Digitalisierung im europäischen Kontext

Ein Sammelband der Techniker Krankenkasse anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Sebastian Hofmann, Redakteur Observer Datenbank, Observer Gesundheit

Manchmal beschleicht einen das mulmige Gefühl, etwas zu verpassen. Rollt das digitale Zeitalter noch auf uns zu oder schon über uns hinweg? Wissen wir genug, um die eigene Betroffenheit nach der Zeitenwende einschätzen zu können? Nehmen wir unsere Themen an, oder lassen wir uns vom allgemeinen Hype und technischem Kauderwelsch abschrecken? Und vor allem: Was betrifft mich in meiner beruflichen Verantwortung überhaupt? Diese persönlichen Fragen werden wir alle erst in ein paar Jahren im Rückblick beantworten können.

Der politische Rahmen der Digitalisierung ist dagegen hinreichend klar: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat es sich zum Ziel gesetzt, das Gesundheitswesen digital auf Vordermann bringen. Eine eigens dafür eingerichtete Hauptabteilung im Gesundheitsministerium muss Ergebnisse liefern. Meist handelt es sich um langfristige Weichenstellungen, weniger um Projekte zur schnellen Profilierung. Deutlich wird dies aktuell in den Eckpunkten für das dritte Digitalisierungsgesetz. Medientauglich sind gerade einmal zwei Legaldefinitionen für neue Leistungen (Digitaler Hausbesuch und Digitale Pflegeanwendungen); alles andere wirkt eher schwer verdaulich. Mit solchen Vorhaben gewinnt man als Minister keinen Blumentopf, oder um mit Spahns Worten zu sprechen: damit hat man mittelfristig eh die Torte im Gesicht. Dass es inzwischen bei der Digitalisierung in Deutschland mit hohem Tempo voran geht, zeigt: Der politische Wille ist da.

 

Überblick verschaffen von der Basis bis nach Brüssel

Wer nun diese politischen Koordinaten zum Anlass nehmen will, sich selbst zur Digitalisierung einen Überblick zu verschaffen, hat seit August 2020 ein neues Angebot: Die Techniker Krankenkasse (TK) schickt ihren bekannt digital-affinen Vorstandsvorsitzenden Jens Baas ins Rennen als Herausgeber für einen Sammelband mit dem Titel „Digitale Gesundheit in Europa“. Unter diesem wahrlich großen Titel finden sich 33 Beiträge von insgesamt 59 Autoren, davon 18 aus der TK selbst. Aus dem breiten Feld der darin beschriebenen Themen seien im Folgenden einige ausgewählte Aspekte diskutiert.

Ein potenzielles Heilmittel für das digital angekratzte Selbstbild der Ärzteschaft hat Dominique Jaeger im Gepäck. Für einen Blick über den Tellerrand unternimmt die Juristin einen Ausflug ins Gesellschaftsrecht und berichtet zu neuen Entwicklungen bei der Künstlichen Intelligenz (KI): „Im Gesellschaftsrecht wird (…) bereits die Pflicht des Vorstand einer Aktiengesellschaft diskutiert, KI obligatorisch bei der Entscheidungsfindung einzusetzen (…) Insbesondere bei Prognoseentscheidungen auf der Grundlage von großen Datenmengen stellt sich deshalb die Frage, ob der Vorstand zum Einsatz von KI verpflichtet ist“ (S. 288). Dieser an sich medizinferne Aspekt wird interessant, wenn man ihn angesichts eines tagesaktuellen Vorgangs aus der Industrie analysiert: Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von AUDI wird in einem Strafverfahren zum Diesel-Betrugsskandals mit einer Haftstrafe bedroht, weil er ab einem bestimmten Zeitpunkt von dem massenhaften Betrug hätte wissen können (aber die Verkäufe nicht sofort gestoppt hat).

Kombiniert man nun die alte Regel, dass man für alles verantwortlich ist, was man hätte wissen können mit der von der Autorin berichteten neuen Debatte, dass der Einsatz von KI für bestimmte Verantwortungsträger zur pflichtgemäßen Arbeitsweise gehört, dann stellt sich eine in der Medizin heiß diskutierte Frage plötzlich ganz anders: Es könnte dann beispielsweise nicht mehr heißen „Wer diagnostiziert den Hautkrebs besser: Dermatologen oder die allseits bekannten KI-Programme zur Analyse bildgebender Diagnostik?“ Vielmehr wird sich die Ärzteschaft – setzt sich die o.g. Rechtsmeinung durch – damit befassen müssen, wie sie KI regelhaft und obligatorisch in die klinische Praxis integriert, um haftungsrechtlich auf der sicheren Seite zu sein. Dieser – noch reichlich hypothetische – Eingriff in ärztliches Handeln mag zwar zunächst als Zumutung erscheinen. Vielleicht ließe sich damit aber auch das ärztliche Selbstbild heilen, das durch den wenig vorteilhaften Vergleich Maschine (KI) – Mensch (Dermatologe) stellenweise arg gelitten haben dürfte. Werden bestimmte Anwendungen mit künstlicher Intelligenz für den ärztlichen Berufsstand zum obligatorischen Werkzeug, könnten auch die Erfolge der Maschine leichter zu ertragen sein. KI würde vom ungeliebten Vergleichsmaßstab zum Routine-Werkzeug. Immer vorausgesetzt: Die von der Autorin berichtete Debatte zum pflichtgemäßen Handeln von Unternehmensvorständen findet auch Anklang bei Protagonisten des ärztlichen Haftungsrechtes.

 

Konkretes zur psychischen Gesundheit

Mit konkreten Anwendungen befassen sich Martin Härter (Uni Hamburg) und Andreas Meusch (TK). Die Autoren erläutern „die Möglichkeiten, die digitale Anwendungen im Bereich psychischer Gesundheit bieten und wie deutsche Initiativen mit internationalen Partnern mit dem Schwerpunkt in der EU besser vernetzt werden können“ (S. 142). Aus den dort genannten Beispielen wird erneut offensichtlich, dass gerade im Bereich der psychischen Gesundheit früh digitale Anwendungen mit therapeutischen Inhalt entstanden sind. Das Spektrum reicht beispielsweise von virtueller Realität für eine Konfrontation mit angstbesetzten Situationen bis hin zur Erfassung von Schlafverhalten mit dem Ziel der Motivationsförderung. Viele Anwendungen bewegen sich gezielt im Bereich der Selbsthilfe, wie z.B. evidenzbasierte Strategien für Online-Selbsthilfe-Sitzungen oder web-assistierte Selbsthilfe-Trainings für Eltern von Kindern mit ADHS. Der Überblick zu den praktischen Anwendungen ist wegen des offensichtlich vielfältigen Angebotes interessant. Zu manchen Beispielen würde man gerne mehr erfahren über Wirkweise, Erfolgsaussichten und therapeutischen Kontext. Der Beitrag macht Lust auf weitere Recherche.

Die Ausführungen zum Datenschutz fallen dagegen knapp aus und münden in der Feststellung, dass Datenschutz und Datensicherheit in diesem Bereich eine „sehr besondere Anforderung darstellen“. Dem mag man unumwunden zustimmen, gilt doch diese Patientenklientel als besonders vulnerabel. Gleichzeitig besteht aber immer auch die Gefahr, dass vorliegende Daten, die den Therapeuten – aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Verfügung stehen, eine Behandlung in die falschen Bahnen lenken kann. Dieses Problem scheint gerade wegen der schon weit entwickelten therapeutischen Inhalte der Anwendungen zur psychischen Gesundheit als besonders interessant. Schließlich spielt hier nicht nur der Therapeut, sondern auch die Anwendung selbst als „digitaler Therapie-Assistent“ eine aktive Rolle – beide brauchen verlässlich die richtigen Daten. Das Spannungsfeld zwischen Datenbedarf und Datenschutz greifen die Autoren aber nicht auf und beschränken sich – ganz der Mainstream – auf einen mahnenden Hinweis zum Datenschutz; das wirkt in diesem Fall etwas unbefriedigend.

Zum Schluss ordnet sich der Beitrag noch ein in die europäische Ausrichtung des Bandes und liefert einen breiten Überblick zur europäischen Vernetzung des Forschungsgebietes. Wem die Welt aus Fachgesellschaften und den Akteuren der internationalen Forschung weniger vertraut ist, fällt doch ein interessantes Event ins Auge: Die Bundespsychotherapeutenkammer hat in 2012 eine Fachkonferenz im Europaparlament organisiert, um der Forderung nach mehr Versorgungsforschung dort Gehör zu verschaffen – nach Darstellung der Autoren mit Erfolg. Die Botschaft: Europa lebt von der Mitwirkung der nationalen Akteure, auch bei der Förderung der psychischen Gesundheit.

 

Brüsseler Standards statt deutscher Selbstverwaltung

Aus entgegengesetztem Blickwinkel beleuchtet Marc Schreiner (BKG) das Verhältnis zwischen Berlin und Brüssel. Schreiner thematisiert das Bestreben ganz unterschiedlicher Akteure, von der europäischen Ebene aus Standards auch für Deutschland zu setzen – mit Folgen für die deutsche Selbstverwaltung. Seine These: „Die fortschreitende Digitalisierung bei der Entwicklung von modernen Medizinprodukten und Dienstleistungen sowie das dabei entstehende Bedürfnis nach der Entwicklung von Standards auf EU-Ebene hat Potenzial, bisherige nationale Entscheidungsstrukturen im Gesundheitswesen nachhaltig zu erschüttern“ (S. 278). Nur unter großer Mühe sei es gelungen, die Normung von medizinischen Leistungen auf EU-Ebene zu verhindern. Die nationale Kompetenz für Standards im Gesundheitswesen scheint damit erfolgreich verteidigt zu sein. Der Autor mag dem Frieden aber nicht trauen und sieht ein Problem in der Klassifikation der digitalen Anwendungen als Medizinprodukt. In diesem Bereich hat die EU weit entwickelte Kompetenzen im Rahmen des Verbraucherschutzes. Auch wenn der Beitrag hier nicht ins Detail geht, wirkt es doch plausibel, dass die europäische Ebene über technische Spezifikationen und Zertifizierungen weiter Einfluss auf alle Arten von Medizinprodukten nehmen kann und wird. Schreiner fragt: „Werden durch Standards dann bereits medizinische Leistungen konfiguriert?“

Dieses wachsame Misstrauen ist für einen Verbandsmanager aus der Krankenhausszene nicht überraschend. Dort hat man bis heute nicht vergessen, dass mit einer EU-Richtlinie zum Arbeitnehmerschutz  um ein Haar jegliche Schichtplanung im Krankenhaus unmöglich geworden wäre (vorgeschlagen war 2003 eine starre Beschränkung auf acht Stunden, was das System der ärztlichen Bereitschaftsdienste im Krankenhaus vollständig ausgehebelt hätte). Das Problem wurde seinerzeit abgeräumt. Die Erkenntnis, dass die EU über Schutzvorschriften tief in das Gesundheitswesen eingreifen kann, ist aber geblieben. Der Autor bricht hier eine Lanze für die deutsche Selbstverwaltung. Dem lässt sich allerdings entgegenhalten: Der deutsche Gesetzgeber setzt bei der Digitalisierung gerade nicht auf die klassischen Selbstverwaltungsorgane (wie z.B. G-BA), sondern hat mit nahezu allen Aufgaben eine oberste Bundesbehörde (BfArM) betraut. Auch wenn die formalen Kompetenzen damit klar verteilt sind, scheinen die faktischen Einflusssphären auf digitale Anwendungen noch reichlich unklar.

 

Die Sicht des TK-Vorstandes

Auch der Vorstand der TK meldet sich mit Namensbeiträgen zu Wort. Vorstandsvize Thomas Ballast – zusammen mit Günter Danner – gibt einen guten Überblick zur Interessenlage einer großen Krankenkasse. Ihr Thema: die elektronische Patientenakte (ePA) und deren Skalierbarkeit. Ihre Hoffnung: eine „ressourcenschonenden Versorgung“ (S. 222), z.B. durch besser verfügbare Informationen zum Gesundheitszustand, durch Telemedizin, Videokonsile und perspektivisch auch durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Aus der Erfahrung mit dem hauseigenen „Aktenprojekt“ TK-Safe sehen sie konkrete Anwendungen zum Austausch von Gesundheitsdaten als zentralen Erfolgsfaktor: „Nur dann wird eine digitale Gesundheitsakte skalierbar“ (S. 226). Breiten Raum widmen die Autoren dem Thema Datenschutz, dem sie zwei Dimensionen beimessen: einerseits die Bedenken der Bevölkerung, die dazu führen, dass „der notwendige Nutzerkreis nur behäbig wächst“. Und andererseits die unzureichenden technischen Voraussetzungen, um die gesetzlichen Vorschriften auch umzusetzen: „Dieser wichtige Punkt darf nicht vergessen werden, denn Verbote allein werden nicht ausreichen, um Vertrauen zu gewinnen“ (S. 227).

TK-Vorstandsvorsitzender Jens Baas – zusammen mit seinem persönlichen Referenten Dennis Chytrek – wählt einen weltweiten Fokus und ordnet die Lage in Europa ein angesichts der internationalen Entwicklung. Der Blick geht zunächst in die USA mit der Frage „Das Silicon Valley – Bald die Apotheke der Welt?“ und schwenkt dann nach China unter der Überschrift „Wird die Digitalisierung aus China kommen?“. Dabei stellen die Autoren auch die grundsätzlichen Treiber der Digitalisierung vergleichend dar: Während Daten als geldwerte Ware große Unternehmen in den USA zu Weltmarktführern gemacht haben dienen sie in China dem Staat als Mittel zur Steuerung und Kontrolle der Bürger. Baas und Chytrek konstatieren, beides sei für Europa keine Option. Die EU müsse einen eigenen Weg finden, insbesondere für Daten im Gesundheitswesen. Mit dieser Analyse folgt der Beitrag der mittlerweile üblichen Argumentation der politischen Ebene; belegt diese aber mit zahlreichen Beispielen aus den beiden Ländern. Wer sich für den wirtschaftlichen und politischen Hintergrund der oft holzschnittartigen Statements zu einem europäischen Weg in der Digitalisierung interessiert, wird hier fündig werden.

 

Gleiches Wording: Spahn und Bucher zum europäischen Datenraum

Einen interessanten Einblick in die Genese politischer Statements gibt – vermutlich unbeabsichtigt – Anne Bucher, Generaldirektorin für Gesundheit in der EU-Kommission. Der Rückblick: Am 12. Juni 2020 gab Jens Spahn im Vorfeld der deutschen EU-Ratspräsidentschaft eine Pressekonferenz, auf der er seine Ziele in dieser neuen Rolle vorstellte. Eines der insgesamt drei Ziele hatte direkten Bezug zur Digitalisierung. Spahn sagte, es brauche einen europäischen Datenraum für Gesundheitsdaten; geplant sei ein „Code of Conduct“ zur Anwendung des Datenschutzes (DSGVO) im Gesundheitswesen. Liest man nun Anne Buchers Überblick zu den Zielen und Aktivitäten der EU-Kommission, findet man dort exakt dasselbe Wording in exakt dem gleichen Kontext (S. 258). Was Spahn mit Verve als seine Mission verkauft hat, stammt also offensichtlich aus Arbeitspapieren der europäischen Arbeitsebene. Das ist keinesfalls ehrenrührig, steht es doch einer präsidialen Funktion wie der EU-Ratspräsidentschaft gut zu Gesicht, die Früchte der Arbeitsebene nach außen zu tragen. Schmunzeln muss man beim Lesen dieses Beitrags trotzdem angesichts der Erkenntnis: Um sein Leib-und-Magen-Thema Digitalisierung voran zu treiben, nutzt der deutsche Gesundheitsminister alle zur Verfügung stehenden Ressourcen – sogar Papiere aus der Europäischen Kommission.

 

Strukturierter Sammelband

Die 33 Beiträge des Bandes verteilen sich auf drei Bereiche: Digitale Technik, digitale Medizin und die Digitalisierung des Gesundheitssystems – jeweils unter der Überschrift: Wie nutzt es dem Patienten in Europa? Neben den Experten der TK sind auch zahlreiche externe Autoren im Angebot, davon einige bekannte Namen wie z.B. Jörg Debatin (hih), Markus Leyck Dieken (gematik) und Karsten Neumann (Roland Berger). Die Blickwinkel der Autoren sind sehr unterschiedlich; das Spektrum reicht von eher konkreten Beispielen bis hin zu sehr theoretischen Ausflügen (u.a. in die „zweite Quantenrevolution“). Es dürfte für jeden etwas dabei sein; die Auswahl erfordert allerdings – wie bei Sammelbänden häufig – etwas Zeit.

 

Jens Baas (Hrsg.): Digitale Gesundheit in Europa, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-95466-531-0


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