Die richtige Psychotherapie für den richtigen Patienten

Thomas Ballast, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse (TK)

Die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland ist gut. Nach den Hausärzten sind die Psychotherapeuten die zweitgrößte in den Kassenärztlichen Vereinigungen organisierte Gruppe hierzulande. Und auch die in anderen Leistungsbereichen kritisierte Zwei-Klassen-Medizin gibt es – wenn überhaupt – nur zugunsten der gesetzlich Versicherten. Die Therapien werden von PKV und GKV gleichermaßen vergütet, aber nicht alle Privatversicherten haben die Psychotherapie in ihrer Versicherung abgedeckt.

Im vergangenen Jahr ist mit der neuen Psychotherapierichtlinie die größte Reform der psychotherapeutischen Versorgung seit mehr 20 Jahren in Kraft getreten. Einiges hat sich seitdem verändert. Aber unbestritten ist: Es bleibt noch viel zu tun, um die psychotherapeutische Versorgung flächendeckend gut zu organisieren.

 

Diskussion von Einzelthemen versperrt den Blick auf Entwicklungsoptionen

Wartezeiten, Kostenerstattung, Terminservicestelle und gestufte Versorgung sind nur einige der Begriffe, die die aktuelle Diskussion um die Weiterentwicklung der Psychotherapie prägen. Dabei lässt sich keines der Themen isoliert betrachten, das Drehen einzelner Stellschrauben reicht nicht, um die Versorgungsstrukturen weiter zu verbessern.

 

Angebot und Bedarf zusammenbringen

Je nach Quelle werden 2.000 bis 3.000 fehlende Kassenzulassungen als Ursache für gefühlte Versorgungsdefizite genannt. Dabei wissen wir gar nicht, wie groß der Therapiebedarf im Sinne einer Krankheit mit Behandlungsnotwendigkeit derzeit tatsächlich ist. Immerhin ist die Zahl der Einzelpraxen Psychologischer Psychotherapeuten in den vergangenen zehn Jahren um fast 60 Prozent gestiegen. Unklar ist aber in der Regel, wie viele Therapien die Therapeuten tatsächlich anbieten. Unterschiedliche Auslastungen der Praxen sind ein Grund, weshalb über Kapazitäts-Engpässe und Wartezeiten geklagt wird. Ein schlichtes „viel hilft viel“ in Form von immer mehr Therapeuten reicht hier nicht aus.

Vor einiger Zeit hat sich die Bundestagsabgeordnete Maria Klein-Schmeink an dieser Stelle für eine Reform der Bedarfsplanung ausgesprochen. Dem kann man sich nur anschließen. Wenn wir wissen, wie viele Therapeuten wo welche Stundenkontingente anbieten, finden wir Ansatzpunkte, um eine flächendeckende Versorgung mit angemessenen Wartezeiten weiter voranzubringen. Bisher gibt es aber nur wenig Transparenz über die tatsächlichen Versorgungskapazitäten. Einige Kassenärztliche Vereinigungen sind hier sehr vorbildlich und an einem gemeinsamen konstruktiven Dialog mit den Kassen interessiert. Leider gilt das nicht für alle Regionen.

 

Wartezeiten differenziert sehen

Die in diesem Zusammenhang oft gehörte Aussage, Wartezeiten seien zu lang, ist in dieser Form zu pauschal. Wenn man drei Wochen auf eine Akutbehandlung warten muss, ist das für akut schwer erkrankte Patienten zu lang, für andere psychische Beschwerden aber akzeptabel. Oder wie es die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Grünen am 22. Januar 2019 formuliert: „Welche Wartezeit auf eine psychotherapeutische Behandlung angemessen ist, hängt von der konkreten gesundheitlichen Situation der Patientin oder des Patienten und der sich daraus ergebenden Dringlichkeit des individuellen Behandlungsbedarfs ab“ (BT-Drs. 19/6914).

 

Richtiger Patient zum richtigen Therapeuten

Aber auch die falsche Therapiewahl hat Auswirkungen auf das gesamte System, wenn zum Beispiel leichte Störungen in psychoanalytischen Therapien mit hohen Stundenkontingenten versorgt werden. Für die Patienten hat dies zur Folge, dass sie entweder aufgrund der langen Wartezeiten ohne medizinische Unterstützung bleiben oder – und das betrifft vor allem psychische Störungen, die mit Medikamenteneinsatz verbunden sind – stattdessen in den stationären Bereich überwiesen werden.

Ohnehin ist heute die psychotherapeutische Versorgung angebotsindiziert: Welche Therapieform beim Patienten zum Einsatz kommt, hängt in erster Linie davon ab, welche Therapeuten er vor Ort erreicht und welche Therapierichtung diese vertreten. Während in Berlin jeder dritte Patient mit einer Psychoanalyse therapiert wird, ist es in Westfalen-Lippe nur einer von 20. Dafür werden dort 60 Prozent verhaltenstherapeutisch behandelt. Auch wenn die Berufsverbände immer wieder argumentieren, dass grundsätzlich jede Therapieform zur Behandlung nahezu aller psychischen Störungen geeignet sei, sollte diese Therapie nach Wohnort kritisch hinterfragt werden – zumal die Patienten je nach Therapieansatz teils ein Vielfaches an Therapiedauer auf sich nehmen müssen.

 

Patienten brauchen Terminservice

Ein weiterer Vorwurf: Die neue psychotherapeutische Sprechstunde beanspruche Kapazitäten, die bei den Therapiestunden fehlen. Im Gegenteil: Klären wir die Beschwerden eines Patienten frühzeitig ab, beansprucht er vielleicht nicht unnötig einen Therapieplatz, erhält aber die für ihn richtige Versorgung. So erhalten auch diejenigen schnell Hilfe, die etwas anderes als eine ambulante Psychotherapie brauchen. Die Vermittlung freier Sprechstunden hilft deshalb den Patienten. Wir stellen allerdings aus bundesweiter Perspektive fest, dass die Vermittlungsqualität der regionalen Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen sehr unterschiedlich ist. Eine einzige Anlaufstelle bei der Arzt-/Therapeutensuche – und eine solche können die Terminservicestellen bieten – ist insbesondere für psychisch kranke Menschen eine unglaubliche Hilfe.

Zudem stellt sich die Frage, warum die Gruppentherapie noch immer kaum genutzt wird, obwohl sie für die Therapeuten einfacher und wirtschaftlicher geworden ist. Liegt es an der Scheu der Patienten oder an Hindernissen in der Praxis? Daher begrüßen wir, dass sich die BARGRU-Studie in diesem Jahr mit den dazugehörigen Fragestellungen befassen wird. Es ist wohl deutlich geworden, dass das eine nicht diskutiert werden kann, ohne das andere zu betrachten. Deshalb ist es wichtig, dass alle Beteiligten im Dialog bleiben und gemeinsam für eine bessere Struktur und intelligente Koordination sorgen.

 

Ausbildungsreform muss Versorgungsqualität gewährleisten

Nun soll auch die Psychotherapeutenausbildung reformiert werden. Dabei gibt es gute und zu kritisierende Ansätze. Positiv ist, dass die mit dem Bologna-Prozess eingeleitete Hochschulreform auch bei der Psychotherapeuten-Ausbildung ankommt und sich die angehenden Psychotherapeuten diesen neuen Anforderungen stellen.

 

G-BA stärken und Versorgungsqualität sichern

Ablehnen muss man die im Referentenentwurf vorgesehene Schwächung des G-BA. Der G-BA sorgt dafür, dass die Patienten (nur) die Leistungen bekommen, deren Nutzen belegt ist. Aus guten Gründen ist der Ausschuss paritätisch besetzt, denn keine Berufsgruppe im Gesundheitswesen sollte allein über ihr Angebot im Leistungskatalog der GKV entscheiden. Wenn demnächst der Wissenschaftliche Beirat der Psychotherapeuten die Therapieverfahren allein bestimmt, findet ein Systembruch statt, der nicht nur Auswirkungen auf die Psychotherapie haben kann. Denn: Nicht alles, was aus Sicht der Wissenschaft sinnvoll erscheint, ist auch für die Behandlung von Patienten notwendig. Das gilt in der Psychotherapie, aber gerade auch in allen anderen Leistungsbereichen, bei denen aus gutem Grund die Definitionshoheit über den GKV-Leistungskatalog eben nicht der Industrie oder den Anhängern einzelner medizinischer Verfahren übertragen wurde, sondern dem G-BA; dabei muss es auch in der Psychotherapie bleiben.

 

Keine Verordnung von Psychopharmaka ohne Qualifikation

Durch die Einführung eines Modellstudiengangs Psychopharmakologie soll der Weg dafür bereitet werden, dass Psychotherapeuten Psychopharmaka verordnen dürfen. Das erstaunt zum einen, da sich der Psychotherapeutentag in Bremen im April 2018 noch deutlich gegen einen solchen Studiengang ausgesprochen hat. Es fällt darüber hinaus auch tatsächlich schwer, sich vorzustellen, wie ohne vollständige Kenntnis über multiple Krankheitsgeschehen und Wechselwirkungen von Medikamenten bei den Verordnern die Patientensicherheit noch gewährleistet werden kann. Da in dem Modellstudiengang für den Bereich der Psychopharmakologie auf andere Teil des psychotherapeutischen Curriculums verzichtet werden soll, stellt sich die Frage, welche Ausbildungsbestandteile den Absolventen am Ende fehlen. Ausbildungsdefizite müssen aber verhindert werden, und für die Versicherten muss transparent sein, welchen fachlichen Hintergrund ihre Therapeuten haben.

 

Versorgungsqualität vor Ort sichern

Die Therapie ist ein besonders geschützter Raum, bei der das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut eine wichtige Rolle einnimmt. Eine Qualitätssicherung ist hier besonders schwierig, aber dringend notwendig. Deshalb hat die TK vor einigen Jahren ein Modellvorhaben zum Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie durchgeführt. Daraus wird in jüngster Zeit häufig, aber nicht immer richtig, zitiert.

Fakt ist: In dem Projekt haben wir uns seinerzeit auf Langzeittherapien fokussiert, die mit Gutachterverfahren einhergingen. Es handelte sich also um schwerwiegende Erkrankungen. Neun von zehn Patientinnen und Patienten waren von mittelschweren oder schweren psychischen Erkrankungen betroffen. Genau deshalb lassen sich die Ergebnisse nicht auf alle Patienten in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung übertragen.

 

Debatte versachlichen, patientenorientierte Lösungen finden

Wir müssen offen darüber sprechen, wie wir für alle Patienten – und gerade für die Schwerkranken – die richtige Unterstützung finden. Und dazu gehört, dass wir die Fakten kennen, richtig benennen und darauf funktionierende Strukturen aufbauen. Vor diesem Hintergrund sind Überlegungen einer gesteuerten oder gestuften Versorgung durchaus nachvollziehbar. Hierbei geht es nicht um die Diskriminierung psychisch Kranker, sondern um die möglichst frühzeitige und objektive Feststellung des individuellen Behandlungsbedarfs. Darauf basiert dann die angemessen schnelle Einleitung einer Therapie oder die Empfehlung alternativer Maßnahmen, damit das jeweilige Patientenproblem entsprechend versorgt wird.

 

Lesen Sie auch den Kommentar von Maria Klein-Schmeink MdB (Bündnis 90/ Die Grünen) zum Thema im Observer Gesundheit .


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