06.05.2024
Die Pandemie im Spiegel des Infektionsschutzgesetzes
Pandemie-Aufarbeitung und Novellierungsbedarf beim IfSG
Dr. Robert Paquet
Angesichts der – vor allem am Gegenstand der RKI-Protokolle – neu aufgeflammten Diskussion über die „Pandemie-Aufarbeitung“ muss man in der Rückschau sorgfältig unterscheiden. Was waren die tatsächlichen Entwicklungen, was war Gesetzgebung, was war auf dieser Basis Regierungshandeln auf den verschiedenen Ebenen Bund, Länder und Kommunen? Wenn es nicht in erster Linie um politische Schuldzuweisungen und Rechthaberei geht, müsste sich die Aufarbeitung auf die Gesetzgebung und das Regierungshandeln konzentrieren.[1] Ob dabei eine Enquête-Kommission oder ein Bürgerrat zielführend wären, soll zunächst noch offen bleiben. Dabei ist einzuräumen, dass es für die Regierung – vor allem in der Anfangszeit – schwierig war, bei den Maßnahmen das richtige Augenmaß zu finden.
Für die Zukunft kommt es jedenfalls darauf an, die gesetzlichen Grundlagen für künftige (und wahrscheinliche) Pandemie-Gefährdungen fit zu machen. (Nachdem man in Deutschland immerhin rund zwei Jahrzehnte lang die globale Gefahrenzunahme schlichtweg ignoriert hat.) Daher ist es sinnvoll, beim Infektionsschutzgesetz (IfSG) anzusetzen und sich klarzumachen, wie gesetzgeberisch mit den zentralen Problemen des Pandemiemanagements umgegangen wurde. Das wird zum Teil auch von Politikern der Regierungsfraktionen gefordert.[2]
Ansatzpunkt und Methode
Im IfSG liefen und laufen die kontroversen Linien zusammen. Das Gesetz selbst ist die Bündelung der Corona-Regelungen, natürlich im Zusammenhang mit den daran hängenden Verordnungen (die in diesem Text nicht näher betrachtet werden können). Dass hier der richtige Ansatzpunkt ist, zeigt sich auch daran, dass das IfSG seit Beginn der Pandemie in Deutschland mit 24 Gesetzen geändert, weiterentwickelt und z.T. grundlegend umgestaltet worden ist.[3] Das Gesetz war – auch mit der bahnbrechenden Konstruktion der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ – der legislatorische Schauplatz der gesamten Pandemie-Debatten.
Dabei ist politisch von zentraler Bedeutung, wieweit der Staat – im Interesse des Gemeinwohls – in die privaten Verhältnisse und das öffentliche Leben eingreifen darf. Diese Eingriffe sind (und waren in der Pandemie) die zentralen Aufreger. Viele der im IfSG vorgesehenen Maßnahmen führen nämlich zu Grundrechtseinschränkungen (einschließlich deren Sonderform, den Impfpflichten). Das ist der Grund dafür, dass die Regelungen im Gesetz explizit gemacht werden müssen (eine Verordnung reicht dafür nicht aus). Nicht zuletzt aus diesem Grund sind die Regelungen des IfSG auch so detailliert und lang.
Wie gehet diese Analyse vor? Grundlage ist ein Vergleich des IfSG von vor der Pandemie (konkret von Anfang 2019) mit dem Stand von heute. Verfolgt wird, welche Regelungen durch die Pandemie ausgelöst wurden. Zu unterscheiden ist dabei, wieweit sie allgemeiner Natur sind und wieweit sie sich explizit auf die Corona-Pandemie beziehen. Die Frage für eine kritische Revision des IfSG ist daher, ob und wieweit sich die Corona-spezifischen Regelungen verallgemeinern lassen bzw. wieweit sie krankheitsspezifisch bleiben müssen. Natürlich geht es auch um die generelle Frage, ob das Gesetz ausreicht, um künftige Pandemien zu bewältigen bzw. zu ihrer Abwehr bzw. zur Vorbereitung darauf beizutragen. Ein „Präludium“ der Corona-Debatte war das Masernschutzgesetz, das hier zur Einstimmung in die Betrachtung einbezogen werden soll.
Rückblick und Masern-Impfpflicht
Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) hat 2001 das Bundesseuchengesetz abgelöst. Seitdem hat es (vor der Pandemie) immer wieder kleinere Änderungen gegeben, die z.B. der Anpassung an die Entwicklung des Datenschutzes dienten. So geht es etwa bei Meldepflichten um den Schutz sensibler personenbezogener Gesundheitsdaten. Ein anderer Strang der Änderungen betrifft Sachverhalte, die sich nur enumerativ (und nicht allgemein-abstrakt) regeln lassen: Daher müssen mit dem wissenschaftlichen Fortschritt die unvermeidlichen Krankheits- bzw. Indikationslisten im Gesetz regelmäßig angepasst werden. Das betrifft z.B. die Listen der „meldepflichtigen Krankheiten“ nach § 6, der „meldepflichtigen Nachweise von Krankheitserregern“ nach § 7 oder die „Mitwirkungspflichten“ Infizierter nach § 34.
Trotz der zwischenzeitlichen Ausbrüche von Geflügelpest („Vogelgrippe“), Schweinpest und der MERS-Epidemie[4] kam es nicht zu größeren Veränderungen im IfSG. Der einzige wesentliche Eingriff erfolgte unmittelbar vor der Corona-Pandemie mit dem sog. Masernschutzgesetz.[5] Es war damals hoch umstritten – und insofern ein Vorbote der späteren Corona-Diskussion. Es führte nämlich – erstmals seit der Pockenschutzimpfung – eine allgemeine Impfpflicht für bestimmte, jedoch größere Personengruppen ein. Insbesondere § 20 („Schutzimpfungen und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe“) wurde um mehrere Absätze erweitert. Von der Masern-Impfpflicht betroffen sind danach Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen (Kindertagesstätten, Schulen, Heimen etc.) betreut werden und Personen, die in solchen Einrichtungen tätig sind. Außerdem gilt sie für alle Personen, die in Einrichtungen der Gesundheitsversorgung (Kliniken, Arztpraxen, Rehakliniken etc.) oder in Obdachlosenunterkünften, Asylbewerberheimen, Justizvollzugsanstalten etc. arbeiten (Abs. 8).
Der heikle Punkt dabei wird – wie für die Gesetzgebung vorgeschrieben – in Absatz 14 formuliert: „Durch die Absätze 6 bis 12 wird das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes) eingeschränkt.“
Corona-Gesetzgebung
A. Epidemische Lage von nationaler Tragweite
Das IfSG wurde zum zentralen Instrumentenkasten, mit dem die gesundheitliche Seite der Pandemie bewältigt worden ist. Auch die drei Gesetze „zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ des Jahres 2020 und das Folgegesetz „zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen“ vom 29. März 2021 bezogen sich vor allem auf das IfSG. Dort wurde auch der neue und bis dahin in der deutschen Gesetzgebung unbekannte Ereignis-Typus eingeführt, der den genannten Gesetzen den Namen gab (§ 5 IfSG): Mit dem ersten Bevölkerungsschutzgesetz (vom 27.03.2020) wurde die Feststellung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durch den Bundestag ermöglicht. Damit waren viele weitere Regelungen mit z.T. erheblicher Eingriffstiefe verknüpft.
Damit verbunden sind insbesondere sehr weitreichende Verordnungsermächtigungen (ohne Zustimmung des Bundesrates) für das Bundesministerium für Gesundheit (BMG). So wird es z.B. ermächtigt (§ 5), durch Rechtsverordnung „Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln einschließlich Impfstoffen und Betäubungsmitteln, mit Medizinprodukten, Labordiagnostik, Hilfsmitteln, Gegenständen der persönlichen Schutzausrüstung und Produkten zur Desinfektion“ etc. zu treffen. Dabei sollen weitreichende Ausnahmen von den Vorschriften des Arzneimittelgesetzes, des Betäubungsmittelgesetzes, „des Apothekengesetzes, des Fünften Buches Sozialgesetzbuch, des Transfusionsgesetzes, des Heilmittelwerbegesetzes“ etc. möglich sein (Abs. 2 Nr.4.). Des Weiteren können durch Rechtsverordnung „Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung in ambulanten Praxen, Apotheken, Krankenhäusern, Laboren, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen und in sonstigen Gesundheitseinrichtungen“ (Nr. 7) sowie zur „Aufrechterhaltung der pflegerischen Versorgung in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen“ (Nr. 8) vorgesehen werden. Außerdem sollen dabei „abweichende Regelungen von den Berufsgesetzen“ der zahlreichen Gesundheitsfachberufe möglich sein (Nr. 10). Schließlich wurde das BMG in § 5a ermächtigt, mit einer Verordnung allen Pflegefachberufen zu gestatten, „heilkundliche Tätigkeiten“ auszuüben.
Mit dem „Zweiten Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze“ vom 28. Mai 2021 kam der neue § 5b hinzu, in dem die staatliche Vorhaltung von Schutzmasken geregelt wird. Das „Zweite Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes“ vom 8. Dezember 2022 brachte den neuen § 5c, der das „Verfahren bei aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten“ regelt. Diese Regelung hat als Vorgeschichte eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht und ist bis heute strittig. Hier findet sich auch der verhängnisvolle Satz „Bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten sind von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen“, der eine Ex-Post-Triage verbietet[6].
Durch das zweite und dritte „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 19. Mai 2020 und 18. November 2020 sowie das „Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19“ vom 16. September 2022 wurden die §§ 13 und 14 deutlich ausgeweitet. Dabei geht es um die Ermächtigung des BMG (mit Verordnung ohne Zustimmung des Bundesrats), bestimmte Melde- und Einsendepflichten für Untersuchungsmaterial sowie Meldepflichten der Ärzte über Impfungen und zur Kapazitätsauslastung der Krankenhäuser zu verordnen. Eine Konsequenz aus den in den ersten Monaten der Pandemie sichtbar gewordenen Mängeln der Informationsbasis für das Pandemiemanagement. In § 14 wurde das entsprechende „Elektronische Melde- und Informationssystem“ zum Robert-Koch-Institut (RKI) digitalisiert. In Absatz 8 wird dabei ausnahmenweise auf COVID-19 Bezug genommen. Im neuen § 14a (eingeführt durch das „Krankenhauspflegeentlastungsgesetz (KHPflEG)“ vom 20. Dezember 2022) wurde das BMG (jetzt mit Zustimmung des Bundesrats) ermächtigt, durch Rechtsverordnung die Interoperabilität zwischen den informationstechnischen Systemen (vor allem der Landesbehörden (Öffentlicher Gesundheitsdienst) und des RKI) zu fördern und an den Standard der gematik anzupassen.
B. Verhütung übertragbarer Krankheiten
Im 4. Abschnitt des Gesetzes geht es um die „Verhütung übertragbarer Krankheiten“. In den §§ 16ff. werden allgemeine und besondere Maßnahmen beschrieben, die entweder von einer zuständigen Behörde angeordnet (§ 16) oder im Rahmen einer Verordnung der Landesregierungen (§ 17) ergriffen werden können. Wichtig ist dabei wieder der Hinweis in § 17 Abs. 7: „Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz), der Freizügigkeit (Artikel 11 Abs. 1 Grundgesetz), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 Grundgesetz) werden … eingeschränkt“.
Bei § 20 „Schutzimpfungen und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe“ ist eine Besonderheit hervorzuheben. Als die ersten Impfstoffe gegen COVID-19 schon greifbar, aber nicht in unbegrenzter Menge verfügbar waren, musste eine Priorisierungsregel geschaffen werden. So wurde mit dem „Gesetz zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen“ vom 29. März 2021 der Absatz 2a eingefügt, der sich direkt auf die COVID-19 Impfstoffe bezieht (im Übrigen wird in § 20 nicht explizit auf Corona Bezug genommen). Für die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission zu den „Schutzimpfungen gegen das Coronavirus SARS-CoV-2“ wurden erstmals Impfziele definiert:
- „Reduktion schwerer oder tödlicher Krankheitsverläufe,
- Unterbindung einer Transmission des Coronavirus SARS-CoV-2,
- Schutz von Personen mit besonders hohem Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf,
- Schutz von Personen mit besonders hohem behinderungs-, tätigkeits- oder aufenthaltsbedingtem Infektionsrisiko,
- Aufrechterhaltung zentraler staatlicher Funktionen, von Kritischen Infrastrukturen, von zentralen Bereichen der Daseinsvorsorge und des öffentlichen Lebens.“
Gesellschaftspolitisch bedeutsam ist hier die Einführung des Begriffs der „kritischen Infrastrukturen“. Die Pandemie hat allgemein bewusst gemacht, dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Funktionsbereiche für das Überleben der Gesellschaft unterschiedlich wichtig sind. Das Funktionieren einiger ist fundamental; andere können (zeitweise) stillgestellt bzw. deutlich eingeschränkt werden.
Die genannten Ziele gelten auch für die entsprechende Regelung des § 20i SGB V, nach der der G-BA die Impfungen bestimmt, die die GKV finanzieren muss. Ungewöhnlich und unsystematisch ist dabei, dass für eine bestimmte Krankheit Impfziele definiert werden. Grund dafür ist, dass die Priorisierung grundrechtsrelevant ist (in Bezug auf den allgemeinen Gleichheitssatz) und daher eine Grundlage im Gesetz erfordert. Dazu stellt sich – zu Recht – die Frage: Warum gibt es diese Impfziele nur in Bezug auf SARS-CoV-2 und nicht auch für künftig mögliche, ähnlich schwerwiegende Krankheitsbedrohungen? Der Sachverständigenausschuss nach § 5 Abs. 9 IfSG hat sich daher in seinem Bericht dafür eingesetzt, diese und andere SARS-CoV-2-Spezialregelungen im IfSG zu verallgemeinern.[7]
Nach Absatz 4 ist jeder Arzt – unabhängig von den Grenzen der Ausübung seiner fachärztlichen Tätigkeit – zur Durchführung von Schutzimpfungen berechtigt. Diese Regelung kam zwar schon mit dem Masernschutzgesetz. Zur Steigerung der Impfquote sollte im Vorfeld des dritten Pandemie-Winters der Zugang noch weiter (und niedrigschwellig) gefördert werden. Daher wurde mit § 20c eingeführt, dass auch Apotheker Corona-Impfungen durchführen dürfen („Pflegebonusgesetz“ vom 28. Juni 2022). Auch hier könnte die Frage gestellt werden, ob diese Sonderregelung für Corona nicht verallgemeinert bzw. auf andere Impfungen ausgeweitet werden sollte. Um Kapazitätsgewinnung ging es auch bei der Ausweitung der Test-Berechtigung auf zahn- und tierärztliche Labore. Sie wurde mit § 24 eingeführt („Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 18. November 2020).
Weil die Impf-, Genesenen- und Testnachweise eine zunehmende Bedeutung erlangten (und auch deren Manipulation), wurde § 22 (früher „Impfausweis“, jetzt „Impf-, Genesenen- und Testdokumentation“) in mehreren Gesetzen deutlich ausgeweitet und ergänzt. Komplett Corona-spezifisch wurde § 22a („Impf-, Genesenen und Testnachweis bei COVID-19; COVID-19-Zertifikate; Verordnungsermächtigung“) eingeführt („Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und anderer Vorschriften“ vom 18. März 2022). Er definiert umfangreich den „vollständigen Impfschutz“, die entsprechenden Test- und Impfnachweise sowie den Umgang mit „nicht richtig bescheinigten“ Zertifikaten (Abs. 8).
C. Bekämpfung übertragbarer Krankheiten
Im Zuge der Pandemie gab es im 5. Abschnitt des Gesetzes („Bekämpfung übertragbarer Krankheiten“) zunächst nur eine kleine, wenn auch tiefgreifende Änderung. § 28 („Schutzmaßnahmen“) sah schon bis dahin mögliche Maßnahmen der Beobachtung (§ 29), Quarantäne (§ 30, jetzt „Absonderung“), berufliche Tätigkeitsverbote (§ 31) sowie Veranstaltungsverbote und auch die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, Kindertagesstätten etc. (§ 33) vor. Mit dem ersten Bevölkerungsschutzgesetz vom 27. März 2020 wurde Satz 1 nun ergänzt: Danach kann die zuständige Behörde „insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten“. Damit werden nicht nur die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Versammlungsfreiheit und der Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt (Art. 2, 8 und 13 GG), sondern zusätzlich auch das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 GG). Mit dieser Verschärfung bot § 28 die ausreichende Grundlage für die (viel kritisierten) Schulschließungen und alle anderen drastischen Maßnahmen des ersten Lock-down.
Die folgenden §§ 28a bis 28c sind – schon in ihrer Überschrift – Corona-spezifisch und wurden erst relativ spät eingefügt. § 28a („Besondere Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) bei epidemischer Lage von nationaler Tragweite“) kam mit dem dritten Bevölkerungsschutzgesetz vom 18. November 2020. Die Maßnahmenliste von § 28 wurde darin erweitert und präzisiert u.a. im Hinblick auf die Anordnung eines Abstandsgebots im öffentlichen Raum (Nr.1), die Maskenpflicht (Nr.2), Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im öffentlichen Raum (Nr.4), die Untersagung oder Beschränkung von Freizeit- und ähnlichen Veranstaltungen sowie des Betriebs von Einrichtungen, die der Kultur und Freizeitgestaltung zuzurechnen sind (Nr. 6 und 7). Außerdem ermöglichte sie die Untersagung oder Beschränkung des Betriebs von gastronomischen Einrichtungen (Nr.14) und die Schließung oder Beschränkung von Betrieben, Gewerben sowie des Einzel- oder Großhandels (Nr.15).
Schließlich wurden die Behörden ermächtigt, die Verarbeitung der Kontaktdaten von Kunden, Gästen oder Veranstaltungsteilnehmern anzuordnen, um mögliche Infektionsketten nachverfolgen und unterbrechen zu können (Nr.18). In Absatz 5 wurde bestimmt, dass Rechtsverordnungen der Länder (§ 32), die auf der Grundlage der §§ 28 und 28a erlassen werden, „mit einer allgemeinen Begründung“ zu versehen und zeitlich zu befristen sind (zunächst auf vier Wochen, mit Verlängerungsmöglichkeit). Damit wurde auf die Kritik an den mangelhaften und unspezifischen Begründungen der Verordnungen im ersten Lock-down reagiert.
Mit dem absehbaren Erfolg der Impfungen und der ersten Beendigung der „epidemischen Lage …“ Ende März 2021 gab es das „Gesetz zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen“ (vom 29. März 2021). Nach ihm galt die Feststellung der „epidemischen Lage …“ nicht mehr unbefristet, sondern als aufgehoben, wenn der Bundestag nicht spätestens drei Monate nach der letzten Feststellung ihr Fortbestehen erneut feststellt. (Die zuletzt mit Beschluss vom 25. August 2021 erneut festgestellte „epidemische Lage“ galt danach am 25. November 2021 als aufgehoben, da der Bundestag keine Verlängerung beschlossen hat.)
Nach dem ersten Ende der „epidemischen Lage…“ im März 2021 wurden mit dem vierten Bevölkerungsschutzgesetz vom 22. April 2021 die §§ 28b und 28c eingeführt. § 28b (unter dem Titel „Bundesweit einheitliche Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) bei besonderem Infektionsgeschehen, Verordnungsermächtigung“) ermöglichte zunächst vor allem die Fortgeltung von Kontakt- und Aufenthaltsbeschränkungen sowie der Maskenpflicht, die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen, das Verbot touristischer Beherbergungen und andere Regelungen des § 28. Bedingung dafür war, dass die Infektionszahlen in einem Landkreis bzw. einer kreisfreien Stadt einen kritischen Schwellenwert überschritten. Danach gab es in verschiedenen Gesetzen Änderungen der Vorschrift (Ergänzungen, weitere Präzisierungen und Ausnahmeregelungen etc.).
Seine heutige Gestalt und Überschrift („Besondere Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) unabhängig von einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite bei saisonal hoher Dynamik“) bekam § 28b erst mit dem „Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19“ vom 16. September 2022. Dabei wurden Schwerpunkt und Zielsetzung verändert: Für den Winter 2022/23 sollten Maßnahmen zur „Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) und zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems oder der sonstigen Kritischen Infrastrukturen“ gelten. Der Geltungszeitraum war von vornherein befristet (vom 1. Oktober 2022 bis zum 7. April 2023).
Dabei ging es insbesondere um detaillierte Maskenpflichten in Verkehrsmitteln und allen Einrichtungen des Gesundheitswesens (Krankenhäuser, Praxen etc.), bei Freizeit-, Kultur- und Sportveranstaltungen, in Schulen und anderen Ausbildungseinrichtungen sowie im Groß- und Einzelhandel und in Betrieben, auch um Abstandsgebote im öffentlichen Raum, auch bei Veranstaltungen im Außenbereich etc. Man glaubt es kaum mehr: Die letzte Verpflichtung aus dieser Vorschrift (Maskenpflicht in Gesundheitseinrichtungen) ist erst vor etwa einem Jahr (am 7. April 2023) ausgelaufen. Diese Vorschrift wurde zum Kampfplatz für die kleinteilige Auseinandersetzung um die Praxis der Schutzmaßnahmen. Jedenfalls bei § 28b müsste überlegt werden, ob die Regelung – weil zeitlich überholt – ganz gestrichen werden soll oder ob bestimmte Inhalte (für welche Fälle?) erhalten werden sollten.
- 28c („Verordnungsermächtigung für besondere Regelungen für Geimpfte, Getestete und vergleichbare Personen“) war dagegen – trotz kleinerer Änderungen im Zeitverlauf – von Anfang an darauf angelegt, bestimmte Personen zu begünstigen. Durch Verordnung der Bundesregierung sollten für sie Ausnahmen oder Erleichterungen von den restriktiven Maßnahmen der §§ 28 bis 31 ermöglicht werden. Eigentümlich ist dabei die Konstruktion, dass entsprechende Rechtsverordnungen der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat bedürfen.
D. Weitere Regelungen
Inhaltlich völlig neu gefasst wurde § 35 („Infektionsschutz in Einrichtungen und Unternehmen der Pflege und Eingliederungshilfe, Verordnungsermächtigung“) durch das „Gesetz zur Stärkung des Schutzes der Bevölkerung und insbesondere vulnerabler Personengruppen vor COVID-19“ vom 16. September 2022. Er war eine (späte) Reaktion auf die besondere Betroffenheit von Pflegebedürftigen durch die Pandemie (vor allem in den Heimen). Für stationäre Einrichtungen und ambulante Pflegedienste werden darin spezifische Vorbeugemaßnahmen und Hygieneanforderungen vorgeschrieben. Die Landesregierungen haben das Nähere dazu durch Rechtsverordnungen zu regeln.
In § 36 („Infektionsschutz bei bestimmten Einrichtungen, Unternehmen und Personen; Verordnungsermächtigung“) finden sich vermischte Regelungen zum Infektionsschutz in Einrichtungen und für bestimmte Personengruppen. Zum Teil gibt es inhaltliche Überschneidungen zu § 35. Zum anderen wurden mit dem „Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 18. November 2020 (Corona-unspezifisch formuliert) detaillierte Regelungen zur Einreise nach Deutschland und zum grenzüberschreitenden Verkehr eingeführt (Abs. 8ff.). Sie sollen bei einer „epidemischen Lage …“ verhindern, dass sich die Lage durch die unkontrollierte Einreise von Risikoträgern (für die entsprechende Krankheit) verschlimmert. Zu fragen ist, ob und wieweit sich die vielen Regeln dieser Vorschrift bewährt haben und ob ihr Detailierungsgrad zielführend ist.
Aufgrund der Pandemie wurden auch die Entschädigungsregeln in § 56 ergänzt. Schon im ersten Bevölkerungsschutzgesetz vom 27. März 2020 wurde in Abs. 1a (neu) eine Unterstützung von Eltern eingeführt: „Werden Einrichtungen zur Betreuung von Kindern oder Schulen von der zuständigen Behörde zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen oder übertragbaren Krankheiten auf Grund dieses Gesetzes vorübergehend geschlossen oder deren Betreten untersagt und müssen erwerbstätige Sorgeberechtigte von Kindern, die das zwölfte Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder behindert und auf Hilfe angewiesen sind, in diesem Zeitraum die Kinder selbst betreuen, weil sie keine anderweitige zumutbare Betreuungsmöglichkeit sicherstellen können, und erleiden sie dadurch einen Verdienstausfall, erhalten sie eine Entschädigung in Geld.“ Mit dem „Gesetz zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen“ vom 29. März 2021 wurde dieser Entschädigungsanspruch dann auf die Dauer der „epidemischen Lage …“ begrenzt.
Zum 1. Januar 2024 wurden die §§ 60ff. des IfSG zur Entschädigung von Impfschäden aufgehoben (Artikel 46 – Gesetz zur Regelung des Sozialen Entschädigungsrechts (SozERG)). Die Erstattung erfolgt nunmehr über das Soziale Entschädigungsrecht im SGB XIV. Der wesentliche Inhalt von § 60 Abs. 1 IfSG (alt) wurde in den neuen § 24 SGB XIV übernommen. Schließlich wurden wegen der zunehmenden Bedeutung von Test- und Impfzertifikaten mit § 75a zusätzliche Strafvorschriften in das Gesetz eingefügt („Zweites Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze“ vom 28. Mai 2021). Sie richten sich gegen die Täuschung mit entsprechenden Dokumenten und deren Fälschung im Rechtsverkehr.
Eine fast vergessene Episode
Schon fast vergessen ist das – von Ende 2021 durch das ganze Jahr 2022 – zeitweilig größte Ärgernis: die Debatte um die Corona-Impfpflicht und deren Reichweite. Vorbild war die Masern-Impfpflicht.
Mit Artikel 1 des „Gesetzes zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie (ImpfPrG)“ vom 10.12.2021 – eines der ersten Gesundheitsgesetze der neuen Ampelkoalition – wurde mit dem neuen § 20a („Immunitätsnachweis gegen COVID-19“) eine Impfpflicht für die Beschäftigten im Gesundheitswesen eingeführt. Sie sollte ab dem 15. März 2022 gelten. Voraussetzung für die Beschäftigung in Krankenhäusern, Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen, Tageskliniken, Arztpraxen und Zahnarztpraxen etc. sollte ein Impfnachweis sein. Die Impfpflicht sollte auch für alle Personen gelten, die in voll- oder teilstationären Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung älterer, behinderter oder pflegebedürftiger Menschen oder in vergleichbaren Einrichtungen tätig waren. Sie sollte auch für alle Beschäftigten in ambulanten Pflegediensten etc. gelten. Ausnahmen sollte es nur bei einer medizinischen Kontraindikation gegen die Impfung geben. Motiviert war die Regelung durch die relativ hohe Sterberate durch COVID-19 in Pflegeeinrichtungen und dem Ziel, vor allem vulnerable Gruppen besser zu schützen.
Diese Vorschrift löste breite Empörung aus. Vor allem die Krankenhäuser fürchteten – zurecht – Personalausfälle und Abwanderung der ohnehin knappen Mitarbeiter. Eingebettet war die Regelung in die vom neuen Gesundheitsminister angestoßene Debatte über eine allgemeine Impfpflicht gegen COVID-19. Karl Lauterbach erklärte noch in der Bundestagsdebatte über den Gesundheitsetat für 2022 (am 24. März 2022)[8]: „Der einzige zuverlässige Weg aus der Pandemie heraus ist die allgemeine Impfpflicht.“
Gegen dieses Vorhaben war der Widerstand noch größer. Entsprechende Gesetzentwürfe sind denn auch am 7. April 2022 in 2./3. Lesung im Deutschen Bundestag durchgefallen. Die Parlamentarier haben in namentlicher Abstimmung alle Vorlagen (BT-Drucksachen 20/899, 20/954, 20/680, 20/978, 20/516) abgelehnt. Den Abstimmungen lag eine Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses zugrunde (BT-Drs. 20/1353), in der die beiden Gesetzentwürfe (20/899) und (20/954) zusammengeführt wurden, die zum 15. Oktober 2022 eine Impfpflicht ab 60 Jahren vorsahen. 296 Abgeordnete des Bundestages stimmten in namentlicher Abstimmung für den zusammengeführten Gesetzentwurf, 378 Parlamentarier stimmten dagegen.[9]
Die „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ war sozusagen die kleinere und gerade noch politisch durchsetzbare Variante gegenüber der umfassenden Impfpflicht für die gesamte Bevölkerung bzw. alle über 60-Jährigen etc. Wie umstritten aber auch die sogenannte „einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht“ war, zeigt das „Nachspiel“ beim Bundesverfassungsgericht.
Mit Beschluss vom 27. April 2022 (1 BvR 2649/21) hat der Erste Senat eine Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, die sich gegen die einschlägigen §§ 20a, 22a und 73 Abs. 1a Nr. 7e bis 7h des IfSG richtete: „Die angegriffenen Vorschriften verletzen die Beschwerdeführenden nicht in ihren Rechten insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG. Soweit die Regelungen in die genannten Grundrechte eingreifen, sind diese Eingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt.“ Der Gesetzgeber habe im Rahmen des ihm zustehenden Einschätzungsspielraums einen angemessenen Ausgleich zwischen dem mit der Nachweispflicht verfolgten Schutz vulnerabler Menschen vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 und den Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden. Trotz der hohen Eingriffsintensität müssten die grundrechtlich geschützten Interessen der im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen Beschwerdeführenden letztlich zurücktreten[10].
Nach den weiteren Erfahrungen mit den Impfstoffen und ihrer insgesamt guten Wirksamkeit sowie mit der Wahrnehmung, dass die Aggressivität des Virus bzw. seiner Varianten allmählich abnimmt, kam es schon zum Jahresende 2022 zur Beendigung der betreffenden Regelung. Mit Artikel 2 des „Gesetzes zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie“ (ImpfPrG) vom 10. Dezember 2021 wurden die §§ 20a und 20b aufgehoben und § 73 geändert. Die einrichtungsbezogene Impflicht zu COVID-19 endete am 31.12.2021.
Zusammenfassung und Bewertung
Die Änderungen des IfSG spiegeln den Verlauf der Pandemie mit ihrem Auf und Ab. Sie changieren zwischen allgemeinen Regelungen („epidemische Lage …“ etc.) und solchen, von denen man glaubte, sie müssten Corona-spezifisch formuliert werden (insbesondere zur Impflicht und §§ 28a ff.). Dabei gab die Pandemie auch den Anstoß zu (längst fälligen) Weiterentwicklungen des IfSG (z.B. zur Informationsbereitstellung). Nach heutigem Stand überwiegen die allgemein-formulierten Änderungen des Gesetzes. Die Stellen, an denen COVID-19 explizit angesprochen wird, sind überschaubar. Diese Regelungen (insbesondere §§ 28ff.) müssten überprüft werden. Sie sollten möglichst gestrafft und ggf. allgemeiner gefasst werden. Hier wäre ein juristisch-fachlicher Durchgang erforderlich (mit gesetzestechnischen Bereinigungen).
Von politisch größerer Bedeutung wäre die Frage, ob die Verantwortung für die Anwendung der Regeln angemessen verteilt ist, einerseits zwischen Bund und Ländern, andererseits zwischen Parlament und Exekutive. Während der Pandemie gab es ja immer wieder heftige Diskussionen über die (fehlende) demokratische Legitimation bestimmter Maßnahmen. Wie gezeigt, wurden dazu im IfSG nach und nach Konsequenzen gezogen. Etwa durch weitere „Parlamentarisierungen“ (z.B. durch Einbeziehung des Bundesrates) und die Dezentralisierung bestimmter Verordnungsermächtigungen an die Länder. Hier wäre konkret zu fragen, ob man die (immer noch) zahlreichen und wesentlichen Verordnungsermächtigungen für das BMG ohne Zustimmung des Bundesrates für angemessen hält, oder ob die Länder noch stärker einzubeziehen sind. Eine Sonderform der Einbeziehung des Parlaments ist die Zustimmungspflicht des Bundestages zu BMG-Verordnungen (z.B. § 28c). Eine bislang unübliche Form demokratischer Kontrolle und Absicherung.
Die Probleme (der Pandemie-Aufarbeitung) liegen weniger im Gesetz, sondern überwiegend in dessen Umsetzung durch die Exekutive. Das Gesetz stellt im Grundsatz die sinnvollen und heute denkbaren Möglichkeiten zum Management einer Pandemie bereit. Dabei hatten wir bei Corona sogar das Glück (im Unglück), dass es sehr früh spezifische Testverfahren gab und überraschend schnell Impfstoffe zur Verfügung standen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass man bei einer neuen Pandemie darauf länger warten muss.
Für die Pandemie-Aufarbeitung erscheint das IfSG somit nicht als der zentrale Ort. Die Fehler wurden in der Anwendung des Gesetzes durch die Bundesregierung und die Länder gemacht. Sie betrafen z.B. das Ausmaß und die zeitliche Erstreckung der angeordneten Maßnahmen. Einerseits gibt es die Einschätzungsprärogative der Regierungen, die sich ja durchaus auf Expertenwissen stützte. Andererseits ist man hinterher immer schlauer. Die überwiegende Meinung ist (gerade im Vergleich mit Schweden): Man hätte durchaus etwas risikofreudiger sein können. Darüber wird ohnehin bei den Fachleuten, aber auch in den Parteien weiter nachgedacht; dabei geht es letztlich um politische Einschätzungen und Bewertungen.
Ein wesentlicher Schritt zur „Aufarbeitung“ wurde auch bereits getan. Mit dem „Gesetz zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen“ vom 29.03.2021 wurde in § 5 der neue Abs. 9 mit einer Evaluationsverpflichtung eingefügt. Auf dieser Basis wurde Mitte 2022 der Evaluationsbericht des „Sachverständigenausschusses“ vorgelegt[11], der die Regelungen in den §§ 5, 5a, 20a, 20b, 28 bis 32, 36 und 56 „im Rahmen der Coronavirus-SARS-CoV-2-Pandemie und zu der Frage einer Reformbedürftigkeit“ untersuchen sollte. „Die Evaluation soll interdisziplinär erfolgen und insbesondere auf Basis epidemiologischer und medizinischer Erkenntnisse die Wirksamkeit der auf Grundlage der in Satz 1 genannten Vorschriften getroffenen Maßnahmen untersuchen.“ Das BMG sollte diese „externe Evaluation“ beauftragen; sie sollte durch „unabhängige Sachverständige erfolgen, die jeweils zur Hälfte von der Bundesregierung und vom Deutschen Bundestag benannt werden“ (Abs. 5).
Ob eine Enquête-Kommission, die vom Bundestag statt vom BMG eingesetzt würde, hier zu deutlich besseren Ergebnissen kommen würde, kann bezweifelt werden. Schon der Sachverständigenausschuss hat die mangelhafte Datenbasis für die von ihm verlangten Einschätzungen beklagt. Es gab eben (und das wäre eine Voraussetzung gewesen!) keine systematische Beobachtung der Wirkungen der Infektionsschutz-Maßnahmen und des Impfgeschehens etc.; das war in anderen Ländern besser. Der Blick in Deutschland war zu starr auf die bundesweiten Inzidenzwerte des Robert-Koch-Instituts und deren Angst-Potential gerichtet. Auch regionale Differenzierungen wurden zu wenig beachtet. Mögliche Lerneffekte wurden dadurch behindert. Immerhin wurde während der Pandemie im IfSG zumindest versucht, die Datenbasis zu verbessern, z.B. im Hinblick auf die Behandlungskapazitäten (Intensivmedizin und Krankenhaus). Hier könnte man – auch jenseits der Regelungen in diesem Gesetz – noch mehr machen. Das betrifft aber den Reformbedarf des deutschen Gesundheitswesens insgesamt, dessen Strukturen noch längst nicht evidenzbasiert sind.
Dass es angesichts der schlechten Datenlage mehr oder weniger zwangsläufig zu Über-, aber auch Unterreaktionen gekommen ist, kann daher nicht verwundern. Trotzdem besteht inzwischen weitgehend Konsens, wo die Exekutive über das Ziel hinausgeschossen ist: zum Beispiel bei den Kontaktbeschränkungen/der Isolation in Pflegeheimen und Krankenhäusern, bei den Schulschließungen, bei Breite und Dauer der restriktiven Maßnahmen im Einzelhandel. Auch die zum Teil hysterischen Desinfektionsanstrengungen waren fehlgeleitet, nachdem man seit April 2020 eigentlich wusste, dass die Ansteckung überwiegend durch Aerosole erfolgt.
Ein ganz anderes Feld ist: Welche Defizite unseres Gesundheitssystems (und anderer Bereiche der Gesellschaft) sich durch die Pandemie gezeigt haben. Ob hier die richtigen Konsequenzen gezogen werden, ist jedoch kein Thema des IfSG. Für das Gesundheitswesen jedenfalls hat der Sachverständigenrat Gesundheit in seinem Resilienz-Gutachten das Nötige gesagt.[12] Daraus lässt sich mühelos die Hausaufgabenliste für Parlament und Regierung zusammenstellen.
Fazit
Kurz gesagt: Wir wissen alles Nötige, um uns für die nächste Pandemie besser vorbereiten zu können. Vier Aufgaben zeichnen sich ab:
- Ein kritischer Durchgang durch das Infektionsschutzgesetz, der es (eher technisch) verschlankt und besser sortiert (wie oben beschrieben). Politisch relevant (bzw. potentiell kontrovers) dürfte dabei insbesondere die Zuordnung der Verantwortung zwischen Bundestag, Bundesregierung und Ländern sein (vor allem bei den Verordnungen).
- Entscheidend ist die Etablierung eines kontinuierlichen epidemiologischen Monitorings, das die Exekutive dabei orientieren kann, ihre Maßnahmenauswahl künftig angemessen(er) abzustimmen. Zwar haben wir viele Daten, aber nicht in der zielführenden Zusammenstellung und Kombination etc. Ein generelles Problem der holperigen Digitalisierung unseres Gesundheitswesens und des Mangels an relevanten Planungsdaten.
- Es gibt die ganze Bandbreite an politischen Einschätzungen und Bewertungen, sowohl der Gesetzgebung als auch des exekutiven Handelns während der Pandemie. Hier besteht kein Mangel. Eine Enquête-Kommission würde von den Fraktionen im Deutschen Bundestag und den von ihnen berufenen Sachverständigen besetzt. Sie würden wahrscheinlich das bereits bekannte Meinungsspektrum reproduzieren; neue wissenschaftliche Erkenntnisse wären kaum zu erwarten. Dass einer Enquête-Kommission oder auch einem „Bürgerrat“ eine konsensfähige und ausgewogene Bewertung, Sortierung und Priorisierung der verschiedenen Meinungen gelänge, wäre ein Wunder. Die politischen Akteure und Parteien müssen hier schon selbst für ihre kontroversen Positionen einstehen.
- Evident ist der Reformbedarf im Gesundheitswesen, an dem die Bundesregierung gerade arbeitet (und zu scheitern droht). Was die wichtigsten Baustellen sind, hat die Pandemie nur noch einmal nachdrücklich klargemacht.
Enquête-Kommissionen sind geeignet zur Aufbereitung komplexer und politisch relevanter Themen, zu denen sich die parteipolitischen Positionen noch nicht konturiert herausgebildet bzw. verfestigt haben. Die Abgeordneten setzen sich dabei mit dem Stand der Wissenschaft zum Thema auseinander und überprüfen den möglichen politischen Handlungsbedarf dazu. Das traf beim Bundestag z.B. für die Themenfelder Gentechnik und Demographie zu. Für die Pandemie-Erfahrung gilt jedoch genau das Gegenteil. Hier sind die Positionen der Parteien klar.
„Bürgerräte“ sind geeignet, Wahrnehmungen, Einschätzungen und Wünsche der Bevölkerung zu Themen zusammenzutragen, bei denen die staatlichen Instanzen und die Parteien dazu keine klaren Vorstellungen haben. Davon kann jedoch im Hinblick auf die Pandemie keine Rede sein. Es wäre daher besser, die begrenzten Energien und Ressourcen für die Abarbeitung der bereits bekannten und fachlich gut begründeten Vorschläge einzusetzen, statt mit neuen Gremien weitere Warteschleifen für Verbesserungen aufzubauen.
[1] In diesem Sinne z.B. auch die Präsidentin des Caritas-Verbandes, Eva Maria Welskop-Deffaa am 17.04.2024: „Ein öffentlicher Wettstreit, wer die meisten Fehler findet, hilft dabei nicht, noch viel weniger eine Kultur des An-den-Pranger-Stellens. Wir müssen Corona konstruktiv-kritisch aufarbeiten.“ https://www.caritas.de/presse/pressemeldungen-dcv/corona-aufarbeitung–caritas-zieht-bilanz-84380998-9d5c-4a78-9572-0ee735cb3756
[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/plus250859366/Corona-Lehren-Welche-Grundrechte-stehen-auf-dem-Spiel-Das-Ringen-um-das-neue-Pandemie-Gesetz-beginnt.html
[3] https://www.buzer.de/gesetz/2148/l.htm
[4] Das Middle East Respiratory Syndrome Coronavirus (MERS-CoV) wurde im April 2012 erstmals bei Patienten auf der arabischen Halbinsel nachgewiesen. 2015 kam es zu einem Ausbruch in Süd-Korea. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/M/MERS_Coronavirus/MERS-CoV.html
[5] „Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention“ vom 10. Februar 2020.
[6] Vgl. dazu Robert Paquet im Observer Gesundheit vom 19.10.2022: „Triage: Regulierungsspirale und unendlicher Progress“, https://observer-gesundheit.de/triage-regulierungsspirale-und-unendlicher-progress/
[7] Sachverständigenausschuss 2022: Bericht des Sachverständigenausschusses nach § 5 Abs. 9 des IfSG: „Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik“, Berlin, Juni 2022, herausgegeben vom BMG, Seite 109. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/s/sachverstaendigenausschuss-infektionsschutzgesetz.html [Zugriff: 26.03.2024].
[8] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/reden/lauterbach-der-einzige-zuverlaessige-weg-aus-der-pandemie-heraus-ist-die-allgemeine-impfpflicht
[9] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw14-de-impfpflicht-886566
[10] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/bvg22-042.html
[11] Sachverständigenausschuss 2022, siehe FN 7
[12] Sachverständigenrat Gesundheit & Pflege: „Resilienz im Gesundheitswesen. Wege zur Bewältigung künftiger Krisen“, Gutachten vorgelegt am 19. Januar 2023. https://www.svr-gesundheit.de/publikationen/gutachten-2023/ – siehe auch: Robert Paquet: „Was bleibt? – Das Gutachten des SVR „Resilienz im Gesundheitswesen““ in Observer Gesundheit am 01.03.2023. https://observer-gesundheit.de/was-bleibt/
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