02.08.2022
Digitalisierung reduziert soziale Ungleichheit
USA-Studienergebnisse: Weniger Gliedamputationen bei schwarzen Patienten durch elektronisch-standardisierte Protokolle
Bewegungen wie „Black Lives Matter“ führen uns immer wieder vor Augen, dass die soziale Ungleichheit zwischen Schwarzen und Weißen immer noch ein Thema ist in unserer heutigen Zeit. Auch in der Gesundheitsversorgung macht die soziale Ungleichheit nicht halt. Die Forderungen nach Maßnahmen, um diese Missstände zu beseitigen, sind allgegenwärtig. Eine Studie von Ganju et al.[1] untersucht, ob soziale Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung mit der Hilfe von Digitalisierung verringert werden können.
Die Digitalisierung schreitet im Gesundheitswesen immer weiter voran. Beispielsweise können mit der elektronischen Patientenakte zentrale Patienteninformationen sektorenübergreifend ausgetauscht und eingesehen werden. Eine Vielzahl an Studien konnte den Nutzen der elektronischen Patientenakte nachweisen, wie z.B. die Reduzierung von Kosten, Medikationsfehlern oder Komplikationen. Durch die elektronische Patientenakte können weitere wertvolle Tools genutzt werden. Ein Beispiel hierfür sind Systeme zur Unterstützung von klinischen Entscheidungen, so genannte Clinical Decision Support-Systeme (Abkürzung: CDS-Systeme). Mit der Hilfe von CDS-Systemen erhalten Ärzte patientenindividuelle Empfehlungen zu Behandlungsentscheidungen und zu anzuwendenden Diagnoseverfahren. Ein CDS-System setzt voraus, dass Ärzte standardisierten Protokollen folgen. In Abhängigkeit zu dem vorliegenden Krankheitsbild (z.B. Diabetes) beinhalten die standardisierten Protokolle Anweisungen dazu, welche diagnostischen Tests durchgeführt und wie zentrale Untersuchungsergebnisse dokumentiert werden sollen. Dadurch entsteht ein strukturierter Informationserfassungsprozess, der Ärzte dabei unterstützt, die Krankheitsschwere von den Patienten richtig einzuschätzen und damit eine patientengerechte Behandlungsentscheidung zu treffen.
Ganju et al.[1] gehen davon aus, dass CDS-Systeme mit elektronisch-standardisierten Protokollen nicht nur zu einer Verbesserung der Versorgungsqualität beitragen, sondern auch zu einer Reduzierung von sozialen Ungleichheiten führen. Hiervon würden Patienten profitieren, die ursprünglich nicht optimal von Gesundheitsdienstleistern behandelt wurden. Die Argumentation stützt sich auf vergangene Studien, die gezeigt haben, dass die Gliedamputationsrate bei schwarzen Patienten höher ist, wohingegen weißen Patienten ihre Gliedmaßnahmen durch Behandlungsalternativen erhalten bleiben [2, 3]. Zentraler Gegenstand der Studie von Ganju et al.[1] war es daher zu untersuchen, ob CDS-Systeme soziale Ungleichheiten zwischen schwarzen und weißen Patienten in der Gesundheitsversorgung verringern.
Studiendesign
Im Rahmen der Studie[1] wurden die Behandlungsentscheidungen vor und nach der Einführung eines CDS-Systems bei schwarzen und weißen Diabetespatienten untersucht.
Treten Durchblutungskomplikationen auf, hat ein Diabetespatient oft zwei Behandlungsoptionen: (1) eine Gliedamputation oder (2) eine Revaskularisation (z.B. durch Bypass-OP oder Stent). Welche Behandlungsoption am geeignetsten ist, entscheidet der Arzt, wobei angesichts der Reduzierung der Lebensqualität eine Gliedamputation sicherlich der letztmögliche Ausweg sein sollte. Ganju et al.[1] konzentrieren sich auf diese beiden Behandlungsentscheidungen bei Diabetespatienten. Diejenigen Diabetespatienten, bei denen beide Behandlungsverfahren innerhalb eines Krankenhausaufenthaltes angewendet wurden, wurden von der Studie ausgeschlossen.
Der Datensatz für die statistische Analyse umfasste so rund 80.000 Diabetespatienten aus den Jahren 2006 bis 2013, die in drei US-Bundestaaten behandelt wurden (Florida, Kalifornien, Maryland). Die drei US-Bundesstaaten wurden ausgewählt, weil hier im Vergleich zu anderen US-Bundesstaaten eine hohe Rassendiversität vorlag. Neben den Patientendaten konnten Ganju et al.[1] aus dem Datensatz ebenfalls einsehen, in welchem Jahr ein Krankenhaus ein CDS-System eingeführt hat. Dadurch konnten sie die Behandlungsentscheidungen vor und nach der Einführung eines CDS-Systems miteinander vergleichen sowie Unterschiede zwischen schwarzen und weißen Diabetespatienten herausarbeiten.
Um die Studienergebnisse nicht zu verfälschen, wurden im Rahmen der statistischen Analyse weitere Faktoren berücksichtigt, die eine Behandlungsentscheidung beeinflussen können (z.B. Krankheitsschwere und Alter).
Ergebnis 1: Weniger Gliedamputationen bei schwarzen Diabetespatienten durch elektronisch-standardisierte Protokolle. Wahrscheinlichkeit für weiße Diabetespatienten bleibt gleich.
Die zentralen Studienergebnisse sind in Abbildung 1 dargestellt und werden im Folgenden nähergehend erläutert.
Ganju et al.[1] haben festgestellt, dass sich die Wahrscheinlichkeit für eine Gliedamputation nach der Einführung eines CDS-Systems für schwarze Diabetespatienten verringert. Bei weißen Diabetespatienten hingegen blieb die Wahrscheinlichkeit für eine Gliedamputation nach der CDS-System-Einführung nahezu unverändert. Die Gliedamputationsrate ist bei schwarzen Diabetespatienten nach der CDS-System-Einführung um 4 % gesunken. Das sind in etwa 550 weniger Gliedamputationen pro Jahr.
Diese positive Entwicklung wird auf die standardisierten Protokolle zurückgeführt, die in den CDS-Systemen enthalten sind. Die vereinheitlichte Durchführung und Dokumentation von Diagnoseverfahren sorgt dafür, dass Ärzte eine fundierte Behandlungsentscheidung treffen können. Ferner beinhalteten die standardisierten Protokolle die Anweisung, vor der Umsetzung einer Behandlung eine Rücksprache mit einem Facharzt für Revaskularisationen durchzuführen. Mit dieser zusätzlichen Facharzteinschätzung entscheidet sich der behandelnde Arzt womöglich eher für eine Revaskularisation, die er zuvor als wenig erfolgsversprechend angesehen hat.
Ganju et al.[1] betonen, dass der Rückgang der Amputationsraten bei schwarzen Diabetespatienten nicht darauf zurückzuführen ist, dass Ärzte vor der Einführung eines CDS-Systems absichtlich „diskriminierende“ Behandlungsentscheidungen getroffen haben. Durch die strukturierte Informationserfassung mittels standardisierter Protokolle erhält jeder Arzt die gleichen und richtigen Patienteninformationen. Die Verbesserung der Entscheidungsgrundlage führt dazu, dass für JEDEN Patienten eine auf gleichen Informationen basierte Behandlungsauswahl erfolgt.
Ferner zeigen die Studienergebnisse, dass der Anstieg an Revaskularisationen keineswegs dazu führte, dass die entsprechenden Patienten nachträgliche Gliedamputationen erhielten. Dies unterstreicht, dass die durchgeführten Revaskularisationen nach der Einführung eines CDS-Systems eine geeignete Behandlungsmethode waren. Somit wurden Ressourcen des Gesundheitswesens effizient genutzt und nicht verschwendet.
Abbildung: Wahrscheinlichkeit für eine Gliedamputation vor und nach der Einführung von elektronisch-standardisierten Protokollen
Quelle: Eigene vereinfachte Darstellung der Studienergebnisse von Ganju et al. [1].
Ergebnis 2: Schwarze Diabetespatienten mit einer mittleren Krankheitsschwere profitieren am meisten von elektronisch-standardisierten Protokollen.
Um zu untersuchen, welche schwarzen Diabetespatienten von einem CDS-System am meisten profitieren, wurde die Krankheitsschwere betrachtet. Schwarze Diabetespatienten hatten entweder eine hohe, eine mittlere oder eine niedrige Krankheitsschwere. Ganju et al.[1] konnten zeigen, dass schwarze Diabetespatienten mit einer mittleren Krankheitsschwere am meisten von der Einführung eines CDS-Systems profitieren. Bei dieser Patientengruppe änderten sich die Behandlungsentscheidungen mit der CDS-System-Einführung, was sich durch einen Rückgang der Amputationsrate zeigte. Bei schwarzen Diabetespatienten mit einer niedrigen oder hohen Krankheitsschwere blieben die Behandlungsentscheidungen nahezu unverändert. Schwarze Diabetespatienten mit einer niedrigen Krankheitsschwere erhielten vorrangig Revaskularisationen, und schwarze Diabetespatienten mit einer hohen Krankheitsschwere Gliedamputationen.
Hieraus lässt sich ableiten, dass vor allem Patienten, bei denen die Krankheitsschwere schwer einschätzbar ist, am meisten von einem CDS-System profitieren.
Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis?
CDS-Systeme mit standardisierten Protokollen können vermeidbare Gliedamputationen verhindern. Hiervon profitieren vor allem schwarze Diabetespatienten mit einer mittleren Krankheitsschwere. Schwarze Diabetespatienten, die nach der CDS-System-Einführung eine Revaskularisation erhalten haben, hatten in der Langzeitbetrachtung keine nachträgliche Gliedamputation. Dies zeigt, dass mit der Hilfe von elektronisch-standardisierten Protokollen geeignete Behandlungsentscheidungen getroffen wurden und damit eine effiziente Nutzung der verfügbaren Ressourcen im Gesundheitswesen erfolgt.
Ganju et al.[1] betonen, dass es von Bedeutung ist, Entscheidungsträger im Gesundheitswesen auf die positiven und gleichzeitig unerwarteten Effekte von Digitalisierungsmaßnahmen aufmerksam zu machen. Die Erkenntnis, dass durch elektronisch-standardisierte Protokolle soziale Ungleichheiten in der Patientenversorgung verringert werden können, sollte als Anreiz gesehen werden, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen weiter voranzutreiben.
Elektronisch-standardisierte Protokolle verringern soziale Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung. Durch die Einführung von Clinical Decision Support-Systemen wird vermeidbaren Gliedamputationen bei schwarzen Diabetespatienten entgegengewirkt. Die Studienergebnisse unterstreichen den Nutzen der Digitalisierung für die Gesundheitsversorgung. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen sollte von Entscheidungsträgern weiter vorangetrieben werden.
- Ganju, K.K., Atasoy, H., McCullough, J., and Greenwood, B., The Role of Decision Support Systems in Attenuating Racial Biases in Healthcare Delivery. Management Science, 2020. 66(11): p. 5171-5181.
- Henry, A.J., Hevelone, N.D., Belkin, M., and Nguyen, L.L., Socioeconomic and hospital-related predictors of amputation for critical limb ischemia. J. Vascular Surgery, 2011. 53(2): p. 330-339.
- Regenbogen, S.E., Gawande, A.A., Lipsitz, S.R., Greenberg, C.C., and Jha, A.K., Do differences in hospital and surgeon quality explain racial disparities in lower-extremity vascular amputations? Ann. Surgery, 2009. 250(3): p. 424-431.
Redaktion / Ines Niehaus
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