19.12.2018
Digitale Zeiten – skalierte Umsätze?
Über den gewinnbringenden Nutzen von digitalen Anwendungen im Gesundheitswesen
Sebastian Hofmann
Sind die märchenhaften Erfolge von Amazon, Google & Co auch im Gesundheitswesen möglich? Anders formuliert: Lassen sich Umsätze im Gesundheitswesen durch digitale Technik skalieren? Bei dieser Frage treffen gleich zwei reichlich unbestimmte Begriffe aufeinander. Zu „Skalierung“ finden sich verschiedene betriebswirtschaftliche Bedeutungen: Von „Wachstum“ über „starkes Wachstum“ bis hin zu „Wachstum, das nahezu ohne eine Erhöhung der Fixkosten möglich ist“.
Letzteres ist technisch durchaus denkbar: Während ein Arzt max. 24 Stunden am Tag erklären kann, lässt sich ein digitaler Erklärfilm zahlenmäßig unbegrenzt verwenden; gibt es Menschen, die bereit sind, dafür zu bezahlen, ist das Geschäftsmodell Erklärfilm (im Gegensatz zur Sprechstunde) sehr gut skalierbar. Von „Skalieren“ kann also gesprochen werden, wenn ein Unternehmen mit erfolgreichem Geschäftsmodell ohne großen Aufwand stark wächst.
Gesundheitswesen gilt als digital träge
Ebenso unbestimmt ist der Begriff „digitale Technik“ oder gar „Digitalisierung“. Die Spanne an Bedeutungen reicht weit, – von der anfänglichen Umwandlung analoger Medien (Bücher) in digitale Speicherformen, bis hin zu der allgegenwärtigen Nutzung des Internets. Es lässt sich aber eine Art „Kernbereich digitaler Funktionen“ definieren, die i.d.R. digitale Daten, das Internet und große Rechenkapazitäten erfordern:
- Aufbereitung und Verarbeitung von (massenhaft vorhandenen) Informationen,
- individuelle Anwendungen unter Nutzung eigener Daten,
- Zusammenführen von Angebot und Nachfrage,
- Kommunikation einschließlich Datentransfer.
Welche dieser Funktionen lässt sich im Gesundheitswesen mit einem erfolgreichen Geschäftsmodell skalieren? Auch wenn das Gesundheitswesen gemeinhin als „digital eher träge“ gilt, wurden im Jahr 2018 doch einige konkrete Anwendungen öffentlich diskutiert und vorgestellt.
Die App „Ada Health“ bietet dem Nutzer einen Vorschlag auf die Frage: „Was könnte ich haben?“ Wer Symptome mit Hilfe einer strukturierten Selbst-Anamnese eingibt, erhält dank Adas künstlicher Intelligenz einen Diagnose-Vorschlag. Geplant ist zusätzlich eine Erweiterung, mit der das Ergebnis der Selbst-Anamnese dem behandelnden Arzt zur Verfügung gestellt wird.
Die „Gesundheitsassistentin Vivy“ setzt dagegen mehr auf die Speicherung und Weiterleitung von Befunden und Berichten via Smartphone. Informationen über Untersuchungen (z.B. Röntgenbild) und Behandlungen (z.B. Entlassbericht) kann der Patient mittels dieser App anderen Ärzten zur Verfügung stellen („Gesundheitsdaten teilen“).
Erfolg der Skalierung mit großen Partnern
Beide Anbieter haben mittlerweile Krankenkassen, Versicherungen und Krankenhausbetreibern als Mitstreiter gewinnen können, die ihren Kunden diese digitalen Leistungen kostenlos zur Verfügung stellen wollen. Der App Vivy ist mit zahlreichen Partnern, darunter der DAK-Gesundheit, der Allianz Versicherung und der Bitmarck-Gruppe ein Quantensprung gelungen. Auch Ada Health dürfte nun mit der Techniker Krankenasse (TK) als Partner im deutschen Markt erfolgreich etabliert sein. Der Werdegang beider Apps zeigt: Eine erfolgreiche Skalierung im Gesundheitswesen ist möglich, wenn große Player als (zahlende) Partner gewonnen werden können. Damit können gleich zwei Hürden genommen werden:
- ein seriöser Partner schafft Vertrauen in Qualität und Seriosität des Angebotes und
- ein zahlender Partner heilt die oft fehlende Zahlungsbereitschaft der Nutzer.
Selbst bei traumhaften Vertriebsbedingungen ist der Erfolg aber nicht garantiert. Stephan Hofmeister, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), goss mehrfach Wasser in den Wein: Die Gesundheitsassistentin Vivy wird von der KBV zwar grundsätzlich begrüßt; Hofmeister weist aber darauf hin, dass das selbstbestimmte Handling der eigenen Daten mit zusätzlichem (bislang unbezahltem) Aufwand in den Arztpraxen verbunden ist; die Anforderung und das Teilen der Daten erfolgt jeweils über eine E-Mail. Auch zu Ada Health hat er mahnende Worte: Eine (Selbst-) Anamnese, für die kein Arzt die Verantwortung übernehme, sei wertlos, weil der behandelnde Arzt schon alleine aus Gründen der Haftung wieder von vorne anfangen müsse. Die Kritik des Ärztevertreters lässt ahnen: Den Praxistest müssen beide Angebote noch bestehen, wobei die Besonderheiten des Gesundheitswesens auch besonders hohe Hürden bedeuten dürften: weitere Skalierung also fraglich.
Umfangreiche Hürden bei Produkten für Profis
Etwas anders gestaltet sich die Lage, wenn sich ein Produkt nicht an Patienten, sondern an Profis wendet, wie dies ein etwas waghalsig anmutendes Geschäftsmodell zur Förderung der Hygiene in Krankenhäusern tut. Die Firma HygNova bietet eine Software, die neben der Messung des Hände-Desinfektionsmittelverbrauches auch Bewegungsprofile der Mitarbeiter (v.a. im Krankenzimmer) auswertet. Dabei wird über eine „Motion Detection-Sensorik“ kontrolliert, ob die Mitarbeiter die zentralen Regeln der WHO (5 Momente für Handhygiene) einhalten. Die Erfassung der Profile ist nach Auskunft der Firma anonym sowie DSGVO – und „betriebsratskonform“. Den Mitarbeitern verspricht das Produkt eine Arbeitserleichterung durch automatische Dokumentation.
Da es nach Erfahrung des Firmengründers, Ehsan Khaljani, sehr aufwändig ist, in Krankenhäusern Entscheider zu erreichen, setzt HygNova auf andere Unternehmen, die im Krankenhausmarkt bereits etabliert sind. Durch Partnerschaften mit Herstellern von Desinfektionsmitteln und Dispensern, mit Distributoren von Praxisbedarf und mit Beratern will die Firma über deren Vertriebswege skalieren. Zusätzlich sind weitere Anwendungen geplant: In Zukunft sollen durch die Erfassung der Bewegungen auch Abläufe optimiert und Patienten überwacht werden (Vitalfunktionen, Stürze). Um mit diesem Produkt wirtschaftlichen Erfolg zu haben, dürfte neben der Nutzung fremder Vertriebswege noch eine weitere Hürde zu überwinden sein: die reflexartige Ablehnung einer „Big Brother“-assoziierten Kontrolltechnologie bei den Betroffenen und der Öffentlichkeit.
AMBOSS: Erfolgreich, aber der Markt ist klein
Alle drei vorgestellten Beispiele setzen zur Skalierung auf bereits etablierte Partner. Ist eine solche Partnerschaft also eine Voraussetzung, um mit digitalen Geschäftsmodellen im Gesundheitswesen erfolgreich zu wachsen? Nein; eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte liefert das Gegenbeispiel: Die Mediziner-App AMBOSS. Eine Gruppe junger Ärzte hat eine App erfunden, mit der Medizinstudenten sich Prüfungswissen anhand alter Prüfungsaufgaben aneignen können. Ein altes Konzept (vielen noch aus der Vorbereitung auf die theoretische Führerscheinprüfung bekannt) wurde hier mit digitaler Technik zu einem perfekten Lehrmittel gemacht.
Amboss war der erste Anbieter für Medizinstudenten in Deutschland, konnte mit dem Label „von Ärzten für Ärzte“ punkten und bietet durch stetige Verbesserung hohe (werbefreie) Qualität. Der Skalierung war ohne etablierten Partner möglich und basierte hauptsächlich auf dem weitgehend ungedeckten Bedarf einer eng vernetzten Zielgruppe („kennst Du das?“). Dem Wachstum sind hier aber andere Grenzen gesetzt; der Markt ist relativ klein: ca. 10.000 junge Leute bereiten sich jährlich auf ein Medizinexamen vor.
Die Anbieter nutzen daher in einem zweiten Schritt den Status als Platzhirsch (95 Prozent Marktanteil bei den Medizinstudenten) und erweitern das Kundenspektrum: Das medizinische Wissen wird nicht mehr nur zur Vorbereitung auf Prüfungsfragen aufbereitet, sondern auch auf den Bedarf von bereits klinisch tätigen Assistenzärzten zugeschnitten angeboten. Die Voraussetzungen für den Vertrieb sind grundsätzlich gut: 95 Prozent der Kunden kennen und schätzen das (Ursprungs-) Produkt bereits. Ob nun auch die Kliniken als deren Arbeitgeber bereit sind, in das Wissen des medizinischen Nachwuchses zu investieren, muss sich allerdings erst noch zeigen.
Genügend Raum für überzeugende Produkte
Die vier Beispiele (Ada Health, Vivy, HygNova und AMBOSS) zeigen, dass Skalierung mit digitalen Produkten im Gesundheitswesen durchaus möglich ist. Digitale Anwendungen lassen sich meist ohne großen Aufwand reproduzieren. Wer Zugang zu Vertriebswegen hat, kann sich diesen Vorteil zunutze machen. Etablierte Partner mit vorhandenen Kommunikationsnetzen und Vertriebskanälen sind zwar nicht zwingend notwendig, dürften in den meisten Fällen aber der Schlüssel zum Erfolg sein. Trotz der Besonderheiten des Gesundheitswesens mit der sakrosankten Arzt-Patienten-Beziehung, der Fülle an Regulierungen und einer weitverbreiteten Vollkasko-Mentalität besteht für überzeugende Produkten offensichtlich genügend Raum – zumindest für die ersten Skalierungsschritte. Den Praxistest hat bislang nur die Mediziner-App AMBOSS erfolgreich absolviert. Die anderen müssen in der Praxis noch überzeugen.
Zurück zur Ausgangsfrage: Sind Erfolge wie die der Internet-Giganten auch im Gesundheitswesen möglich? Wohl eher nicht. Die ersten erfolgreichen Produkte in der Gesundheitsversorgung sind eher kleinteilige Angebote für einen jeweils spezifischen Bedarf. Vollversorger wie Google und Amazon stoßen auf branchenspezifische Grenzen. Patienten reagieren empfindlich, wenn Informationen kommerziell gesteuert werden und gänzlich unbesetzte Märkte gibt es im Gesundheitswesen nicht.
Interessant wird sein, ob das Matching-Konzept von Plattformen wie Airbnb irgendwann auch für Ärzte und Patienten nutzbar gemacht werden kann. Nichts kann das Internet besser, als Angebot und Nachfrage zusammenzubringen. Die berufsständischen Regularien, die dem entgegenstehen, scheinen aus heutiger Sicht in Stein gemeißelt. Helfen würden sicher Testräume, in denen freiere Möglichkeiten bestehen. Das Bundeswirtschaftsministerium hat gerade ein Projekt gestartet, bei dem mit überzeugenden Geschäftsmodellen in sog. „Reallaboren“ von bestehenden Regulierungen abgewichen werden kann – mit der erklärten Absicht, Unternehmen zu guten Umsätzen zu verhelfen. Wie meinte der zuständige Spitzenbeamte im BMWi dazu passend: „wir wollen das ja skalieren“.
Der Beitrag basiert auf verschiedenen Fachveranstaltungen des Jahres 2018, über die in der Observer Datenbank berichtet wurde.
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