Eiertänze, Widersprüche, und was wir schon alle wussten

Zur „Neuausrichtung“ des Infektionsschutzgesetzes im Evaluationsbericht

Dr. Robert Paquet

Vor rund vier Wochen hat der Sachverständigenausschusses nach § 5 Abs. 9 Infektionsschutzgesetzes (IfSG) seinen Bericht zur „Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik“ vorgelegt[1]. Über die spröden Botschaften des „Executive Summary“ hinaus wurde öffentlich daraus bisher wenig zur Kenntnis genommen. Dabei sind die Klagen der Evaluationskommission über eine unzureichende Datenlage beim Pandemie-Monitoring bzw. ihre Vorschläge zu einem besseren Datenmanagement weitgehend Konsens, jedenfalls unter Fachleuten. Ob die Politik daraus irgendwelche Konsequenzen zieht, ist dagegen offen; sie lässt sich bekanntlich ungern auf der Basis harter Daten „evaluieren“. Dann hat sich die Kommission aber auch zum Thema Risikokommunikation geäußert und vollführt einen bemerkenswerten Eiertanz zwischen Alarmierung und Beruhigung der Bevölkerung.

Am wenigsten ergiebig ist das eigentliche Kernkapitel des Berichts zur Bewertung der „Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19 Pandemie“. Hier bringt die Kommission zwar eine wohlabgewogene Diskussion zum Kenntnisstand bei einzelnen Interventionen. Sie geht aber im Erkenntniswert kaum über das allgemein Bekannte hinaus. Das mangelhafte Pandemie-Monitoring und die schlechte Datenlage lassen mehr auch nicht zu. Am spannendsten ist jedoch der letzte Teil zu den rechtlichen Aspekten, der wohl den größten Einfluss auf die Neuausrichtung des IfSG haben wird. Gesundheits- und Justizministerium müssen sich dabei an Empfehlungen abarbeiten, die ebenso anspruchsvoll (um nicht zu sagen hochgeschraubt) wie widersprüchlich sind.

 

Datenlage

Trotz der Einschränkungen durch die mangelhafte Datenlage trägt die Evaluationskommission bemerkenswerte Einsichten und Empfehlungen vor. Wie es das Kommissionsmitglied Christoph Schmidt, Präsident des RWI-Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung, in Essen bei der Pressekonferenz gefasst hat: Manche Ergebnisse seien belastbarer als andere, es ließen sich keine endgültigen Schlüsse ziehen. „Aber gar nichts zu sagen, wäre noch viel schlechter.“ [2] Bemerkenswert ist dabei die Differenzierung, das die verschiedenen Maßnahmen unterschiedlich zu bewerten sind, je nach dem in welcher Phase der Pandemie man sich befinde (Eindämmung, Abmilderung der Folgen und Abwendung der Kollateralschäden/Protektion der vulnerablen Gruppen etc.). In der Einleitung wird dementsprechend festgestellt: „Hinsichtlich des idealen Ausmaßes staatlicher Eingriffe ergibt sich daher ein komplexes Abwägungsproblem. Dieses Problem wird typischerweise dadurch verschärft, dass die Vorzüge des staatlichen Eingreifens – mehr Gesundheitsschutz – und dessen Nachteile, beispielsweise der Verlust wirtschaftlicher Existenzen, psychosoziale Konsequenzen oder die zeitweisen Einschränkungen des Bildungszugangs, typischerweise verschiedene Teile der Gesellschaft in unterschiedlichem Maße berühren.“ – Es musste ja mal ausgesprochen werden.

Im dritten Kapitel „Grundlagen der Evaluation von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung“ wird erklärt, die „wissenschaftliche Begleitforschung“ gehöre „zu den unverzichtbaren Kernelementen einer jeden Krise“. Es gehöre „eigentlich zur guten Praxis der Pandemiebekämpfung, den Fortschritt bei der Erreichung des geplanten Bekämpfungszieles ständig zu evaluieren und die Wirksamkeit der eingesetzten Maßnahmen und deren Kosteneffizienz einzuschätzen“ (25). So sei es aber leider nicht gewesen. Dann folgen einige Seiten sozialwissenschaftlicher ‚Vorkurs‘ in Empirie und Methodenlehre (Untersuchung des wirklichen Lebens statt ideale Studienbedingungen im Laborexperiment, Datenqualität, Wahl der Zielgrößen, Querschnitts- und Längsschnittuntersuchungen etc.). Die meisten Bundestagsabgeordneten hätten solche Propädeutik sicher nötig. Die lesen das aber leider nicht.

Es folgen methodische Erwägungen zur „Evaluation großer Reformpakete“ (33). Hier könne man bei der Pandemie auch noch nacharbeiten. Das „verfügbare Datenmaterial“ sollte man um „eigene Erhebungen“ ergänzen (37). Die Bewertung von Einzelmaßnahmen sei jedoch beim gleichzeitigen Einsatz „umfassender Maßnahmenbündel“ „schwierig, aber unverzichtbar“ (ebenda). Dann wird als „Vorbild“ ausgerechnet die damals vom RWI erstellte (und insgesamt tendenziell positive) Evaluation der Hartz-Reformen angeführt (36). Man solle sich an einem „pragmatischen Evaluationskonzept“ orientieren. Und ein kleiner Trost für die Politik: „In der akuten Corona-Pandemie dürfte es der Politik nur bedingt anzulasten sein, die Dauer und den Umfang der notwendigen politischen Eingriffe nicht von Anfang an vorhergesehen zu haben und wohl auch kaum die mittlerweile erreichte Emotionalität und bisweilen auch Irrationalität der öffentlichen Debatte“ (38). – Jedenfalls die „erfolgreich umgesetzte Evaluation der Hartz-Reformen“ dürfte Gesundheitsminister Lauterbach (SPD) vollständig überzeugen. Von was auch immer.

Auch das kurze Kapitel „Datenmanagement“ behandelt methodische Aspekte (44ff.). „Die Evaluationskommission weist darauf hin, dass die in diesem Kapitel benannten grundlegenden Defizite und Verbesserungsansätze größtenteils auf Stellungnahmen von Fachgesellschaften, des ExpertInnenrats der Bundesregierung, des Sachverständigenrats Gesundheit und der Leopoldina beruhen“ (44). Beschrieben werden die datentechnischen Möglichkeiten, auch der Zusammenführung und die Datengrundlagen für den Forschungsbedarf. – Hier blitzt auch mal etwas Kritik auf: Die „Entscheidungsträgerinnen und -träger“ hätten sich „trotz etablierter Sentinel-Systeme“ während der gesamten Pandemie zu „stark auf die Meldedaten fokussiert“ (47). Und beim „Datenschutz“ wird festgestellt: „Föderalismus und daraus resultierende unterschiedliche Landes-Datenschutzgesetze und Landes-Krankenhausgesetze sowie unterschiedliche Auslegungen der DGSVO erschweren das Datenmanagement und die Forschung in Deutschland jedoch ganz“ (ebenda).

Jedenfalls erfreulich ist die klare Forderung nach einem „Impfregister“ (49f.). Die geforderten Daten zur „Ressourcenauslastung in der Versorgung“ (gemeint ist das Krankenhaus) sollen immerhin jetzt als Meldeverpflichtung im Gesetz verankert werden. „Belastbare Krankenhausdaten wie ein einheitliches Erfassungssystem einschließlich der Ressourcen wie verfügbare Betten, Personal oder Material sind essentiell, um den Zustand des Gesundheitswesens beurteilen zu können“ (10). Wer könnte dem widersprechen?

 

Risikokommunikation

Obwohl dieses Thema nicht zum expliziten Auftrag der Kommission gehörte, habe man sich doch entschieden, diesen „für die Bekämpfung jeder neuen Pandemie … entscheidenden Aspekt in den Bericht aufzunehmen“ (54). „Die Qualität der Risikokommunikation hat entscheidenden Einfluss auf die wahrgenommene Legitimität und die Akzeptanz der zur Pandemiebekämpfung ergriffenen Maßnahmen und damit auf deren Wirksamkeit“ (11). „Insbesondere Unsicherheiten zum Wissensstand, zu getroffenen Maßnahmen sowie ihrer Wirkungsweise müssen in der Corona-Pandemie transparent kommuniziert werden. Professionelle Risikokommunikation sucht dabei die richtige Balance zwischen Alarmierung und Beruhigung der Bevölkerung, nimmt zu relevanten Desinformationen schnell und öffentlich Stellung und entkräftet sie nachvollziehbar“ (ebenda). So banal der Hinweis auch ist, („absolute Zahlen sollten immer ins Verhältnis zur Bezugspopulation gesetzt werden“), er ist nur zu nötig. Und so weiter.

Dabei finde Risikokommunikation nicht im luftleeren Raum statt (54). Der soziale Kontext, die Zielgruppen und ihre Lebenswelten müssten beachtet werden. Bekanntlich hat man erst Anfang 2021 ernsthaft damit begonnen, Corona-Informationen für die migrantischen Milieus aufzubereiten bzw. schlicht zu übersetzen. Es gehe um eine „nationale, multimodale, multilinguale und multimediale Kampagne“ (11), so fordert es jetzt die Kommission. Die eigentlich vorgesehene Aufgabenverteilung auf Bundesebene (BMG, RKI, PEI und BZgA) habe dabei nicht funktioniert. Das Totalversagen der BZgA in der Pandemie wird höflich so vermerkt: „Nach Einschätzung der Fachöffentlichkeit konnte beispielsweise die BZgA ihr volles Potenzial … bei weitem nicht ausschöpfen“ (57).

Bei den „Leitlinien für eine wirksame Risikokommunikation“ wird sodann eine „stringente Kommunikationsstrategie“ angemahnt. „In der öffentlichen Wahrnehmung fehlte eine solche Strategie jedoch ebenso wie eine einheitliche Linie in der Kommunikation der Entscheidungsträgerinnen und -träger aus Bund und Ländern“ (55). Die Kommission muss jedoch – bedauerlich – auch selbst feststellen: „Wissenschaft, Medien, soziale Bewegungen sowie Parteien, Verbände und Vereine repräsentieren eine Vielzahl an Perspektiven und verfolgen mit ihren Kommunikationsmaßnahmen jeweils eigene Interessen“ (56).

„Als besonders problematisch erwiesen sich zudem die gewählten Entscheidungswege. So schien etwa das Entscheidungszentrum für die Bestimmung der Bekämpfungsmaßnahmen über einen sehr langen Zeitraum hinweg bei der sogenannten „Bund-Länder-Runde“ zu liegen. Dieses Gremium ist im Grundgesetz nicht verankert, von den Parlamenten entkoppelt und bestand rein exekutiv aus den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder sowie der Bundeskanzlerin. Es tagte hinter verschlossenen Türen und tat dann nach Ende seiner Beratungen der Öffentlichkeit deren Ergebnisse kund“ (57).

Hier muss jedoch gefragt werden, wie die Bund-Länder-Koordination hätte besser organisiert werden können. Insbesondere angesichts der sich überschneidenden rechtlichen Zuständigkeiten, die in Verbindung mit den Profilierungs- und Wahlkampfinteressen einzelner Landespolitiker/Landespolitikerinnen eine schwierige Gemengelage erzeugt haben[3]. Eine „stringente Kommunikationsstrategie“ musste daher ein Wunschbild bleiben. „Maximale Transparenz“ (auch über die Entscheidungs- und Beratungsstrukturen) zu schaffen, auf „relevante Desinformationen“ schnell zu reagieren, vertrauenswürdige Informationen bereitzustellen, dafür einfache und gut verständliche Verfahren zu entwickeln und die digitale Gesundheitskompetenz der Bürgerinnen und Bürger zu stärken – das ist alles wünschenswert und gut gemeint. Es wird aber das Grundproblem nicht lösen. Alle Beteiligten und Betroffenen (auch die Bevölkerung, die Zivilgesellschaft etc.) werden nämlich die „Balance zwischen Alarmierung und Beruhigung“ in jeweils ihrem eigenen Sinne auslegen und argumentativ bestücken. Dabei sind die Medien nicht zu vergessen, die auf maximale Skandalisierung aus sind.

Selbst, wenn die Abstimmung bei der Kommunikation unter den verantwortlichen Regierungsinstanzen geklappt hätte, wäre da immer noch die Opposition gewesen, die die Dinge – mit Recht – anders sehen darf. Spätestens mit dem Hinweis auf die Fragmentierung der Kommunikationskanäle (61) – wer nutzt zur Information z.B. Fernsehen, Internet und Social Media – müsste der Kommission klargeworden sein, dass die Idee einer abgestimmten Kommunikationsstrategie illusionär ist. Dass der Corona-ExpertInnenrat der Bundesregierung in seiner 5. Stellungnahme vom 30. Januar 2022 die entsprechende Traumtänzerei bereits vorgeführt hat, macht die Sache nicht besser[4].

Die Kommission setzt aber noch einen drauf: „Wer also die Bürgerinnen und Bürger über Dach- und Teil-Kampagnen erreichen will, sollte nicht gleichzeitig Sachinformationen vermitteln“ (61). Das ist erstaunlich! Wie sollte denn z.B. eine Impfkampagne funktionieren, in der die Aufforderungsplakate nicht verknüpft sind (z.B. über QR-Code) mit einem sachbezogenen Informationsportal zu den Impfstoffen, den Impfempfehlungen und den Impfrisiken?

Positiv ist freilich zu vermerken, dass die Kommission für einen „fairen Umgang mit Menschen“ wirbt, die eine „eher kritische oder ablehnende Haltung zur Impfung“ einnehmen. „Diese Gruppe sollte nicht pauschal verurteilt oder gar diskriminiert, sondern auf Augenhöhe und mit Respekt behandelt werden, auch wenn ihre Haltung als nicht nachvollziehbar erscheint“ (64).

Im Ergebnis bleiben die Vorschläge treuherzig bis gut gemeint. So heißt es unter dem Schlagwort „Kompetenzen bündeln“: „Klare Kommunikationsprozesse, eine verbindliche Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen den staatlichen Stellen sowie transparente Entscheidungs- und Beratungswege schaffen Vertrauen. Die zuständigen Behörden auf Bundes- und Landesebene sollten sich dabei an bereits abgestimmte Vorgehens- und Verfahrensweisen halten“ (65). Schön so! – Das wird jedoch keinen Ministerpräsidenten, keine Landesgesundheitsministerin und keinen Spitzenfunktionär der Ärzteschaft davon abhalten, ihren Stellungnahmen einen partei- bzw. interessenpolitischen Spin zu geben. Das gehört auch zur Preis des Föderalismus. Die Hoffnung schließlich, das im Koalitionsvertrag angekündigte Public Health Institut könnte hier eine Verbesserung bringen, ist bestenfalls naiv zu nennen (ebenda).

 

Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie

In Anbetracht der bereits erwähnten Einschränkungen für die Bewertung einzelner Maßnahmen bestätigt der Kommissionsbericht: „So lassen sich zum Teil nur Maßnahmenbündel evaluieren, die Wirkung einzelner Maßnahmen kann jedoch kaum beurteilt werden, da sie meist zeitgleich mit anderen Maßnahmen ergriffen wurden.“ „Um die Effektivität des Pandemiemanagements in Deutschland genau beurteilen zu können, bräuchte es repräsentative Zufallsstichproben, Sentinelstichproben, aussagekräftige Statistiken“ etc. „Auch der internationale Vergleich hilft oft nicht weiter“ (71). Die Kommission beschränkt sich daher auf drei Themenbereiche (Hauptteile des Kapitels): 1. Die allgemeine Infektionsprävention durch Verminderung der Kontakte bzw. Risikominderung in Kontaktsituationen, 2. die Maßnahmen zum Schutz vulnerabler Gruppen und 3. die Maßnahmen zur Abfederung unerwünschter Wirkungen (72). Zur Wirkung von Impfungen wird dagegen nicht Stellung bezogen (ebenda).

Nur exemplarisch einige Aussagen: Im Zusammenhang mit den Lockdowns sei „festzuhalten, dass alle bislang vorliegenden Studien eine eingeschränkte Aussagekraft haben, die von den jeweiligen Autorinnen und Autoren auch klar benannt werden“ (80). Zu den Schulschließungen: „Die Wiedereröffnung von Schulen in Gebieten mit geringer Übertragung und mit geeigneten Minderungsmaßnahmen ging zu Beginn der Pandemie nicht mit einer zunehmenden Übertragung einher – auch dies ist ein Indiz, aber kein Beweis für den Nutzen von Schulschließungen in der Pandemie“ (94). Die „Wirksamkeit“, aber auch die „nicht erwünschten Auswirkungen der Schulschließungen“ sollte schließlich noch mal „eine Expertenkommission genauer evaluieren“ (98). „Aus Kapazitätsgründen werden Maßnahmen wie Abstands- und Hygieneregeln sowie Luftreiniger nicht behandelt“ (ebenda).

Es konnte zwar „gezeigt werden, dass schulische Maßnahmen zur Risikominderung mit einer signifikanten Verringerung des Infektionsrisikos verbunden waren“. Aber „alle genannten Studien – sowohl jene, die eine Effektivität der Maskenpflicht in der Schule belegen, als auch jene, die den Nutzen dieser in Frage stellen, sind rein deskriptiv und erreichen nicht den Evidenzgrad, der nötig wäre, um eine abschließende Aussage zu diesem Sachverhalt treffen zu können“ (101). Zur „Maskenpflicht“ äußert die Kommission daher abschließend: „Sollte eine Maskenpflicht im weiteren Verlauf dieser Pandemie oder bei zukünftigen Pandemien wieder in Erwägung gezogen werden, sollte diese auf Innenräume und Orte mit einem höheren Infektionsrisiko beschränkt bleiben.“ „Frühe Daten aus der Pandemie deuten darauf hin, dass rund 70 Prozent der Infektionen im privaten Umfeld stattfinden, aber nicht im Einzelhandel oder an ähnlichen Orten.“ „Sollte erneut eine Maskenpflicht eingeführt werden, so muss deshalb die Wichtigkeit des richtigen und konsequenten Tragens von Masken deshalb besser und wiederholt erläutert werden“ (alle 103).

 

Rechtliche Aspekte

Am interessantesten ist der Abschnitt „Rechtliche Aspekte“ (138ff.). Allein schon deshalb, weil er für die Journalisten gutes Futter gibt. In der Zusammenfassung wird noch relativ vorsichtig formuliert: „So stellt die „Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 IfSG) eine juristisch fragwürdige Konstruktion dar. Die mit § 5 Abs. 2 IfSG vorgenommene Verlagerung wesentlicher Entscheidungsbefugnisse auf die Exekutive wird im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ganz überwiegend für verfassungswidrig gehalten“ (14). Im Volltext kommt dann aber ein noch wuchtigeres Statement: „Kurzum: die genannten Bestimmungen des § 5 Abs. 2 IfSG sind verfassungswidrig“ (142). Schon die zugrundeliegende Feststellung der „epidemischen Lage“ sehen die Autoren als fragwürdig an. Erstens sachlich, weil der Bundestag „diese Frage im August 2021 trotz nur geringer Inzidenz- und Hospitalisierungszahlen bejaht, dann aber im November 2021 inmitten einer systemischen Gefährdungslage verneint hat“. Das lasse sich nicht epidemiologisch, sondern „allein politisch durch die Veränderung der Mehrheiten im Bundestag zwischen diesen beiden Beschlüssen erklären“ (139).

Zweitens „rechtskonstruktiv“: So sei diese Feststellungsbefugnis „mindestens ungewöhnlich“ aus drei Gründen: 1. Die „horizontale Gewaltenteilung“ (also das Verhältnis von Legislative und Exekutive) werde verletzt, wenn der Bundestag selbst über die Anwendung eines förmlichen Bundesgesetzes entscheide. 2. Die „vertikale Gewaltenteilung“ (Bundesstaatsprinzip) werde berührt, weil „allein der Bundestag über die Anwendung eines Bundesgesetzes entscheidet, an dessen Zustandekommen indes auch der Bundesrat mitgewirkt hat.“ Auch wenn die Länder (mehrheitlich) den Bedarf zu der entsprechenden Feststellung sähen, könnten sie dieses Anliegen überhaupt nicht mehr geltend machen. 3. werde gegen die Regeln des „Gesetzgebungsverfahrens“ verstoßen (Art. 76-78 GG, §§ 75ff GOBT). Denn die auf der Feststellung beruhenden Verordnungsermächtigungen in § 5 Abs. 2 IfSG betreffen gravierende Grundrechtseinschränkungen für die ein „förmliches Gesetzgebungsverfahren“ erforderlich sei (140). „Die durch den Feststellungsbeschluss ausgelösten staatsorganisationsrechtlichen Verschiebungen lösen daher jedenfalls einen verfassungspolitischen Rechtfertigungsbedarf aus“ (ebenda). Die Autoren halten die „Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 IfSG) daher für „eine juristisch insgesamt fragwürdige Konstruktion“. Sie sei „verzichtbar, wenn hinreichend konkrete Parlamentsgesetze verabschiedet werden“ (141).

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die hier nun kritisierte „Feststellung“ ins Gesetz eingefügt wurde, um dem (berechtigten) Vorwurf einer Übermacht der Exekutive beim Pandemiemanagement zu begegnen. Daher gibt es auch Stimmen, die für ihre Beibehaltung sprechen. Eine Abkehr von dieser Konstruktion wäre „eine kleine Entparlamentarisierung“, erklärte Steffen Augsburg, Professor für öffentliches Recht in Gießen und Mitglied des Deutschen Ethikrates. Das Parlament würde eine zusätzliche Kontrollfunktion abgeben. Auch der Verfassungs- und Medizinrechtler Josef Franz Lindner von der Universität Augsburg sieht in der „Feststellung“ des Bundestages zur EpiLage eine Stärkung der Legitimation der Corona-Maßnahmen[5]. Beide Juristen konnten allerdings zum Zeitpunkt ihrer Äußerung die Begründung der Evaluierungskommission noch nicht kennen; daher dürfte es umso interessanter sein, ihre Stellungnahme zum kommenden Gesetzentwurf zu lesen.

Jedenfalls haben beide in dem erwähnten Artikel bereits ein systematisches bzw. logisches Dilemma angesprochen: Je konkreter die Voraussetzungen und Eingriffsschwellen im IfSG gefasst werden, umso schneller „veralte das Gesetz“, und umso kürzer müssten ggf. die Abstände seiner Novellierung sein. Dem Jubel der FDP über die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Regelung müsste übrigens auch die SPD entgegentreten; immerhin war zum Zeitpunkt ihrer Einführung Christine Lambrecht Justizministerin und damit zuständig für das „Verfassungsressort“.

Aber weiter im Evaluationsbericht: Durch § 5 Abs. 2 Nr. 3, 4, 7, 8 und 10 IfSG werde die „verfassungsrechtlich fundierte Normenhierarchie … auf den Kopf gestellt. Diese Normen ermächtigen das Gesundheitsministerium dazu, von einer Vielzahl von Gesetzen abzuweichen, insbesondere bestimmte Ausnahmen von gesetzlichen Vorschriften zuzulassen“ (141). Dass mit Verordnungen Gesetze (partiell) außer Kraft gesetzt werden können, und das auch noch ohne Beteiligung des Bundesrates, sei verfassungswidrig. Es gehe dabei auch nicht nur um „randständige Aspekte oder technische Details“ (142). Der „normhierarchische Gesichtspunkt (wäre) auch durchschlagend, wenn es nicht auch noch an der fehlenden Bestimmtheit der Ermächtigung im Sinne des Art. 80 Abs. 1 GG gemangelt hätte“ (143). So weit ist das nachvollziehbar.

Verordnungsermächtigungen müssen dem Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG genügen. „Danach sind „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung“ im Gesetz zu bestimmen. Literatur wie vor allem die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur legt hier relativ strenge Maßstäbe an“ (ebenda). Die Empörung der Autoren führt dazu, dass der gleiche Kritik-Satz gleich zweimal erscheint: „Im Falle der Ermächtigungen in § 5 Abs. 2 IfSG kann indes von einer irgendwie erkennbaren Begrenzung im Hinblick auf Inhalt, Zweck oder Ausmaß keine Rede sein.“ Bis zu 1000 Normen könnten betroffen sein. Hier werde eine „Blankovollmacht“ erteilt. (ebenda). „An die Stelle der verfassungsrechtlich bedenklichen Regelung des § 5 Abs. 2 IfSG sollten vorzugsweise konkrete Ermächtigungsgrundlagen zum Erlass von Rechtsverordnungen in den einzelnen Fachgesetzen treten“ (144).

 

Die Konsequenzen

Angesichts dieser massiven Kritik ist man gespannt auf die Reformvorschläge: Man solle doch von COVID 19 abstrahieren und im IfSG „Regelungsstrukturen“ schaffen, „die nicht nur auf COVID-19 zugeschnitten sind, sondern verschiedene Arten von Krankheitserregern mit ihren unterschiedlichen Übertragungswegen erfassen können.“ Die Detailfragen zu Schutzmaßnahmen, möglichen Impfungen und Testverfahren etc. sollen in Verordnungen geregelt werden (147). Dabei sind – so haben wir gesehen – die Anforderungen an Verordnungsermächtigungen durchaus hoch. Gleichzeitig ist den Autoren beispielweise bewusst: „Die Frage, in welchem Maß der Schutz der individuellen Gesundheit und des Lebens auch flächendeckende Schutzmaßnahmen zulässt, kann allerdings nicht auf der abstrakt-generellen Ebene des Gesetzes beantwortet werden“ (147).

Was dann allerdings zur „Ausgestaltung von Befugnisnormen“ empfohlen wird, erfordert faktisch die Quadratur des Kreises: „In Zukunft sollten Schutzmaßnahmen mit Eingriffsschwellen verknüpft werden. Die gesetzlichen Tatbestände müssen die betroffenen Grundrechte abbilden und abhängig von der Intensität der Betroffenheit differenzierte Anforderungen an Schutzmaßnahmen stellen. … Unterschiedliche Maßnahmen sollten dementsprechend im IfSG in unterschiedlichen Vorschriften geregelt werden; die entsprechenden Befugnisse müssten jeweils spezifische Konkretisierungen des Gefahrenbegriffs, der Adressaten der Schutzmaßnahmen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit enthalten.“ Ob dafür das empfohlene Vorbild der „Standardmaßnahmen in den Polizei- und Ordnungsgesetzen der Länder bzw. des Bundes“ zielführend ist, kann von hier aus nicht bewertet werden. Es drängt sich nur ein Eindruck auf: Die Autoren haben in der Einleitung des Rechtskapitels zutreffend festgestellt, dass sich „das IfSG mittlerweile zu einem recht unübersichtlichen und unsystematischen Regelungsgeflecht entwickelt“ habe (138). Ob es mit ihren höchst widersprüchlichen Anforderungen und Empfehlungen übersichtlicher würde, darauf kann man nur gespannt sein.

Sicher verständlich im Sinne einer besseren Systematisierung werden unverdrossen weitere Differenzierungen empfohlen. So sollen z.B. die Befugnisnormen, die Kinder bzw. die in Kitas und Schulen Beschäftigten adressieren, säuberlich getrennt werden von Regelungen für Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen für Erwachsene. Bisher würden alle diese Einrichtungen in § 28a Abs. 1 Nr. 16 IfSG zusammen angesprochen (149). Auch der abschließende Ratschlag zu einer Reform des IfSG changiert zwischen mehr Abstraktion und Konkretisierungsbedarf. So sollten die Ermächtigungsgrundlagen so formuliert werden, „dass möglichst viele verschiedene Krankheitserreger erfasst werden. … Bereits jetzt sollten aber nicht nur die in § 28a und § 28b IfSG aufgeführten Schutzmaßnahmen in mögliche Neuregelungen überführt werden, sondern es sollte geprüft werden, ob ggf. weitere Schutzmaßnahmen, die bei COVID-19 keine Rolle gespielt haben, in das Gesetz aufgenommen bzw. ob die jetzigen Maßnahmen abstrakter gefasst werden müssen“ (150). Welche Schutzmaßnahmen für bisher noch unbekannte Krankheiten könnten das denn sein? – Aus ihrer Unsicherheit versuchen die Autoren sich mit einer abstrahierenden Wortschatzübung zu befreien: „So könnte etwa die Maskenpflicht ersetzt werden durch eine Schutzkleidungspflicht“ (150).

Zum Schluss soll kurz auf die Föderalismus-Komponente eingegangen werden. Die Autoren kritisieren nämlich die Einführung „bundesweit einheitlicher Maßnahmen“ nach § 28b IfSG. „Die formell-rechtliche Dezentralisierung der Schutzmaßnahmen wurde zunächst durch eine informelle Zentralisierung in Bund-Länder-Konferenzen eingeebnet, die die Schutzmaßnahmen der Länder koordinieren sollten. Nachdem das nur begrenzt gelang, erfolgte mit den Regelungen der sog. Bundesnotbremse eine einzigartige Zentralisierung des Pandemiebekämpfungsregimes.“ Das Bundesverfassungsgericht habe diese Regelungen zwar verfassungsrechtlich gebilligt, eine Wiederholung dieses Regelungsregimes könne jedoch nicht empfohlen werden. Nämlich: „Weil die Maßnahmen unmittelbar aus dem Gesetz folgten, entfiel die dezentrale Feinsteuerung durch die Landesverwaltungen“ (150). Auch in der Pressekonferenz, auf der der Bericht vorgestellt wurde, blieb die Frage, warum der Bericht so föderalismusfreundlich sei, unbeantwortet. Im Klartext wird hier jedoch gesagt: Weil eine bundesweite Koordination gescheitert ist, legen wir die Dinge in die Hand der 16 Bundesländer. Ist das denn wirklich so gut gelaufen, mit der „dezentralen Feinsteuerung“?

Und dann nochmal: „Es wird empfohlen, hinreichend konkrete Bundesgesetze zu erlassen und die Konkretisierung durch Rechtsverordnungen (Art. 80 GG) und Allgemeinverfügungen den Ländern zu überlassen. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass das bewährte Modell des deutschen Exekutivföderalismus (Art. 83 GG) nicht auch in einer Pandemie funktionieren sollte“ (151). Aber Hallo! – Immerhin, so muss man den Autoren zugestehen, erwähnen sie einmal den Punkt: „Es sollte ganz grundsätzlich überlegt werden, bei welchen Rechtsverordnungen die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat erforderlich ist“ (151).

Dabei ist sicher die Feststellung zutreffend: „Generell gefährden häufige Änderungen in der Pandemie-Governance das öffentliche Vertrauen in die Schutzmaßnahmen und ggf. auch deren Effektivität“ (151). „Dies schließt nicht aus, dass der Gesetzgeber bei Auftreten einer neuen Epidemie ggf. punktuell das Gesetz nachbessern bzw. anpassen müsste“ (150). – Man kommt also aus dem Dilemma nicht heraus. Entweder man bleibt in den Gesetzesregelungen relativ abstrakt und muss dann bei neuen Krankheiten immer wieder nachsteuern, mindestens aber die Verordnungen anpassen. Oder man überfordert sich mit einem Konkretisierungsanspruch, der alle (von heute aus nur denkbaren) Pandemieentwicklungen zu antizipieren versucht. Damit liegt schließlich auch die Frage auf dem Tisch, ob und wieweit das öffentliche Vertrauen in die Pandemie-Governance nicht auch durch die häufige Anpassung der entsprechenden Verordnungen und erst recht durch die unterschiedliche Umsetzung und Handhabung in 16 Ländern „gefährdet“ wird. Dass die entsprechenden Konflikte und Debatten aus zweieinhalb Jahren Pandemie-Erfahrung von den Autoren kaum beachtet werden, gibt schon zu denken.

 

Schlussbemerkung und Ausblick

Dabei könnte sich zeigen, dass die Einsetzung von Kommissionen, Expertenräten etc. einen gar nicht so geheimen Sinn verfolgt: Dass nämlich alle (oder mindestens sehr viele) sachkundige Leute einbezogen werden. Jeder darf von sich was unterbringen; die Teile des Berichts wurden ersichtlich von unterschiedlichen Personen (oder Arbeitsgruppen) geschrieben und passen oft nur mühsam zusammen (z.B. bei der Bewertung des Föderalismus). Die jeweiligen Positionen werden im Gremium nivelliert. Formelkompromisse helfen weiter. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass eine harte Kritik – jedweder Vorschrift bzw. Maßnahme – keine echte Chance mehr hat.

Trotzdem: Was nimmt man mit?

  • Den nachdrücklichen Hinweis – und das dürften alle Mitglieder der Kommission so sehen –, endlich ein datengestütztes Pandemie-Monitoring einzuführen. Es sei nie zu spät, hier etwas zu verbessern. Zum Corona-Management der Regierung gehöre zwingend auch ein Evaluationskonzept für alle Maßnahmen.
  • Die vielen (nicht-pharmazeutischen) Interventionen lassen sich nur schwer im Einzelnen bewerten, weil sie praktisch immer als Maßnahmenbündel zur Wirkung kommen. Trotzdem müsse man es versuchen und künftig die Wirkungsforschung von Anfang an mit einplanen (siehe 1.). Dementsprechend werden von der Kommission verschiedene Maßnahmen phasenbezogen und differenziert bewertet (Lockdown, Schulschließungen, Maskenpflicht etc.). Die Ergebnisse verraten Augenmaß und lassen für die Zukunft einen pragmatischen Umgang mit den Dingen zu.
  • Die Risikokommunikation ist in vieler Hinsicht verbesserungsfähig. Das ist unbestritten. Aber das von der Kommission sehr hochgesteckte Ziel einer „abgestimmten Kommunikationsstrategie“ ist illusorisch. Die Abstimmung innerhalb der Regierung, mit dem RKI und anderen Behörden kann optimiert werden. Aber schon mit den Ländern wird es schwierig bleiben. Jeder Politiker hat seine eigene Agenda. Die Medien spitzen die Differenzen zu und die Bürger wählen die Argumente und Einschätzungen aus, die ihnen passen. An dieser Dynamik kommt keiner vorbei.
  • Die Novellierung des IfSG wird eine anspruchsvolle Aufgabe für die gesamte Regierung. Die rechtlichen Hinweise der Kommission dürften die Lawmaker im Gesundheits- und Justizministerium ins Grübeln bringen. Wenn im Sinne der Kommission verfassungsrechtlich sauber eine Art Ausnahmezustand geregelt werden soll, müssen auch weitere Gesetze einbezogen und geändert werden. Dabei geht es jeweils um die Eingriffsschwellen für Notmaßnahmen und Sonderregelungen, um deren praktikable Beschreibung und um eine antizipierende grundrechtliche Güterabwägung etc. Das alles möglichst konkret, aber doch abstrakt genug, damit es auch für die nächsten Pandemien passt. Die offene Frage ist, wie viel davon bis zum 23. September geschafft werden kann.

 

[1] Evaluationsbericht IFSGfinfin 12 Uhr-1.pdf

[2] FAZ vom 02.07.2022, Seite 2

[3] Besonders unglücklich hat sich hier die Führungskrise der CDU ausgewirkt und der Umstand, dass die Unionsparteien in der Folge einen Kanzlerkandidaten aufstellen mussten.

[4] https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/corona-expertinnenrat-der-bundesregierung (zuletzt abgerufen am 26.07.2022)

[5] DIE WELT Berlin vom 01.06.2022, Seite 4


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