Die politischen Rahmenbedingungen stehen, jetzt geht es an die Ausgestaltung

Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg

Niemals zuvor standen der Menschheit so viele Informationen zur Verfügung wie heute. Und niemals zuvor konnten sie so schnell miteinander ausgetauscht werden. Das Potenzial der zunehmenden Digitalisierung muss besonders im Gesundheitssektor genutzt werden, um die Gesundheitsversorgung der Menschen im Land weiter zu verbessern. Unter anderem mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG), dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) und dem Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (GKV-FKG) wurden für die Akteure des Gesundheitswesens klare Rahmenbedingungen geschaffen – der Blick muss jetzt nach vorne gerichtet werden. Weitere Herausforderungen wie der demografische Wandel oder der voranschreitende Klimawandel stehen vor der Tür. Es gilt nun, passende Lösungen zu finden und den Wandel aktiv mitzugestalten.

 Insbesondere das GKV-FKG hielt die Kassenlandschaft viele Monate lang in Atem. Mit der Streichung des ursprünglich geplanten und von der Ärzteschaft und innovativen Krankenkassen wie der AOK Baden-Württemberg vehement abgelehnten Verbots der Vergütung von diagnosebezogenen Leistungen haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages erfreulicherweise erkannt, welch eminent wichtige Bedeutung eine koordinierte und strukturierte Versorgung hat. Die qualitativ hochwertige gesundheitliche Versorgung der Versicherten durch Haus- und Facharztverträge bleibt weiterhin möglich und wird insbesondere von der AOK Baden-Württemberg und ihren Vertragspartnern mit dem Ziel einer innovativen, vernetzten und strukturierten Versorgung zum Wohle der Versicherten auch weiter ausgebaut werden. Begrüßenswert im Zusammenhang mit dem GKV-FKG sind auch die verschärften Vorgaben zur Meldung von Arzneimittel-Engpässen und die Einrichtung diesbezüglicher Kompetenzen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Das ist ein erster, wichtiger und dringend notwendiger Schritt zur Herstellung von Transparenz über das Liefergeschehen. Bislang kann allein die Mechanik der Rabattverträge durch sanktionsbewehrte Planungssicherheit zur Verhinderung von Lieferengpässen beitragen. Künftige Lösungsansätze müssen insbesondere die globalen Abhängigkeiten in der Arzneimittelversorgung beachten, was eine gemeinsame europäische Strategie, auch in Hinblick auf die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands, sinnvoll erscheinen lässt.

Mit dem Bündel an neuen Gesetzen wurden nun also zentrale Rahmenbedingungen durch die Politik geschaffen – sei es bei den Rahmenbedingungen für den Wettbewerb der Krankenkassen, der ambulanten Versorgung oder der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Angesichts von 20 Gesetzen bzw. Gesetzesentwürfen in den letzten 20 Monaten ist es jedoch besonders wichtig, dass jetzt eine Phase der Konsolidierung beginnt. Die Rahmenbedingungen sollten nun zumindest über eine gewisse Zeit weitgehend stabil bleiben. Zu oft kam es in der Vergangenheit zu schnellen gesetzlichen Änderungen. Eine stabile institutionelle Umwelt ist für eine planvolle und auf Qualität ausgerichtete Versorgung aber von großer Bedeutung.

 

KI, Pflege und Klima als zentrale Zukunftsthemen 

In Hinblick auf die zukünftige Agenda wird ein Hauptaugenmerk darauf liegen, die digitale Vernetzung im Gesundheitswesen weiter voranzutreiben. Die jüngsten Gesetze aus dem Hause des Bundesgesundheitsministers legen hierfür die notwendige Grundlage. Wichtige Vorarbeiten haben bei der AOK Baden-Württemberg bereits begonnen: So sind beispielsweise seit dem vergangenen Jahr schrittweise 7.500 Ärztinnen und Ärzte im Haus- und Facharztprogramm der AOK Baden-Württemberg und ihrer Ärztepartner digital untereinander vernetzt worden und können jetzt im Bedarfsfall die relevanten Daten sicher und in Echtzeit austauschen. Hiervon werden die eingeschriebenen Versicherten – derzeit insgesamt 1,7 Millionen Menschen – nachhaltig profitieren. In diese Richtung gilt es mit Hochdruck weiterzuarbeiten, um die Qualität der Gesundheitsversorgung für die Versicherten weiter anzuheben. Eine besondere Rolle wird in diesem Zusammenhang auch die Künstliche Intelligenz (KI) einnehmen. Bei der AOK Baden-Württemberg laufen bereits erste Tests, Service und Gesundheitsversorgung mit Hilfe von KI zu verbessern. Und in den nächsten Monaten werden zahlreiche Projekte gestartet, auf deren Grundlage die AOK Baden-Württemberg vorangehen will. Die Digitalisierung ist dabei jedoch stets nicht als Selbstzweck zu sehen – der Fokus wird auch weiterhin auf der Verbesserung einer qualitativ hochwertigen Versorgung für die Versicherten liegen, zum Beispiel durch die weitere Verzahnung von Prävention, Rehabilitation und Pflege.

Besonders das Megathema Pflege und die Frage nach der zukünftigen Finanzierung der Pflegeversicherung werden 2020 ganz oben auf der politischen Agenda stehen. Es bedarf innovativer und sektorenübergreifender Lösungen, um der zunehmenden Pflegebedürftigkeit von Versicherten, bedingt durch den demografischen Wandel, in den kommenden Jahren entgegenzuwirken. Mit einem Modellprojekt für Rehabilitative Kurzzeitpflege (REKUP) zielt die AOK Baden-Württemberg unter anderem darauf ab, Rehabilitation und Pflege enger zu vernetzen und die Versorgungslücke zwischen Krankenhaus- und Rehabilitationsaufenthalt in ausgewählten Regionen zu schließen. Pro Jahr sollen so zukünftig bis zu 5.000 Menschen vor Pflegebedürftigkeit oder einer Verschlechterung des Gesundheitszustands bewahrt werden, indem sie nach einem Klinikaufenthalt während der Kurzzeitpflege fit für den Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik gemacht werden. Bislang landet rund ein Drittel der pflegebedürftigen Versicherten nach einem Krankenhausaufenthalt direkt in der Langzeitpflege, weil sie nicht fit genug für eine Reha sind.

Im Zusammenhang mit der alternden Gesellschaft wird sich die AOK Baden-Württemberg aber auch stärker einem weiteren Thema widmen: dem Umgang mit den gesundheitlichen Folgen des Klimawandels. Aktuellen Studien zufolge soll es in Süddeutschland bis zum Ende des Jahrhunderts bis zu 30 zusätzliche Hitzewellen geben, sollten keine adäquaten Gegenmaßnahmen getroffen werden. Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hitzestress und auch übertragbare Krankheiten würden so sprunghaft ansteigen und besonders für Ältere das Krankheitsrisiko erhöhen. In dem 2019 veröffentlichten Policy Brief für Deutschland des Report of the Lancet Countdown on Health and Climate Change wird hierzu Folgendes ausgeführt:

„Höhere Temperaturen gehen weltweit mit einer erhöhten akuten Sterblichkeit einher; auch für Deutschland ist dieser Zusammenhang eindeutig belegt. In Deutschland hat die Anzahl der Belastungsereignisse durch Hitzewellen in den letzten Jahren im Vergleich zu den Jahren 1986-2005 zugenommen. Die größte Zahl registrierter Belastungsereignisse durch Hitzewellen wurde 2018 verzeichnet, mit 12,8 Millionen mehr Ereignissen als im Vergleichszeitraum.“

Auch hier wird die AOK Baden-Württemberg versuchen, ihren Teil zur Bewältigung dieser Herausforderungen beizutragen. Entsprechenden Angeboten insbesondere in den Feldern Aufklärung und Prävention kommt hierbei eine zentrale Rolle zu.


Observer Gesundheit Copyright
Alle Kommentare ansehen