u.) ermöglicht werden.
Aufhebung der horizontalen Sektorisierung in der Primärversorgung
Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht nur vertikal zwischen den Versorgungsstufen versäult, sondern ebenso wenig auf der horizontalen Ebene der Primärversorgung vernetzt. Es gibt keine verbindlichen oder eingeführten Kommunikationsstrukturen oder die Möglichkeit einer flexiblen Kompetenzausübung zwischen der hausärztlichen Versorgung, der ambulanten pflegerischen Versorgung, den Leistungen von Gesundheitsfachberufen sowie den gesundheitsrelevanten Angeboten im sozialen, psychologischen und präventiven Bereich. Interprofessionelle Abstimmung oder übergreifende Fallbesprechungen werden nicht honoriert. Beispielhaft zeigt sich diese fehlende Teamkultur nachteilig bei psychischen oder psychosomatischen Einschränkungen, die in knapp der Hälfte aller hausärztlichen Konsultationen vorliegen und hausärztlich nicht ursächlich behandelt werden können.
Alternativen in Form von Primärversorgungszentren (PVZ) existieren z.T. seit mehr als zehn Jahren in zahlreichen Modellvorhaben, meist durch Länder-Programme, den Innovationsfonds oder Stiftungen unterstützt. Sie haben sich insbesondere für unterversorgte Regionen als relevante Versorgungsform etabliert und bieten sich für junge Fachkräfte als Alternative zu der immer unbeliebteren Niederlassung in Einzelpraxen oder den rein ärztlich ausgerichteten MVZ an. Die in der letzten Legislaturperiode im GVSG vorgesehene Einführung solcher PVZ scheiterte an parteipolitischen Erwägungen der FDP.
Eine Arbeits- und Organisationsstruktur wie bei PVZ, die eine interprofessionelle teamorientierte Zusammenarbeit rechtlich und abrechnungstechnisch ermöglicht, ist besonders für unterversorgte Regionen einzuführen. Sie wäre als Alternative für die vielen Fachkräfte (und Patienten) attraktiv und vorteilhaft.
Chancen der Digitalisierung in der Primärversorgung
Die Potenziale der Digitalisierung sind in der Primärversorgung für eine verbesserte organisatorische Effizienz im Praxisablauf und/oder für eine Reduzierung des hausärztlichen Patientenaufkommens beeindruckend:
- eine digitale Selbsteinschätzung vor (jedem) hausärztlichen Praxisbesuch mit eventueller Anleitung zur Selbstbehandlung
- synchron zur Behandlung agierende Large Language Modelle zur online-Dokumentation, Verfassen von Arztbriefen und anderer Dokumentationspflichten
- KI basierte Diagnostik-Tools zur Unterstützung der diagnostisch-therapeutischen Entscheidung, insbesondere bei bildgebender und visueller Diagnostik
- Algorithmisch-unterstützte Callcenter, wie in der Schweiz oder Israel eingeführt
- arztunabhängige Behandlungsplätze mit telemedizinischer ärztlicher Behandlung, Testung und Verordnungen
- bis hin zum digitalen Zwilling/Avatar des Hausarztes zur KI-gestützten digitalen Behandlung.
Neben der organisatorischen Zeitersparnis für die hausärztliche Versorgung ist eine (nach heutigen Überlegungen) um 20 bis 30 Prozent reduzierte Arzt-Patienten-Kontaktzahl durch externe digitale Alternativen machbar. Ein digitales Einsparpotential in der pflegerischen Betreuung ist möglich, aber bisher nur im geringeren Maße vorstellbar.
Bis heute ist nur ein Bruchteil der digitalen Möglichkeiten real in Deutschland nutzbar, abrechnungsfähig oder erlaubt. Es fehlen die Treiber innerhalb des etablierten Systems, das bekanntlich sehr innovations-schwerfällig ist. Weder die vorherrschenden PVS-Anbieter noch bestehende Institutionen sind in der Lage oder willens, diese Entwicklung proaktiv zu fördern. Branchenfremde, internationale Konzerne bestimmen mit ihren Innovationen diesen „Markt“ zunehmend. Die Entwicklungen sollte man aber nicht Außenstehenden mit vorrangig privatwirtschaftlichen und Daten-generierenden Interessen überlassen. Andernfalls besteht vor dem Hintergrund der wachsenden Unterversorgung in der Primärversorgung die Gefahr eines zweiten, privatwirtschaftlichen digitalen Versorgungsmarktes. Dies würde eine relevante Gefahr für das bestehende Krankenversicherungssystem darstellen.
Es ist dringend geboten, diesen Prozess nicht „laufen zu lassen“, sondern sich proaktiv den neuen digitalen Möglichkeiten zur Entlastung der persönlichen Leistungserbringung in der Primärversorgung rechtlich und faktisch zuzuwenden. Vorrangig sind eine fördernde, aber auch regulierende Konzeption zur Einbindung dieser entlastenden Möglichkeiten in die gesetzliche Krankenversicherung zu entwickeln und Verfahrensschritte zur Implementation zu definieren.
Fazit
Gibt es Signale für ein politisches Problembewusstsein zur schwindenden Primärversorgung? Aus der letzten Legislaturperiode sind nur Spurenelemente im Gesetzblatt angekommen. Und im jetzigen Turnus? Bis auf ein nicht durchdekliniertes Primärarztsystem findet man kaum Hinweise, dass die Schwere der Versorgungskrise erkannt wird. Die bisher geoutete Agenda des BMG und seiner Ministerin konzentriert sich erneut auf die Raupe Nimmersatt Krankenhaus, und irgendwo am fernen Horizont taucht die Notfallversorgung auf.
Dafür ist der überwunden geglaubte Konflikt zwischen der hausärztlichen Fraktion und den sonstigen fachärztlichen Disziplinen wieder ausgebrochen; keiner gönnt dem anderen eine Verschiebung im Machtgefüge infolge der Schlüsselfunktion des Primärarztes. Die Zeit der standesbedingten Eitelkeiten sollte eigentlich vorbei sein. Es geht nicht darum, welche ärztliche Disziplin was macht, sondern eher darum, ob Grundversorgung noch gewährleistet werden kann.
Alle denkbaren Veränderungen zu Gunsten der Primärversorgung sind im Übrigen keine schnellen Lösungen, sie brauchen Zeit: Zeit für die Ausbildung zusätzlicher Fachkräfte und Fachberufe, Zeit für die Adaption der digitalen Werkzeuge, Zeit zum Aufbau neuer Versorgungsformen und Zeit zur Implementation eines funktionierenden Primärkontaktsystems, das für alle Bürger erreichbar ist. Schnelle Erfolge, die politisch hochgeschätzt werden, sind also in der Primärversorgung nicht zu erwarten. Das trübt die Hoffnung auf gesundheitspolitische Weitsicht und Willenskraft, so dass man die absehbaren Verschlechterungen wohl verschläft.
Braucht es wirklich noch mehr populistisch nutzbares Propagandamaterial?
Literatur
beim Verfasser
Lesen Sie zu diesem Thema auch:
Dr. Robert Paquet, Primärarztsystem: Wissen sie, was sie tun (sollen)?, Observer Gesundheit, 24. Mai 2025.
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