11.07.2025
„Eigenverantwortung“ vor gesundheitspolitischem Comeback?
Buchbesprechung: Bertram Häussler zeigt Wege auf
Dr. Robert Paquet
Wirtschaftliche Stagnation in Deutschland und Finanzierungskrise im Gesundheitswesen: Das sind nach Bertram Häussler[1] die Bedingungen, unter denen üblicherweise (und in Zyklen) wieder über mehr „Eigenverantwortung“ nachgedacht wird. Dabei sei sie schon grundsätzlich eine Voraussetzung von Solidarität, was oft vergessen wird.
Aktuell sei dieses Thema jedoch kaum präsent. Obwohl die Lage doch recht ähnlich sei, wie in der zweiten Phase der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Schröder, in der Sozialreformen „mit den Mitteln des Wettbewerbs und der Eigenverantwortung“ geplant wurden (5). Die damaligen Maßnahmen nach der „Agenda 2010“ hätten allerdings die Eigenverantwortung in Verruf gebracht. Deshalb rät Häussler davon ab, es noch einmal mit Selbstbeteiligung, Zuzahlungen und anderen „direkt spürbaren Kontributionen“ (100) zu versuchen. Stattdessen sollte man an den Anspruch der Versicherten anknüpfen, dass ihnen Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Entwicklung und das Angebot von Managed-Care-Modellen könnte ihnen Entscheidungen ermöglichen, mit denen sie Verantwortung für ihre Gesundheit und ihre Krankenversorgung übernehmen. In diesem Sinne geht es dem Autor um „Strukturreformen, die Wahloptionen eröffnen“ (100).
Ein Lösungsansatz für Strukturreformen
Fangen wir von hinten an, bei Häusslers Rückblick auf die Erfahrungen der letzten 20 Jahre und den Empfehlungen für die Zukunft: Die neue Regierung ist nach Häussler mit Lücken im Haushalt und steigenden Beiträgen in der Sozialversicherung konfrontiert[2], kann aber „den Raum des sozialpolitisch Vertrauten“ nicht verlassen (83). Daher sei die Zeit für eine Diskussion über mehr Eigenverantwortung eigentlich reif; im Wahlkampf 2025 habe das Thema jedoch kaum eine Rolle gespielt, sei also nicht gut vorbereitet. Der Ausbau der Prävention (als ein Element der Eigenverantwortung) sei ohne greifbare Effekte geblieben (84). Am Beispiel der zunehmenden Adipositas und der inzwischen wieder abnehmenden Lebenserwartung in Deutschland zeige sich, dass „präventive Anstrengungen… als wesentliches Programmelement zur Steigerung der Effizienz der Gesundheitsversorgung“ kaum Erfolg versprechen (87). Die mit der Agenda 2010 eingeführten Elemente direkter „Risikobeteiligung“ seien unbeliebt, hätten sich nicht bewährt und seien teilweise sogar wieder abgebaut worden (Stichwort Praxisgebühr). Es bleibe somit nur „Managed Care als bisher unerfüllte Option“ (88).
„Unerfüllt“ sei diese Option geblieben, weil die politischen Rahmenbedingungen kein ausreichendes Vertrauen erzeugt hätten, um in diesem Bereich die nötigen hohen Summen zu investieren. Die Krankenkassen hätten keine Vertragspartner gefunden. Die Vergütungsregelungen hätten keine Einsparungen als „Effizienzgewinne“ erwarten lassen. Unpopulär wären – für Patienten und Leistungserbringer – die mit integrierten Versorgungsmodellen verbundenen Elemente gewesen, wie die Begrenzung der Arztwahl, Überweisungs- und Bindungspflichten sowie Behandlungsregeln etc. „Insgesamt lässt sich festhalten, dass Managed Care und Integrierte Versorgung in Deutschland trotz vielversprechender Ansätze und theoretisch positiver Effekte bisher nur in begrenztem Umfang umgesetzt wurden.“ (90). Sie hätten keine Dynamik entfalten können.
Warum glaubt Häussler trotzdem, dass sich ein neuer Anlauf lohnt? Obwohl der Managed-Care-Ansatz „in der Vergangenheit ebenfalls nicht zu den Publikumslieblingen zählte“? Seine These ist: Das Gesundheitssystem habe sich inzwischen so stark verändert hat, dass „Managed-Care-Ansätze zu neuer Popularität gelangen könnten“ (ebenda). Die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Gesundheitswesen (Stichwort: Wartezeiten) könnte die Bereitschaft erhöhen, eine Patientensteuerung zu akzeptieren, um sich überhaupt einen Zugang zu Versorgungsleistungen zu sichern. (So ist wohl der Gedankengang auf Seite 90f. zu verstehen). Verstärkend kämen hinzu: die abnehmende Gesundheitskompetenz und die zunehmenden Probleme, sich im Gesundheitswesen zurecht zu finden (Digitalisierungsschwelle, Sprachprobleme von Ausländern etc.) (95).
Häusslers stärkstes Argument ist aber wohl der „geradezu disruptive Strukturwandel im ambulanten Sektor“: Seitdem diese Möglichkeit vor zwei Jahrzehnten geschaffen wurde, sei der Anteil der ambulant tätigen Ärzte im Angestelltenverhältnis auf über ein Drittel gestiegen. Dementsprechend hofft er, „dass sich insbesondere die ablehnende Haltung der Niedergelassenen gegenüber Managed-Care-Modellen relativiert hat“ (94).
Vor diesem Hintergrund fragt Häussler: „Sollte man dem deutschen Gesundheitswesen ‚Eigenverantwortung‘ verordnen und wenn ja, von welcher Sorte?“ (96) Dabei geht er davon aus, dass die Politik um eine neue Prioritätensetzung nicht herumkommt. Es empfehle sich jedoch, „auf die Implementierung von Instrumenten der Risikobeteiligung zu verzichten, die ein hohes Konfliktpotenzial beinhalten und in ihrer gewohnten Form letztlich von begrenzter Effektivität sind.“ (ebenda) Stattdessen sollte die Politik einen „Neustart“ von Managed Care einleiten. Aus der Sicht zahlreicher Versicherter könnte das heute – so hofft Häussler – eine „Wahl für mehr Versorgung“ bedeuten, „obwohl diese Managed-Care-Modelle tendenziell direktiver sind und weniger Wahloptionen bieten“ (97).
Aus der Perspektive der Ärzte sei die früher „reservierte Haltung“ gegenüber Managed-Care-Modellen „aus deren Abneigung gegen alle Einkaufs- oder Betreibermodelle“ entstanden, die ihrem Begriff von Freiberuflichkeit widersprachen. Die Zunahme der angestellten Ärzte im ambulanten Bereich, die Entwicklung der MVZs und die Tendenz zu „größeren Einheiten …(Kettenbildung)“ habe hier die Dinge jedoch grundlegend verändert. Und dann wird es überaus optimistisch: „Vor diesem Hintergrund kann erwartet werden, dass auch aus der Perspektive der Ärzte mit einer positiven Unterstützung dieses Konzeptes gerechnet werden kann.“ (98) Ebenfalls sehr optimistisch ist die Hoffnung auf Kosteneinsparungen, an denen „Versicherte und Krankenkassen … beteiligt werden könnten“ (97).
Dabei weicht Häussler dem Problem, Betreiber und Investoren für solche Modelle zu finden, nicht aus: „Die Bereitschaft privater Investoren oder bereits existierender Dienstleister (vorwiegend aus dem Ausland), in ein solches Versorgungssystem zu investieren, dürfte weiterhin begrenzt sein.“ Hier hofft er auf die zunehmende Digitalisierung und in Zukunft kreative Antworten (98). „Ebenso bei den Krankenkassen ist weiterhin davon auszugehen, dass sie Managed Care Modelle nicht als Lösung ihrer Effizienzprobleme betrachten. Sie dürften vielmehr befürchten, dass die Versorgung noch teurer würde“ (99).
Um hier neue Konzepte zu entwickeln, müsste die Politik einige der „bekannten Hürden“ abräumen. Es geht um die Möglichkeit, „Wahltarife mit Bindungswirkung“ einzuführen (auch für einen Zeitraum von zwei Jahren oder länger). Es geht um die Aufhebung des „Verbots für Kapitalgesellschaften, in MVZs einzusteigen“. Es geht um völlig andere Formen der Digitalisierung als Alternative zur sog. Telematikinfrastruktur“ etc. (99) Um hier voranzukommen, bedürfte es „allerdings eines klaren Konzeptes, klarer Botschaften und des Willens, einen längeren Weg geradeaus zu gehen, ohne beim ersten Hindernis stehenzubleiben oder vom Weg abzubiegen.“ (101) Diesem Schlusssatz ist uneingeschränkt zuzustimmen.
Vorgeschichte I des Buches
Im ersten Kapitel werden einige Überlegungen zur Eigenverantwortung als „ethischem Konzept“ angestellt. Im zweiten Kapitel wird anhand demoskopischer Daten gezeigt, dass ein zyklisch gegenläufiger Zusammenhang besteht: „Dies bedeutet, dass ‚Eigenverantwortung‘ umso mehr öffentlich thematisiert wird, je schlechter die wirtschaftliche Lage wahrgenommenen wird“ (21). Allerdings habe sich das Thema (noch?) nicht in den Wahlprogrammen der Parteien für die Bundestagswahl 2025 niedergeschlagen (drittes Kapitel). Im vierten Kapitel wird die Geschichte der Eigenverantwortung seit den 90er Jahren verfolgt: Im Sinne der Kostendämpfungsgesetze der letzten Kohl-Regierung bis zum Verständnis der rot-grünen Koalition, die in ihrer zweiten Phase „das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln“ wollte („aktivierender Sozialstaat“ und „Fördern und Fordern“) (33). Einen entsprechenden Wendepunkt markiere das GKV-Modernisierungsgesetz. Danach (Merkel-Regierungen) sei tendenziell die umgekehrte Richtung eingeschlagen worden („Umschwung“ ab 2009). Höhepunkte seien die „ersatzlose Aufhebung“ der Praxisgebühr und die Abschaffung einer Bindungsfrist bei Wahltarifen gewesen (36). Seitdem habe es – statt Einschränkungen – eher deutliche Leistungsausweitungen im SGB V gegeben.
Dem korrespondieren – so Häusslers These – „bedeutsame Veränderungen der Wertestruktur in der Gesellschaft.“ „Die Weltwirtschaftskrise 2008/2009 hat die Wahrnehmung der persönlichen Gesundheit und die Bedeutung des Gesundheitswesens verändert“ (fünftes Kapitel 43ff.). Das Vertrauen in den Sozialstaat sei erschüttert worden und die Sensibilität für „Ungleichheit“ (und „Ungerechtigkeit“) gewachsen (obwohl sich z.B. die tatsächlich gemessene Einkommensungleichheit nicht nennenswert verändert habe) (47ff). Auch durch mediale Verstärkungen (51) sei es zu einem „tiefgreifenden Wandel hinsichtlich der Legitimation des Wirtschaftssystems“ gekommen (53). „Gesundheit“ habe sich (z.B. gegenüber „Erfolg“) „in der persönlichen Hierarchie“ der Werte an die Spitze gesetzt. Das sei „eine rationale Reaktion auf eine Welt, die zum einen ökonomisch weniger berechenbar und erfolgversprechend ist und die zum anderen Freizeit schafft wie keine andere vergleichbare Gesellschaft.“ (54) Diese Entwicklung habe zu einem außerordentlichen Bedeutungsgewinn der Gesundheitspolitik geführt. Mit finanziellen Folgen: „Ab 2014 zeichnete sich ab, dass die Ausgaben für Gesundheit stärker stiegen als das allgemeine Sozialbudget, was die Bedeutung der Gesundheitspolitik für die Sicherung der ‚Massenloyalität‘ … überproportional zunehmen ließ.“ (58)
Vorgeschichte II: Ein Projekt, das die Agenda 2010 reflektiert
Im sechsten Kapitel geht es um den „Gehalt des Begriffs ‚Eigenverantwortung‘ “. Dabei greift Häussler auf eine Studie zum Thema zurück, die in den Jahren 2003 und 2004 von IGES, der RAND Corporation und der Bertelsmann Stiftung durchgeführt wurde. Nach der Agenda 2010 „standen die Prinzipien ‚Wahlfreiheit‘ und damit auch die Verpflichtung zur ‚Eigenverantwortung‘ im Zentrum der Gedanken“ (62). Die systeminhärente Tendenz des gesundheitlichen Versorgungssystems zu Moral Hazard sollte besser beherrscht werden. Damals sei klar gewesen: „Eigenverantwortung kann es nur auf der Basis von Wahlentscheidungen geben“ (64). Als denkbare Wahlmöglichkeiten kamen für die Studie in Frage: Managed-Care-Modelle (u.a. mit Gate Keeping), Wahl der Inanspruchnahme einer Leistung mit einer Kostenbeteiligung (Zuzahlungen oder Boni etc.), Wahlmöglichkeiten innerhalb des Leistungskatalogs einer Krankenkasse und die Wahl zwischen Krankenkassen mit unterschiedlichem Leistungsangebot (Satzungsleistungen etc.).
Aus diesen Elementen wurden für die Studie drei Szenarien kombiniert:
- „Managed Care“ (Vertragswettbewerb und integrierte Versorgung),
- „Wahl von Zusatzpaketen“ (Solidarische Grund- und individuelle Zusatzversorgung),
- „Staatliches Gesundheitssystem“ („Die Krankenversicherungsanstalt des Bundes und der Länder“) (67).
Diese Szenarien wurden in diversen Focusgruppen diskutiert und (später) in einer Bevölkerungsumfrage getestet. Dabei wurden auch „Grenzen und Fallstricke“ (71), d.h. Gefahren wie z.B. der Selbstselektion und Entsolidarisierung (73) berücksichtigt.
Das wichtigste Resultat war „die Erkenntnis, dass die beiden für das Gesundheitswesen wichtigsten Stakeholdergruppen vollkommen unterschiedliche Präferenzen haben, wenn sie Reformoptionen beurteilen sollen“ (75). Die Versicherten und Patienten wünschen sich am ehesten das verstaatlichte Gesundheitssystem. An zweiter Stelle haben die Konsumenten für das Szenario „Managed-Care“ votiert (76). „Im vollen Kontrast zu den Konsumenten konzentrieren die Leistungserbringer ihre Präferenzen ganz klar auf das 2. Szenario, das bei den Konsumenten das am wenigsten beliebte ist. … Das Managed-Care-Modell kommt bei den Leistungserbringern am schlechtesten weg“ (76).
Was heißt das nun für die heutige Situation? Häussler räumt zwar ein, dass bei den Befragungsergebnissen z.B. eine „gleichzeitige Befürwortung von Einheitlichkeit und Wahlfreiheiten bzw. von Tarifvielfalt ohne Leistungsunterschiede zu beobachten“ sei. Das zeige „Grenzen der Befragungsmethodik. Die Befragten wurden nicht ‚gezwungen‘, echte Trade-off-Bewertungen vorzunehmen, d. h. die positiv wie die negativ empfundenen Konsequenzen gegeneinander abzuwägen.“ (78) Die Versicherten bekunden somit, dass sie weder eine längerfristige Bindung, leistungsbezogene Zuzahlungen noch eine Einschränkung ihrer Wahlfreiheiten wollen (79f).
Der Bericht zu dieser Studie ist zwar interessant, weil die verschiedenen hier interessierenden Aspekte tiefer (und empirisch) ausgelotet werden. Er macht aber eigentlich für die heutige Situation eher ratlos. Man könnte eine entsprechende Studie wiederholen und methodisch optimieren. Es spricht jedoch einiges dafür, dass sich der prinzipielle Entscheidungsraum nicht wesentlich geändert hat. Außerdem sind widersprüchliche Wünsche und Einschätzungen der Befragten in den Sozialwissenschaften nichts Ungewöhnliches[3]. Daher erscheint Häusslers Fazit aus dem Projekt etwas voluntaristisch: „Die Ergebnisse … aus dem Jahr 2004 können sicherlich dahingehend interpretiert werden, dass Instrumente der Risikobeteiligung auch heute nicht zu den primär zu empfehlenden Instrumenten gehören. Hingegen sollte über eine erneute Initiative zur Einführung von Managed-Care-Modellen nachgedacht werden“ (82).
Einwände und Relativierungen
Manches in der Argumentation von Häussler erscheint (im Nachhinein, vielleicht?) nicht stimmig. Auch im kurzen Bundestags-Wahlkampf seit dem Ampel-Aus ging es immer wieder um Patientensteuerung. Das im Koalitionsvertrag vereinbarte „Primärarztsystem“ mutet den Patienten verbindliche Entscheidungen zu, die bei Abweichungen auch Konsequenzen haben müssten. Sonst wäre das System nichts wert. Selbst Leistungskürzungen sind seit der Regierungsbildung nicht mehr tabu, so z.B. Gesundheitsministerin Warken und ihre Pflege-AG (im Gegensatz zu den Verlautbarungen des vormaligen Ministers Lauterbach). Was mit Patientensteuerung und Primärarztsystem eigentlich gemeint ist, wissen die Koalitionäre zwar selbst noch nicht so recht. Aber die Entwicklung von Managed-Care-Modellen ist dabei immerhin nicht ausgeschlossen, sondern wäre sogar mit die beste Option.
Nur stehen (leider) die von Häussler selbst beschriebenen Bedingungen einer solchen Entwicklung immer noch entgegen. Die Versicherten wollen sich nicht binden. Sie wollen sich in Wirklichkeit auch nicht steuern lassen (freie Arztwahl). Sie misstrauen den Krankenkassen, wenn diese in Vertragssystemen und bei der Steuerung eine konzeptionelle Rolle spielen sollten. Sie misstrauen auch privaten Investoren als Betreibern medizinischer Einrichtungen. Welche anderen Institutionen stünden aber als Alternative zur Verfügung? Man braucht für Managed-Care-Systeme Trägerstrukturen und Investoren. Wo sollen die herkommen, so lange die Repräsentanten der Selbstverwaltung gegen privates Kapital im Gesundheitswesen polemisieren, fast alle Politiker z.B. die investorenbetriebenen MVZs verbieten wollen und auch die Bevölkerung dem sozialromantischen Bild des niedergelassenen Arztes in der Einzelpraxis nachtrauert.
Die verfasste Ärzteschaft, d.h. die Kammern, Kassenärztlichen Vereinigungen und die ärztlichen Verbände, halten immer noch an diesem überkommenen Leitbild fest (trotz der vielen Ärzte im Angestelltenverhältnis und obwohl die MVZs als Organisationsform weiter auf dem Vormarsch sind). Die Gesundheitspolitiker orientieren sich noch viel zu oft an der Verbändewelt und ihren konservativen Repräsentanten, anstatt an der sich rapide verändernden Wirklichkeit. Vor allem die SPD ist nach wie vor von der „Agenda 2010“ so traumatisiert, dass sie jegliche Zumutung gegenüber den Versicherten scheut wie der Teufel das Weihwasser. Ernst gemeinte Managed-Care-Modelle müssten sich außerdem nach den beteiligten Leistungserbringern, nach den Verfahren und Angeboten unterscheiden. Das würde (definitiv erklärte) Ungleichheit erzeugen und wäre allein schon deshalb politisch angreifbar. Demgegenüber hält (vor allem) die SPD lieber an der formellen Gleichheit fest, die sich in der naturwüchsigen Praxis oft als Ungleichheit erweist. Und so weiter.
Außerdem: Managed-Care ohne finanzielle Leitplanken – sprich Wahltarife – und einer gruppenspezifischen Kalkulation sind nicht möglich. (Auch das wäre explizite Ungleichheit und als „Entsolidarisierung“ angreifbar.) Nur unter diesen Bedingungen könnten die erhofften Effizienzgewinne erfasst werden. Wenn es sie denn überhaupt gibt. Den Versicherten und Krankenkassen kämen sie ohnehin erst in zweiter Linie zugute, denn die Betreiber der Managed-Care-Modelle hätten (zu recht) den Anspruch, ihre Investitionen vorrangig zu amortisieren. Dabei sind solche Effizienzgewinne ziemlich spekulativ, solange man nichts Präziseres über Art und Ausmaß der Koordinationsmängel weiß, die durch Managed-Care ausgeglichen werden sollen[4]. Schließlich gibt es auch die umgekehrte These, dass es erhebliche Versorgungsdefizite gibt, deren Behebung durch geeignete Modelle eher zu Mehrkosten als zu Einsparungen führen dürfte[5]. Was nicht völlig von der Hand zu weisen ist.
Fazit
Das Buch schlägt einen großen Bogen zu seinem Thema, das angesichts der Krise der Sozialversicherungssysteme höchst aktuell ist. Es gibt wichtige Anregungen zum Nachdenken und beweist zudem, dass man dazu keine dicken Wälzer braucht. Der Vorschlag, es noch einmal mit Managed-Care-Modellen zu versuchen, knüpft direkt an die Reformideen der Koalition in der ambulanten Versorgung an. Ein sehr vernünftiger und sympathischer Vorschlag, der durch viele internationale Erfahrungen gestützt wird (z.B. aus der Schweiz). Die Einwände und Relativierungen sollen nur zeigen, wie sorgfältig und differenziert man bei einer solchen Lösung vorgehen muss. Und welche Schwierigkeiten noch zu überwinden sind. Umso wichtiger wäre es, wenn dieses Buch in der kommenden Debatte breit zur Kenntnis genommen würde.
[1] Bertram Häussler: „Eigenverantwortung in der Gesundheitspolitik – Wird sie ihr politisches Comeback haben?“, NOMOS-Verlag, Baden-Baden 2025, und parallel als frei zugängliches eBook: Eigenverantwortung in der Gesundheitspolitik – Nomos eLibrary: https://www.nomos-elibrary.de/de/10.5771/9783748960386/eigenverantwortung-in-der-gesundheitspolitik?page=1. DOI: https://doi.org/10.5771/9783748960386
[2] Das Problem ist grundsätzlich, groß und dringlich, wie die im Koalitionsvertrag angekündigten diversen Kommissionen zeigen. In diesem Sinne hat der Bundeskanzler zuletzt auch in der Haushaltsdebatte am 9. Juli 2025 „große Sozialreformen“ angekündigt (FAZ vom 10. Juli 2025, Seite 15)
[3] Vgl. jüngst Jannis Koltermann: „Paradoxon des Missmuts – Fast alle Deutschen sind zufrieden mit ihrem Leben, fast alle unzufrieden mit ihrem Land …“, in FAZ vom 8. Juli 2025, Seite 9.
[4] Siehe auch Robert Paquet: „Primärarztsystem: Wissen sie, was sie tun (sollen)?“, Observer Gesundheit vom 24.05.2025 https://observer-gesundheit.de/primaerarztsystem-wissen-sie-was-sie-tun-sollen/
[5] Vgl. Schrappe, M., Francois-Kettner, H., Knieps, F., Kraemer, K., Reiners, H., Scherer, M., Voshaar, T.: Unterversorgung im deutschen Gesundheitswesen – das unterschätzte Problem. Monitor Versorgungsforschung 18, 2/2025, 47-64 (unter Mitarbeit von J. Windeler). https://schrappe.com/ms2/index_htm_files/MVF0225_AutorengruppeG_SP1-200325.pdf
Bertram Häussler: „Eigenverantwortung in der Gesundheitspolitik – Wird sie ihr politisches Comeback haben?“, NOMOS-Verlag, Baden-Baden 2025, kostenfreies eBook unter https://doi.org/10.5771/9783748960386
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