Die TK mahnt an

Buchbesprechung: Reformen des Gesundheitssystems auch zur Stabilisierung der Demokratie

Dr. Robert Paquet

Kranken- und Pflegeversicherung stecken in der Finanzierungskrise. Auch die Versorgungsstrukturen sind reformbedürftig. Die Politik scheint davon eigenartig unberührt, wie sich auch im Entwurf des neuen Koalitionsvertrages zeigt. Die zentralen Probleme werden in Kommissionen und Arbeitsgruppen vertagt.

Auch im Übrigen ist das Gesundheitskapitel ziemlich unambitioniert, trotz historisch höchster Beitragssätze und – demnächst drohend – weiterer Erhöhungen. Wie sollen die Krankenkassen ihre Not denn deutlich machen, wie die Politik überhaupt noch erreichen?

Hier entwickelt die TK in ihrem neuen Buch[1] ein neues Argument: Die Sicherung von GKV und SPV stabilisiert die Demokratie. Das Versagen der Gesundheitspolitik gefährdet umgekehrt das Vertrauen der Bürger in die staatliche Daseinsvorsorge. Die Lösung der Probleme des Gesundheitswesens und der Krankenversicherung gehöre zu den Pflichtaufgaben der „demokratischen Mitte“ und sei essentiell zur Prävention einer weiteren politischen Rechtsdrift.

Im ersten Teil des Buches wird die Ausgangsthese dargelegt und weiter ausgefächert. Gelingt es den demokratischen Parteien nicht, die Probleme des Gesundheitssystems zu lösen, werden sie dafür wahrscheinlich von den Wählerinnen und Wählern abgestraft. „Die Populisten stehen schon bereit“ (Wolfgang Schroeder)[2]. Die These des Buchtitels „Gesundheitssystem als Stabilitätsanker der Demokratie“ klingt zunächst ein bisschen hochgegriffen. Aber Schroeder zeigt, dass es gute Argumente für die Plausibilität dieses Zusammenhangs gibt. Zwei Beiträge beschäftigen sich anschließend mit den entsprechenden politischen Reformkonzepten. Drei weitere Aufsätze drehen sich um die globalen Herausforderungen, die auch das Gesundheitswesen berühren: Klimawandel, Diversity und Fachkräftemangel. Im zweiten Teil des Buches werden aus der TK einzelne Lösungsvorschläge („Reformbausteine“) präsentiert.

 

Drängende Gesundheitsreformen …

In seiner Einleitung weist der Herausgeber auf die bekannten Probleme der GKV und des Gesundheitswesens hin und betont die Dringlichkeit ihrer Lösung. Eigentlich war das Buch in diesem Sinne als Aufgabenkatalog für die nächste Bundesregierung gedacht. Das Ende der Ampel hat diesen Zeitplan geändert, die Herausforderungen haben jedoch nichts an Aktualität eingebüßt. Zum Beleg der zentralen These hat die TK den renommierten und als Wahl-Kommentator in den öffentlichen Medien bekannten Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Schroeder gewonnen[3]. Er ordnet das Gesundheitssystem historisch als Teil des Sozialstaats ein, der sich vom Ende des 19. Jahrhunderts an zur „demokratischen Einhegung des Kapitalismus“ entwickelt habe (4). Der Sozialstaat gehöre heute auch nach dem Grundgesetz zu den „Staatsstrukturprinzipien“ (wie Bundesstaat und Rechtsstaat) (5). Dabei spiele das Gesundheitssystem insoweit eine besondere Rolle, als praktisch alle Bürgerinnen und Bürger in Berührung damit kommen und „Gesundheit“ sehr viele andere Politikbereiche berührt („Health in all Policies“).

In Deutschland werde zunehmend zum Problem, dass wir zwar europaweit das teuerste Gesundheitssystem haben, seine Qualität und Effizienz jedoch zu wünschen lässt. Die allgemeine Zufriedenheit mit der Gesundheitsversorgung sei in den vergangenen Jahren gesunken. Als größte Probleme werden genannt: überhaupt einen Arzt zu finden, Wartezeiten und Medikamentenmangel (10). Angesichts steigender durchschnittlicher Lebenserwartung werde festgestellt, dass die Fortschritte der Medizin nicht allen Menschen gleichmäßig zugutekämen und ungleich verteilt seien. Neben der Freiheit sei jedoch auch die Gleichheit „das zentrale Versprechen der Demokratie“. Die „abnehmende Qualität des Gesundheitssystems (könne daher) das Vertrauen in das politische System und seine handelnden Akteure gefährden“ (11). „Die Herausforderung besteht also darin, das Versprechen des deutschen Gesundheitssystems aufrecht zu erhalten, nämlich eine gleichberechtigte Teilhabe aller sozialen Schichten am medizinischen Fortschritt zu ermöglichen und dabei die … Kosten auf einem Niveau zu halten, das mit den erbrachten Leistungen in Einklang steht und die Akzeptanz des Systems in der Bevölkerung erhält“ (12).

Schroeder verkennt nicht die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. So könne z.B. der Fachkräftemangel nur mit Hilfe ausländischen Personals gemildert werden. „Ironischerweise“ seien dabei aber „gerade die Regionen in Deutschland, in denen die AfD am stärksten ist – nämlich die ostdeutschen Länder – auch genau die Regionen, in denen medizinisches Personal aus dem Ausland dringend gebraucht wird.“ Bei der Krankenhausreform halte die Bevölkerung zwar die Spezialisierung und Zusammenlegung von Häusern für sinnvoll, im konkreten Fall gebe es jedoch regelmäßig Widerstand gegen die Schließung kleiner, unwirtschaftlicher und wenig spezialisierter Einrichtungen. Das seien Herausforderungen, „die dazu geeignet sind, die Legitimation der Demokratie zu erschüttern, wenn sie nicht adäquat gelöst werden“ (14).

Die Komplexität der Aufgabe führe tendenziell dazu, dass sich die Parteien um die Probleme drücken: Sie „versuchen das Thema klein zu halten. Zu unpopulär sind meist die notwendigen Reformen, wie oben am Beispiel der Krankenhausreform deutlich wurde.“ Trotzdem müsse man die „Herausforderungen demokratisch angehen“, damit nicht „populistische Akteure aus den ungelösten Problemen Profit schlagen“ (15). So plausibel das auch klingt: Die Lösungsideen sind leider nicht durchschlagend und wirken etwas bemüht: Auch vor tiefgreifenden Reformen nicht zurückschrecken, „auch wenn diese unpopulär sind“ (15). Revitalisierung der Selbstverwaltung und der Sozialwahlen, z.B. durch eine „bessere Integration von Patienten- und Sozialverbänden“ (16). Auch die kommunale Ebene müsse stärker einbezogen werden, wobei „Bürgerräte“ eine positive Rolle spielen könnten (17).

Selbst, wenn Schroeder kein ideales „Fazit“ aufzeigt: Die Dringlichkeit des Pflichtenhefts, auch für die Glaubwürdigkeit sozialstaatlicher Politik, liegt auf der Hand. Die Politik darf sich nicht länger um die Probleme des Gesundheitssystems herumdrücken. Daher sei es besonders wichtig, „die notwendigen Reformen gut zu kommunizieren und möglichst viele Menschen zu beteiligten“ (18).

 

… und weitere Herausforderungen

Schlichter, aber höchst nachvollziehbar, unterstreichen Baas und Mitarbeiter die Ausgangsthese von Schroeder mit zwei Beispielen: Der damalige US-Präsidentschaftskandidat (Trump) habe 2016 seinen Wahlkampf zu einem guten Teil mit Problemen der unvollendeten Gesundheitsreform bestritten („Obamacare“). Beim Brexit habe die populistische These eine wichtige Rolle gespielt, die EU-Beiträge des Vereinigten Königreichs würden dem maroden National Health Service vorenthalten. Hierzulande führe die Reform-Verweigerung der vergangenen Wahlperioden nun zu einer Situation, in der die „Kostensteigerung voll auf die Versicherten durchschlägt“ (22). Beklagt wird u.a., dass der Staat „gesamtgesellschaftliche Aufgaben“ auf die Beitragszahler der GKV abwälzt. Es sei „grundsätzlich keine gute Idee“, …“wenn Gesundheitsausgaben mit anderen Posten im Staatshaushalt konkurrieren.“ Die strukturelle Vernachlässigung der Krankenhausinvestitionen durch die Länder bestätige dies (23).

Was sind nun die Empfehlungen der TK, um (wieder) zu einem „verlässlichen Gesundheitssystem als Grundlage für eine stabile Demokratie“ zu kommen? Die regelhafte Entwicklung „optimierter Behandlungspfade“ für die Versorgung (24). Die stärkere Nutzung des „Wettbewerbs für mehr Effizienz im Gesundheitswesen“ (25). Die konsequente Digitalisierung des Gesundheitssystems zur besseren Integration der Versorgung (28). Und natürlich die sachgerechte Befreiung der GKV von gesamtgesellschaftlichen Finanzierungslasten (28f). Das Fazit: Wettbewerbliche Handlungsspielräume der Krankenkassen stärken. Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung erweitern.

Wenn das Politik-Team der TK (um Dirk Engelmann) die „Trendlinien der Gesundheitspolitik“ betrachtet, gibt es erst einmal einen Rückblick auf die vergangene „vertrackte“ Legislaturperiode: Wenige „vorzeigbare“ Reformen (z.B. zur Digitalisierung), aber viele ungelöste Probleme. Zu den eher positiven Reformen zählen die Autoren auch die Krankenhausreform. Mit einer gewissen Ironie schreiben sie: „Einer der großen Verdienste von Karl Lauterbach, nicht erst seit er Minister ist, bleibt es, die Kommunikation von Gesundheitspolitik auf ein ganz eigenes Level gehoben zu haben und dieses komplexe politische Thema populär zu machen, um den narrativen Boden für seine Reformagenda zu schaffen“ (39). Gemeint ist vor allem das wunderbare Schlagwort der „Entökonomisierung“. Wobei die Autoren natürlich erkennen, dass es dem Minister nur darum geht, die ökonomischen Anreize „auf links“ zu drehen und den „Wettbewerbsgedanken als eine Steuerungsidee im Gesundheitssystem“ abzuschaffen. Empfohlen wird die Rückbesinnung auf die „Kraft von Selbstverwaltung und Wettbewerb“ (40) sowie die Umsetzung der diversen „Strukturreformen“ (Notfallversorgung und Rettungsdienst etc.) (47).

Eine der ganz großen gesellschaftlichen Herausforderungen der Menschheit (wenn nicht die größte) ist der Klimawandel. Das beschäftigt auch die TK (Thomas Ballast und Mitarbeiter). Das Thema sei „hoch emotional“ (68) und führe bei vielen jungen Erwachsenen zu „seelischer Belastung“ (54). Das Gesundheitswesen müsse nicht nur die Folgen des Klimawandels bewältigen (Hitzewellen, Veränderung des Krankheitsspektrums), sondern sei mit einem Anteil von ca. sechs Prozent des deutschen CO2-Ausstosses auch selbst ein relevanter Faktor (52). Mehr für die Nachhaltigkeit zu tun, sei insoweit ein wichtiger Beitrag zum sozialen Frieden. Das habe die TK z.B. in einer von ihr initiierten Befragung bestätigt gefunden (54). Sie habe auch zusammen mit dem Deutschen Krankenhausinstitut an Vorschlägen zu mehr Nachhaltigkeit im Klinikbereich mitgearbeitet (56). Wegen der doppelten Betroffenheit in Sachen Klimaproblematik sei das „Gesundheitswesen … prädestiniert dazu, eine Vorreiterrolle einzunehmen und für andere Wirtschaftsbereiche ein Vorbild zu sein“ (68).

In einem Beitrag der Diversity- und Kommunikations-Verantwortlichen der TK geht es um die Frage: „Warum Vielfalt (nicht nur) für eine Krankenkasse wichtig ist“. Hier gibt es Einblicke in das Diversity-Management der TK, das bereits eine lange Vorgeschichte habe (z.B. mit betriebsinternen Befragungen). Zentraler Motor dafür sei die Überzeugung, dass Diversity- Management „als Treiber für Fairness und Demokratie“ wirke (80). Im letzten Beitrag des ersten Buchteils referiert Prof. Jonas Schreyögg die Problemanalyse und die Lösungsvorschläge des Sachverständigenrates Gesundheit zum Thema Fachkräftemangel (Jahresgutachten 2024).

 

Einzelne Reformbausteine

Im zweiten Teil des Buches beschreiben Mitarbeiter der TK „Reformbausteine für ein stabiles Gesundheitssystem“. Aus dem Geschäftsbereich „Unternehmensentwicklung“ gibt es ein Plädoyer für mehr Wettbewerb, und zwar sowohl im Vertragsmarkt der Krankenkassen als auch im Versicherungsmarkt, d.h. im Verhältnis von GKV und PKV (Brackert und Giewer). Im Vertragsmarkt „brauchen die Kassen mehr Handlungsmöglichkeiten, um die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu erhöhen“ (102). Mehr Selektivverträge seien die Methode der Wahl. Zutreffend wird angemerkt, dass dafür die Aufsichtsstandards in Bund und Ländern vereinheitlicht werden müssten (106). Im Versicherungsmarkt seien die gesetzlichen Krankenkassen gegenüber der PKV benachteiligt: „Nicht einmal im Wettbewerb um die freiwillig in der GKV-Versicherten hat die GKV eine faire Chance“ (108). Zum Beispiel müssten die Kostenerstattungstarife in der GKV ausgebaut und mit mehr Freiheitsgraden versehen werden.

Brackert und Pendzialek beschäftigen sich mit den Chancen der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Sie beklagen, dass es in Deutschland viel zu oft bei „Elektronisierung (engl. digitization)“ bleibe. Gemeint sei damit die „Übertragung analoger Sachverhalte in elektronische Formate. Bezogen auf das Gesundheitssystem umfasse das beispielsweise das Scannen von Papierdokumenten in PDF-Dateien oder die Umwandlung von Papierdokumenten einer Arztpraxis in eine digitale Dokumentation (116). Die Digitalisierung erfordere jedoch einen „ganzheitlichen Ansatz“, der mit der Überprüfung und Umgestaltung der Prozesse einhergehen und neue Inhalte ins Auge fassen müsse. Die „Elektronisierung“ für sich bringe nur einen geringen Mehrwert (117).

Verbunden wird diese Feststellung mit einer ernsten Warnung: Wenn man der „digitalen Transformation“ auszuweichen versuche, laufe man Gefahr, dass z.B. PKV-Unternehmen die GKV überholen und den Patientinnen und Patienten etwa durch die Auswertung individueller Daten bessere Präventions- und Therapieangebote vermitteln könnten. Patienten könnten auch „Plattformen zur Online-Fernbehandlung“ aus anderen Ländern nutzen, deren rechtliche Rahmenbedingungen weniger restriktiv sind. Auch im „Präventions- und Lifestyle-Bereich“ entstehe „ein dynamischer Markt“ zur Nutzung von Gesundheitsdaten. „Die Anbieter setzen häufig auf teure Abomodelle oder finanzieren sich durch die Monetarisierung von Gesundheitsdaten.“ Alle diese Ansätze hätten gemeinsam, „dass sie das solidarische Gesundheitswesen teilweise untergraben“ (122f). Die Digitalisierung – so das Fazit – spiele daher eine „entscheidende Rolle in der Stärkung unserer Demokratie. Als befähigte und informierte Patientinnen und Patienten können Bürgerinnen und Bürger aktiv an Entscheidungen über ihre Gesundheit teilnehmen, was sich positiv auf ihre gesellschaftliche Teilhabe auswirkt.“ Diese Einschätzung ist zwar etwas überspannt, aber durchaus bedenkenswert.

Die Finanzfachleute der TK (Thierhoff und Bertele) tragen bei – das muss eben sein bei einer Krankenkasse –, dass Finanzstabilität als Grundlage unverzichtbar ist. Auf der Ausgabenseite sprechen sie sich für mehr Wettbewerbsbeziehungen, Ausschreibungen, Steuerung und Rechnungsprüfungen durch die Kassen aus (130f). Auf der Einnahmeseite sind sie für die „Dynamisierung des Steuerzuschusses für versicherungsfremde Leistungen“, kostendeckende Beitragssätze für Bürgergeldbezieher und die Erhöhung der Obergrenze für die Kassen-Rücklagen.

Andreas Meusch – Beauftragter der TK-Vorstands für strategische Fragen des Gesundheitssystems – will einen „Neustart für Gesundheitsförderung und Prävention“ (134). Deutschland schöpfe sein „Potenzial zur Bekämpfung vermeidbarer Todesursachen nicht aus“ (137). Erforderlich sei, die „Gesundheitsförderung in den Lebenswelten (zu) stärken“ (137) und die „individuelle Prävention“ durch gezieltere Maßnahmen (durch kluge Datennutzung) zu verbessern. Für die staatliche Daseinsvorsorge gelte: „Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Dafür brauchen wir ein Gesamtkonzept“ (Health in all Policies) (140).

Die Vertragsabteilung (Cardinal und Syring) versucht eine Neubestimmung der Rolle der Krankenkassen: „Die Transformation der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von einer reinen Kostenträgerfunktion hin zu einem aktiven Gesundheitspartner bietet weitreichende Chancen für das gesamte Gesundheitssystem.“ Ob der etwas schwammige Begriff der „Gesundheitspartner“ hier wirklich weiterbringt, ist fraglich. Doch anyway: Die erweiterten Möglichkeiten der Datennutzung, der Telemedizin und digitalen Gesundheitsanwendungen spielen eine zentrale Rolle. Sie ermöglichen es den Versicherten, „aktiver und informierter in Entscheidungen über ihre Gesundheit einbezogen zu werden, was zu einer Stärkung der Eigenverantwortung und einem positiven Gesundheitsbewusstsein führt“ (153f.).

Außerdem werden Reformen in der Arzneimittelversorgung (“innovative Wege aus der Preisspirale“) gefordert. Diskutiert wird auch die „Dauerbaustelle sektorenübergreifende Versorgung“ mit den Unterthemen „ambulantes Operieren“, Hybrid-DRGs, ambulante spezialfachärztliche Versorgung etc. Nicht zuletzt geht es um die Reform der Notfallversorgung und des Rettungsdienstes („Großbaustelle“).

Die Krankenhausreform der Ampel-Koalition sei erst ein Anfang. Die TK-Fachleute für die stationäre Versorgung sehen weiteren „Handlungsbedarf in Kliniken – Nach der Reform ist vor der Reform“ (195). Beklagt werden die fehlende Planung und die mangelnden Investitionen der Bundesländer (196). Die Einführung der Leistungsgruppen (mit grundlegenden Qualitätskriterien) wird begrüßt; durch die komplette Herausnahme der Psychiatrie von der Planung könnten jedoch weder „die Krankenhäuser noch die Bundesländer oder Kostenträger auf dieser Basis die Auswirkungen der Neuregelungen simulieren“ (200). Die Einführung der sog. sektorenübergreifenden Versorgungseinrichtungen wird ambivalent gesehen: „Es bleibt zu hoffen, dass die Möglichkeit der Etablierung solcher Einrichtungen nicht durch deren zusätzliche Ansiedelung in ohnehin überversorgten urbanen Räumen diskreditiert wird“ (201). Die Bildung der Vorhaltebudgets für die leistungsunabhängigen Vorhaltekosten dürfte nach Meinung der Autoren beim gegenwärtigen Stand der Regulierung „in der Praxis schwer bzw. gar nicht umsetzbar sein“ (203). Ein Beitrag zum Reformbedarf in der Pflegeversicherung, der weitgehend die bekannten Argumente der GKV referiert, und ein Kapitel zur Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker („erheblicher Wandel), runden den Band ab.

 

Einschätzung

Um den fundamentalen Reformbedarf deutlich zu machen, hat die TK ein neues Narrativ entwickelt bzw. herangezogen. Die zunehmende Unzufriedenheit mit unserem Gesundheitssystem spiele rechten Populisten in die Hände. Insoweit seien Gesundheitsreformen besonders dringlich und ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der Demokratie. Für diesen „Verstärker“ der Kassen-Forderungen werden einige bedenkenswerte Argumente präsentiert.

Im Verhältnis zu den früheren Publikationen der Buchreihe fällt auf, dass bis auf zwei Ausnahmen (die Professoren Schroeder und Schreyögg) nur TK-Mitarbeiter als Autoren beteiligt waren. Vor allem im zweiten Teil („Reformbausteine“) wird von ihnen das breite Spektrum der Finanzierungs- und Versorgungsthemen im Gesundheitswesen ausgeleuchtet. Dabei zeigt die TK, dass sie nicht nur die im GKV-System bekannten Argumente zu den Themen „drauf hat“, sondern an vielen Stellen auch kreativ weiterdenkt.

Gemeinsam ist allen Beiträgen die Begeisterung für die Digitalisierung und die damit eröffneten neuen Handlungshorizonte. Ebenfalls charakteristisch ist: Während andere Stimmen aus dem Kassenlager schon weitgehend resigniert haben, sehen die TK-Autoren in wettbewerblichen Konzepten und einem erweiterten Spielraum der Selbstverwaltung immer noch (bzw. wieder) einen Hebel zur Verbesserung unseres Systems. Zu Ampelzeiten hatte dieser Ansatz keine Chance. Mit der neuen Regierung und einer neuen Besetzung des Gesundheitsministeriums könnten sich dafür jedoch wieder neue Möglichkeiten eröffnen. Insoweit kommt das Buch zur rechten Zeit.

 

[1]  Jens Baas (Hrsg.): „Unser Gesundheitssystem – Stabilitätsanker für die Demokratie“, 249 Seiten, ISBN: 978-3-95466-948-6, erschienen am 16. April 2025, MWV-Verlag Berlin.

[2] Seite 18.

[3] So auch schon für die Pressekonferenz der TK am 19. März 2025 mit der Präsentation einer FORSA-Befragung „So sieht Deutschland sein Gesundheitssystem“. Siehe auch den Report im OBSERVER MIS zu dieser Veranstaltung.

 

Jens Baas (Hrsg.): „Unser Gesundheitssystem – Stabilitätsanker für die Demokratie“, 249 Seiten, ISBN: 978-3-95466-948-6, erschienen am 16. April 2025, MWV-Verlag Berlin.


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